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Wasserkräfte in Ostpreussen. Im Verein zur Beförderung des Gewerbfleisses fand am 8. Januar der in Nr. 3 kurz berührte Vortrag des Herrn Prof. Intze über die Nutzbarmachung der Wasserkräfte in Ostpreussen statt. Die Versammlung wurde wie gewöhnlich von dem Vor sitzenden, Staatsminister Dr. Delbrück Exc., geleitet, und unter den Zuhörern befand sich auch der Handelsminister von Berlepsch Exc. nebst einer Reihe von vortragenden Räthen usw. Dem nun gedruckt vorliegenden Verhandlungsbericht ent nehmen wir Folgendes: Dr. A. Frank theilt mit, dass er sich im Auftrag des K. Staatsministeriums im Oktober 1891 zur Untersuchung der örtlichen Verhältnisse nach Ostpreussen begeben habe. In den Regierungsbezirken Königsberg und Gumbinnen, mit einem Flächen raum von 631 Quadratmeilen und rund 1900000 Einwohnern, genügen die bisherigen Erwerbszweige der wachsenden Bevölkerung seit lange nicht mehr. Die Landwirthschaft leidet unter einem schroffen, ungünstigen Klima und durch die Bodenverhältnisse er schwerten Produktionsbedingungen, sodass eine intensive Kultur wie der Zuckerrübenbau kaum möglich ist. Auf den früher blühenden Handel drückt die zunehmende Abschliessung des russischen Hinterlandes, wodurch auch die Schifffahrt in Mitleidenschaft gezogen wird. Mineralschätze fehlen dem ostpreussischen Tieflande gänzlich. Diese Umstände verhindern die Ansammlung von Kapital und Entwicklung von Industrie. Auch steht der ost preussische Arbeiter namentlich in Bezug auf rasches Auffassungs- und Anpassungsvermögen noch weit hinter dem Industrie-Arbeiter andrer Theile Deutschlands zurück. Will man also für Ost preussen eine Industrie rasch entwickeln, so kann es nur durch die Benutzung des vorhandenen Reichthums an Wald und Wasser geschehen, zumal der dortige Arbeiter vollkommen vertraut mit der Benutzung dieser Naturgaben ist. Hierauf beruhen die vom Redner gemachten Vorschläge. Sowohl für die Fabrikation von Holzschliff als von Zellstoff', welche zur Zeit nach den Angaben von Carl Hofmann, der ersten Autorität in der Papierfabrikation, allein in Deutschland jährlich Halbprodukte im Werthe von rund 75 000 000 M. produziren und davon neben Versorgung der deutschen Papier-Erzeugung noch etwa für 25 000 000 M. nach allen Theilen der Welt ausführen, ist das Hauptmaterial unser heimisches Fichtenholz, und von diesem besitzt keine Provinz des preussischen Staats grössere Bestände als Ostpreussen, welches nach der Forststatistik 220 000 ha Fichtenwald hat. Wasserkräfte sind vollauf zu finden. Die Kraftleistung des Abflusses der masurischen Seeen z. B. beträgt nach Dr. Frank’s Berechnung 5000 Pferdestärken, während man an Ort und Stelle davon nichts wusste und zur Zeit nur etwa 250 Pferdestärken bei Angerburg erhalte. Dass auch die klimatischen und örtlichen Verhältnisse der vom Redner empfohlenen Einführung einerVeredlungs-Industrie der Forstprodukte kein Hinderniss bietet, zeigt der rasche Fortschritt, welchen dieselbe in andern nördlichen Ostseeländern gemacht hat. Schweden besitzt jetzt etwa 100 Holzschleifereien und 41 Cellulosefabriken, Norwegen 40 Holzschleifereien und 17 Cellu losefabriken, Finnland 19 Holzschleifereien und 8 Cellulosefabriken, die andern russischen Ostsee-Provinzen 20 Schleifereien und 5 Cellulosefabriken und diese sämmtlichen Anlagen basiren auf Ausnutzung der Waldbestände und der Wasserkräfte. Der grösste Theil der so in Finnland, Schweden und Norwegen vielfach unter Beihilfe von englischem Kapital erzeugten Produkte wird exportirt und nach der Handelsstatistik von Norwegen sind im Jahre 1891 allein rund 230 000 tons solcher Fabrikate im Werthe von mehr als 15 000 000 M. zur Ausfuhr gelangt, während Ostpreussen seine ebenso brauchbaren Fichtenhölzer für gleiche Verwendung im rohen Zustande, einerseits nach Frankreich, England und Belgien, dann aber auch über Holland rheinaufwärts ausführt, wobei die Kosten der Fracht etwa das Doppelte des Holzpreises loco Königs berg erreichen. Während sich so in Königsberg der Raummeter Fichtenholz nur mit etwa 4 M. 50 Pf. verwerthet, haben die daraus in minimo zu gewinnenden hundert Kilo Cellulose am Londoner Markt wie in Deutschland einen Verkaufswerth von 22— 23 M., also etwa denselben Preis wie hundert Kilo Rohzucker, und da die jährliche Holzproduktion pro Hektar Fichtenwald zweiter und dritter Klasse etwa 10 Raummeter beträgt, so repräsentirt dies aus Holzwerbung und Veredelung einen Brutto betrag von abzüglich der Ausfuhrfracht etwa 200 M. pro Hektar, von dem jetzt aber nur 45 M. für das Rohholz im Lande bleiben. Königsberg war früher ein Hauptstapelplatz des Lumpengeschäfts, welches aber durch die ausgedehnte Anwendung der Cellulose bei der Papierfabrikation sehr zurückgegangen