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No. 58. PAPIER-ZEITUNG. 1155 Kohle gemischt, direkt kalzinirt, in üblicher Weise mit Kalk kaustisch gemacht und zu neuen Kochungen verwendet. Wenn man die unter den Dampfkesseln verbrauchten Brennstoffe nicht der Wiedergewinnung zur Last schreibt, da sie in jedem Fall zur Dampferzeugung nöthig wären, so erfolgt hier die Wiedergewinnung von mehr als 80 pCt. des an gewandten Natrons ohne nennenswerthen Aufwand von Brennstoff. Der in den Dampferzeugern entwickelte Dampf geht in einen gemein samen Dampfsammler, worin sich auch etwaige mitgerissene Spuren von Lauge absetzen könnten, und wird von da überall hin entnommen, wo er gebraucht wird. Erfahrung und Versuche haben gezeigt, dass man die Dampferzeuger nicht zu sehr anstrengen darf, wenn man verhüten will, dass Wasser oder Lauge vom Dampf mitgerissen wird. Müssen die Kessel zu viel leisten, so lässt sich das Mitreissen von Flüssigkeit durch keinerlei eingeschaltete Wände oder andere Hilfsmittel ver hindern. Reichliche Heizfläche ist daher bei Dampferzeugung stets die Hauptsache. Durch Beobachtung dieser Lehre hat De Naeyer es dahin gebracht, dass die feinen Betriebsmaschinen mit Ventil- Steuerung anstandslos mit dem aus der Ablauge erzeugten Dampf gespeist werden können, und dass dieser Dampf niemals die geringste Färbung von mitgerissener Lauge zeigt. Die Hauptmenge des zum Bleichen erforderlichen Chlorkalks wird durch Entwicklung von Chlor aus Braunstein und Salzsäure und dessen Einleitung in Kalkmilch erzeugt. Der so dargestellte flüssige Chlorkalk wird in grosse in den Bleichholländer-Sälen stehende Behälter aus Eisenblech gepumpt, und sobald er darin seine festen Bestandtheile abgesetzt hat, nach Bedarf in einer Stärke von 8—10° B. verwendet. Alle Chlorkalk-Leitungen sind aus Eisen, theilsGuss- theils Schmiedeeisen. Sie gewähren volle Befriedigung und überziehen sich im Innern mit einer harten Kalkkruste, welche das Eisen gegen Angriffe des Chlors schützt. Die Verwendung von flüssigem Bleichkalk an Stelle des zu seiner Erzeugung entwickelten Chlorgases wird vorgezogen, weil er wirksamer und bequemer ist. Während sich bei der Trocknung des Chlorkalks in den Chlorkalkfabriken feste Verbindungen von Chlor mit Kalcium bilden, die einen Theil des angewandten Chlors in Verlust bringen, tritt ein solcher Verlust bei dem selbstbereiteten flüssigen Chlorkalk nicht ein, das ganze angewandte Chlor wird beim Bleichen nutzbar gemacht. In der Nähe der Chlorerzeuger steht ein grosser ofenartiger Bau, wo nach Solvay Versuche zur Erzeugung von Chlor direkt aus Chlor- kalcium angestellt werden. Solvay liefert das erzeugte Chlor an die De Naeyer’sche Fabrik zu einem sehr billigen Preis, wird aber ver- muthlich selbst grosse Opfer bringen, da die Fabrikation noch nicht regelmässig von statten geht. Die Zersetzung des Chlorkalciums erfolgt gegenwärtig durch atmosphärische Luft bei einer Temperatur von 1200°, und die Schwierigkeiten, welche diese hohe Temperatur durch Zerstörung der erforderlichen Einrichtungen hervorruft, sind noch nicht völlig überwunden. Falls es gelingt, aus dem bei der Fabrikation von Ammoniak-Soda entstehenden Chlorkalcium auf diesem oder anderm Wege Salzsäure zu gewinnen, d. h. Chlor frei zu machen, so bedeutet dies den Untergang aller nach dem Le Blanc’schen Ver fahren arbeitenden Sodafabriken, die