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für Bürgertum, Beamte, Angestellte u. Arbeiter Wilsdruff-Dresden Nr. 294 — 83. ZtrhrMny Mittwoch 17 Dezember 1924 Postscheck: Dresden 2640 Nationale Tageszeitung für die Landwirtschaft, „Wilsdruffer Tageblatt- erscheint täglich nachm. 5 Uhr für den folgenden Tag. Bezugspreis: Bei Abholung in kn Geschäftsstelle und den Ausgabestellen 2 Mk. im Monat, bei Zustellung durch die Boten 2,30 Mk., bei Postbestellung '»U OAML Wochenblatt für Wilsdruff u. Umgegend «imLLLL Träger und Geschäftsstellen nehmen zu jeder Zeit Bc» ^Lunger'. entgege^ Im Falle höherer Gewalt, Krieg oder sonstiger Betriebsstörungen besteht kein Anspruch auf Lieferung ^er Zeitung oder Kürzung des Bezugspreises. — Rücksendung eingesandter Schriftstücke erfolgt nur. wenn Porto beiliegt. Telcqr.-Mr.: „Amtsblatt" ^!chri?den-ErWnu^ '^»ichcn Teile IM Doldpsennig. Nachweisungsgebühr M Moldpfennige. Voi- Fernsprecher: Amt Wilsdruff Nr. 6 duechAermus ubermM-ttenAnbigenSde^ wir keineGaran.ie. I-derRadattansprucherlischt Klage emgezc>gen werden mutz oderd-rAnsrraggeber in Konkurs g-räl. Anzeigen nekmen alle Vermittlungsstellen entgegen Das Wilsdruffer Tageblat! enthält die amtlichen Bekanntmachungen der Amtstzauptmannschast Meißen, des Amtsgerichts und Stadtrats zu Wilsdruff, Forstrentamts Tlmrandt, Finanzamts Noffea Schlammflut. Von besonderer Seite wird uns zu dem nun wochen lang andauernden Haarmann-Prozeß geschrieben: So übles wie das, was jetzt vor dem Gericht in Han nover auf die Bühne der Öffentlichkeit gezerrt wird, geschah wohl noch nie in Deutschland; ein solcher Massenmörder wieHaarmann stand noch nie vor deutschen Gerichten. Doch nicht nur die sadistische Mordsucht dieses Mannes ist das Entsetzliche, das jetzt, einer trüben Schlammwoge gleich, durch die Dämme bricht, sondern es ist auch der ganze Umkreis, die Mittäter, die neben dem Mörder auf der Anklagebank sitzen, die Hehler und solche, die nicht sehen wollten, was in Haarmanns Wohnung geschah, — es ist aber auch die Schar der Opfer, die nur allzu oft die bange Frage aufkommen läßt, was denn aus diesen Angehörigen modernster Jugend geworden wäre, wenn sie am Leben geblieben wären. Und die noch viel bangere Frage, ob nicht Tausende und aber Tausende ihrer Alters genossen genau so moralisch verkommen sind, wie ein Teil jener, die Haarmann in die Klauen gerieten. Ganz besonders aber muß man die eine Frage stellen: Ist es denn notwendig, daß das alles in breitem Strome sich in die Öffentlichkeit hinein ergießt? Die gräß lichen Einzelheiten, das gegenseitige schmutzige Beschuldi gen der Spießgesellen, die erschütternden Szenen, die sich im Gerichtssaal abspielen, wenn Väter oder Mütter der Opfer dem Mörder der Söhne gegenüberstehen. Allzu oft haben wir bei derartigen Sensationsprozessen den Kampf um die Karten im Zuhörerraum erlebt. Und was das schlimmste dabei ist: „Da werden W e i b e r zu Hyänen und treiben mit Entsetzen Scherz." Nur unwillig räumen sie den Saal, wenn bei allzu üblen Szenen das Gericht die Öffentlichkeit ausschließt. Diese Öffentlichkeit, die mit gierigen Augen das betrachtet, was vor den Schranken des Gerichts vor sich geht, die die Aufzählung all des Entsetz lichen als ein Schauspiel und sogar ein kostenloses ge nießt. Gottlob, daß die anständigen Zeitungen sich so weit wie möglich Beschränkung in der Berichterstattung über diesen Prozeß auserlegt haben. Aber schon der Ge danke, daß dort im Gerichtssaale auch Vertreter der aus ländischen Presse anwesend sind, die genaueste