ist. Durch Er richtung von Zellstoff-Fabriken in Ostpreussen würde Königsberg einen Export-Artikel von annähernd gleicher Bedeutung gewinnen können, wie ihn Danzig in den westpreussischen Zuckern er halten hat. Zum Schlüsse sagt der Vortragende: Ich kann es mir nicht versagen, den zwischen Ostpreussen und einem industriell hoch entwickelten Gebiete Deutschlands bestehenden Unterschied durch einige Zahlen zu demonstriren. Das Königreich Sachsen hat bei 14 993 qkm Flächen-Inhalt und 3 000 000 Einwohnern einen Wald bestand von 4200 qkm, wovon 2200 qkm Fichtenwald sind. Aus diesen Waldungen werden im Lande 8 Cellulosefabriken und 239 Holzschleifereien versorgt, welche mit 30 000 Pferdekraft (Wasser) 375 000 Festmeter inländisches Holz verarbeiten und der Forstverwaltung das Holz mit 10 M. per Festmeter, also 7 M. per Raummeter bezahlen. Sachsen ernährt dabei nahezu 200 Menschen per Quadratkilometer. Ostpreussen hat bei 36 976 qm Flächen-Inhalt und etwa 1 900 000 Einwohnern (also etwa 50 per Quadratkilometer) einen Waldbestand von 6800 qkm, von welchem, wie in Sachsen, 2204 Fichtenwald sind. Es hat ausserdem nach Professor Intze einige 40 000 Pferdekraft disponible Wasserkräfte, aber seine Fabrikation von veredeltem Holzstoff ist Null! Aus diesem Vergleich mit Sachsen, ja selbst mit Schweden, Norwegen und Finnland ersehen Sie, meine Herren, dass der wirthschaftliche Nothstand Ostpreussens nicht allein in der Ungunst der Natur- Verhältnisse seinen Grund hat; was dort vor allem mangelt, sind Unternehmungsgeist und Kapital. Prof. Intze, welcher den Haupt vortrag des Abends hält, hebt hervor, dass man bei Anlagen von Wehren die Fortschritte der Wasserbautechnik noch ungenügend benützt und häufig feste Wehre, die bei Hochwasser Schaden veranlassen, statt beweglicher Wehre anwendet. Der Vortragende führt das Modell eines Klapp wehrs nach Chanoine vor, die in Frankreich vielfach benutzt werden. Wenn der Wasserstand über eine bestimmte Höhe steigt, legen sich die Klappen selbstthätig um. Will man solche Anlagen, z. B. bei Eisgang, ganz beseitigen, so werden die Stützen der Klappenböcke durch eine Stange vom Ufer aus zur Seite ge schoben. Sie rutschen dann aus, und das Wasser mit Eis und allen treibenden Gegenständen kann ungehindert über die ganze Wehranlage fortgehen. Die Anlage kann in einfacher Weise wieder aufgerichtet und in die frühere Lage gebracht werden. In Ostpreussen schwanken die jährlichen Regenmengen im Mittel zwischen 600—700 mm Höhe, während in Rheinland und Westfalen, an der Wupper und im Lenne-Gebiet, 1000—1200 mm, in regenreichen Jahren stellenweise sogar 2500 mm Regenhöhe gefunden wurde. Die Niederschlagsgebiete, die hier in Frage kommen, haben folgende Grössen: 648 qkm das der oberländischen Seen, 430 qkm das der Alle-Seen, 3378 qkm das Gebiet der masurischen Seen, 5254 qkm das Gebiet der Alle und Guber, 570 qkm das Gebiet der obern Passarge und 79 600 qkm das Gebiet des Memelstroms, für die Gewinnung von Wasserkräften kommt jedoch nicht der ganze Niederschlag, sondern nur die nach Verdunstung und Verbrauch verbleibende Abflusshöhe in Betracht. Im Gebiete der ober ländischen Seen beträgt die mittlere jährliche Abflusshöhe 188 mm bei einer mittlern Regenhöhe von 673 mm oder 28 pCt.; das übrige verdunstet, wird durch die Vegetation verbraucht und geht sonst für die Messung verloren. Im Gebiete der oberen Alle be trägt die jährliche Abflusshöhe 275 mm bez. 221 mm, bei 646 mm mittlerer Regenhöhe; im Gebiete der masurischen Seen 185 mm Abflusshöhe bei 594 mm Regenhöhe, d. h. 31 pCt. des Niederschlags gelangt zum Abfluss. Im Gebiete der Alle und Guber bei Friedland 181 mm Abfluss, d. h. 32 pCt. des Nieder schlages. Man würde versucht sein zu glauben, dass man in einer Gegend mit so geringem Jahresabfluss wie in Ostpreussen grössere Wasserkräfte nicht finden könne; dies würde aber aus nachstehenden Gründen sehr verkehrt sein. Davon hängt die Ausnutzung des Wassers nicht ab, ob man im ganzen Jahre eine grosse Wassermenge hat, sondern in welcher Weise das Wasser abläuft, wie die Abflussmengen in den verschiedenen Monaten, Wochen und Tagen schwanken. Wenn die monatlichen Abfluss mengen sehr schwanken, so sind die Wasserverhältnisse für Wasserkraftanlagen ungünstig, und man muss Mittel anwenden, um sie günstiger zu gestalten. Die Vertheilung der Abfluss mengen auf Niedrig-, Mittel- und Hochwasser zeigt folgende Zahlen: In Ostpreussen an der oberen Passarge laufen bei mittlerm Niedrigwasser in der Sekunde auf jeden qkm 3,9 1 ab; das Mittel im Jahre beträgt 7,3 1 und das Hochwasser 37,2 1 per Sekunde und qkm. Bei der obern Alle finden wir bei mittlerm Niedrigwasser auf 1 qkm 3,71 in der Sekunde abfliessen, im Mittel des Jahres 8,81 und bei Hochwasser 37,01. An der