jetzt nur noch durch die Er zeugung von Salzsäure und Chlorkalk lebensfähig sind. Der Gang durch die Fabriken führte uns auch in die grossartig angelegte Maschinenwerkstätte, wo die meisten Maschinen, besonders Papiermaschinen, für die eigenen und andere Anlagen gebaut werden. Die Kesselschmiede, in welcher die nicht explodirbaren Röhren-Kessel nach System De Naeyer angefertigt werden, bildet eine besondere gross artige Abtheilung. Zweiganlagen zum Bau solcher Kessel befinden sich auch in Russland und in Lille, Frankreich. In der De Naeyer’schen Papierfabrik werden zur Zeit täglich 15—20 000 kg Papier, meist bessere weisse Sorten, erzeugt und ausser dem noch etwa 10—15 000 kg Zellstoff verkauft. Die zahlreichen in dem Anwesen vorhandenen Dampfmaschinen liefern etwa 3000 Pferde stärken, und 1200 Arbeiter sind in den Fabriken thätig. Wir haben bei der bisherigen Beschreibung nur die technischen Einrichtungen erläutert, soweit man dieselben in der kurzen Zeit der Besichtigung erfassen konnte, kommen aber jetzt zu dem Theil, den wir mit Herrn De Naeyer als den wichtigsten betrachten, d. h. zu den Wohlfahrts-Einrichtungen. Bei dem Rundgang durch die Fabrik sahen wir eine sehr grosse Küche, wo die Arbeiter für den geringst möglichen Betrag nahrhafte Speisen erhalten können, und kamen zu verschiedenen Malen durch grosse helle Schulzimmer, deren Einrichtung jeder Gemeindeschule als Vorbild dienen könnte. In einem dieser Zimmer hielt gerade die Musik-Kapelle der Fabrik Probe ab. Wöchentlich zweimal kommt nämlich ein Kapellmeister aus Brüssel, der den etwa 60 jungen Leuten, aus denen die Kapelle besteht, Musikunterricht ertheilt und das Abend- Konzert leitet. Die Arbeiter erhalten ihren Lohn ohne Abzug sowohl während der Schulzeit, als während des Musik-Unterrichts; sie wäre 11 bei der Probe in ihren Arbeitsanzügen, zum Theil barfuss. Die Instrumente werden ihnen kostenfrei geliefert, obwohl die dafür von der Gesellschaft gezahlten Summen nicht unerheblich sind. Da aber dies alles noch nicht genügte, um die Arbeiter zur Theilnahme heran zuziehen, so werden die Strafgelder nebst 200 Fres, seitens der Ge sellschaft monatlich unter die Musiker vertheilt. Ausserdem macht die Kapelle zweimal jährlich, ebenfalls auf Kosten der Firma, Ausflüge nach grösseren Städten. Durch alle diese Aufmunterungen ist es dahin • gekommen, dass die Arbeiter sich mit Liebe der Musik widmen, und die Leistungen der Kapelle mehr als Anerkennung verdienen. Zu Ehren der Gäste spielte sie korrekt und feurig »die Wacht am Rhein«. Der Schulunterricht ist frei und bildet bis zum Alter von 14 Jahren die alleinige Beschäftigung. Von da ab, bis zum Alter von 18 Jahren, müssen die Schüler die Fortbildungs-Klassen besuchen. Niemand darf sich diesem Unterricht entziehen. Lebensmittel und Bedarfsgegenstände jeder Art werden im Grossen eingekauft und den Arbeitern gegen Baarzahlung zum Selbstkosten preis verabfolgt. Sobald die Arbeiter ihre Verhältnisse soweit ge ordnet haben, dass sie baar zahlen können, machen sie auch gern Gebrauch davon. In No. 44 vor. Jahrgs. haben wir die Wohnhäuser beschrieben, welche Herr De Naeyer für seine Arbeiter errichtet hat. Dieselben werden, wie wir damals mittheilten, den Arbeitern, welche sich durch Fleiss und Zuverlässigkeit auszeichnen, zur Verfügung gestellt. Sie zahlen dafür jährlich nur 3 pCt. Verzinsung des Kapitals und 4 pCt. Kaufgeld, so dass ein Wohnhaus mit Garten für 1600 Fres, bei einer Zahlung von 112 Fres, jährlich in 18 Jahren Eigenthum des Miethers wird. Ein Ausschuss der Arbeiter entscheidet darüber, wem ein Haus gegeben werden soll, da sich stets Liebhaber dazu finden, aber nur brave nüchterne Leute angenommen werden. Auf diese Weise ist bereits eine ganze Strasse im Innern und Aeussern sehr ansehnlicher und hübscher Häuser entstanden. Herr De Naeyer ist auch damit beschäftigt, eine Aktiengesellschaft mit 10 Millionen Fres. Kapital zu gründen, von denen 10 pCt. einzuzahlen sind, um überall, wo Bedarf vorliegt, solche Häuser zu errichten, und dadurch den berechtigten sozialistischen Be strebungen entgegen zu kommen. Er geht mit Recht von der Ansicht aus, dass der Arbeiter, wenn er zu sparen angefangen hat, ein nützlicheres Glied der Gesellschaft wird, und dass alle Bemühungen darauf ge richtet sein müssen, denselben zum Sparen zu veranlassen. Der leichte Erwerb eines De Naeyer’schen Hauses sichert dem Arbeiter, der dafür nichts mehr als die übliche Miethe zu zahlen hat, nicht nur ein angenehmes Heim, sondern auch ein kleines Kapital für seine Familie. Die Arbeiter-Häuser werden von den eigenen Handwerkern, wenn dieselben nicht anderweitig beschäftigt sind, überhaupt mit möglichst geringem Kostenaufwand erbaut und dann zu diesen Selbstkosten ab gegeben. In der Nähe der Arbeiterhäuser wird gegenwärtig ein grosser stattlicher Bau errichtet, in welchem arbeitsunfähige und kranke Arbeiter verpflegt werden sollen. Auch die Kinder der vom Haus ab wesenden Arbeiterinnen werden dort Wartung finden. Eine genügende Zahl von Bädern soll den Arbeitern nicht nur kostenfrei zur Ver fügung stehen, sondern Frau De Naeyer will für jedes genommene Bad noch eine Prämie von etwa 10 Gentimes bezahlen. Es liegt auch in den ferneren Plänen des Herrn De Naeyer, den Arbeitern direkt einen Theil des Gewinns der Fabriken, zunächst vielleicht 10 pCt., zufliessen zu lassen. Er ist überzeugt und weiss aus Erfahrung, dass jede Förderung des Wohles der Arbeiter gute Zinsen trägt, dass sie also auch geschäftlich richtig ist — ganz abgesehen von der dadurch erfüllten Menschenpflicht. Erfreuliche Erfahrungen dieser Art setzen allerdings einen Stamm verständiger, fleissiger und vor allem nüchterner Arbeiter voraus. Man war und ist daher in Willebroeck bemüht, die ungeeigneten Elemente durch strenge Beob achtung der vorgeschriebenen Fabrikordnung auszumerzen. Die Moral wird nach Möglichkeit aufrecht erhalten. Macht sich ein Fehltritt bemerklich, so wird den jungen Leuten der richtige Weg gezeigt, und es gelingt auch meistens durch finanzielle Beihilfe und sonstige Förderung, das Vergehen durch den Abschluss einer Ehe zu sühnen. Der schlimmste zu bekämpfende Feind ist der in der vlämischen Bevölkerung sehr verbreitete Branntweingenuss. Für den ersten Fall von Trunkenheit werden deshalb dem Arbeiter 5 Francs und 5 pCt. eines Monatslohnes abgezogen, die in die Arbeiterkasse fliessen. Für den zweiten Fall hat er 25 Fres, und mehr Prozente zu zahlen u. s. w. bis er weggeht. Durch solche Maassregeln ist es dahin gekommen, dass die ungeeigneten Elemente von selbst fortgehen, und die Fabrik leitung selten Jemanden zu entlassen hat. Herr und Frau De Naeyer, denen ihr einziges Kind gestorben ist, haben die Elternliebe auf ihre Arbeiter - Kolonie übertragen