Einzelheiten aus den Verhandlungsergebnissen an ihre Blätter bringen — als Illustrationen für den sittlichen Tiefstand und die moralische Zerrüttung in Deutschland —, das alles muß doch die Frage als zwingend auftauchend bezeichnen: Soll nicht das Problem der Öffentlichkeit von Gerichtsver handlungen einer Nachprüfung unterzogen werden? Die Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen eine politische Forderung der französischen Revolution und dann des deut schen Liberalismus, ist ja programmatisch durchgeführt wor den, entspricht auch der ursprünglichen germanischen Prozeß form. Aber an Systemen darf man rütteln und muß man rütteln, wenn sie zu untragbaren Zuständen führen. Diese Öffentlichkeit ist ja in Wirklichkeit auch ein grober Unfug. Die Gerichtssäle werden bevölkert von Elementen, die zu vier Fünfteln aus Verbrechern bestehen oder solche werden wollen. Oder, wie bei solchen Sensations prozessen, aus Besuchern, die sich innerlich in keiner Weise von den Zuschauern unterscheiden, die im alten Nom den Gladiatorenkämpfen beiwohnten und in deren Augen der Blutrausch aufstieg, wenn dem Besiegten das Schwert durch die Gurgel gestoßen wurde. Das vorwiegend weid- liche Zuhörerpubliknm, das sich „Damen" titulieren läßt, ist vielleicht moralisch nicht um ein Haar besser, als die Verbrecher, die vorn auf der Anklagebank sitzen. Mag man in politischen, meinetwegen auch in Be- trngsprozesM oder sonstigen Verhandlungen wegen Eigentumsvergehen vollste Öffentlichkeit bei den Gerichts verhandlungen beibehalten, — eine Grenze findet diese Öffentlichkeit an den primitivsten moralischen Forde rungen, die der Staatsbürger an die Arbeit der staatlichen Organe stellen darf. Das Gericht darf nicht zum Theater Werden. Weit rücksichtsloser, als das bisher geschehen ist, muß in notwendigen Fällen die Öffentlichkeit ausgeschlos sen werden und es ist völlig unverständlich, daß dies dein, Haarmann-Prozeß nicht von vornherein geschehen ist. Oft genug hat man gerade bei politischen Prozessen aus Wahrung des Staatsinteresses heraus wegen rein politi scher Gesichtspunkte die Öffentlichkeit ausgeschlossen, wäh rend man anscheinend die Erhaltung der sittlichen Sauber keit für weniger wichtig zu erachten scheint. Die Erhaltung der moralischen Sauberkeit ist eine der wichtigsten Ausgaben des Staates, steht über allen Forderungen poli tischer oder sonst welcher Art. Ungeheuer hat uns im Ausland dieser Prozeß mit der viel zu weitgehenden Zulassung der Öffentlichkeit ge schadet. Und darum muh noch einmal gesagt werden, daß damit Schluß zu machen ist. Und wenn entsprechende ge setzliche Bestimmungen sehlen, dann müssen sie geschaffen werden. Man hat die Öffentlichkeit der Todesstrafe abge schafft: es ist allerhöchste Zeit, daß man auch die Öffentlich keit der Unsitilichkeit beseitigt. Spanische Verluste bei dem Rückzug in Marokko? -.5 Dezen,b„. Ter Madrider Berichterstatter des ^kNtt Pannen" gw, spanischen Verluste denn Rückzug in Marokko mit 20 Wo Toten und Verwundeten und 7V0V Ner- mitzien an. ! Nie Wem- Uli Gmilen die WWe Mer WM Wer das Seifer PniMI M die Saarfrage Furchtbare Familientragödie. Graz, 45. Dezember. In der letzten Nacht ereignete sich in der Ortschaft Retz bei Judcndors in der Nähe von Graz ein furchtbares Famiticndrama. Der Vitlcnbcsitzer Paul Danners erschoß seine Frau Mathilde, feinen Sohn Erich und seine Tochter Eva und vergiftete sich hierauf. Seinen zweijährigen Sohn ließ er am Leben Um die Tat ungehindert ausführcn zu können, hatte Tanners sein Dienstmädchen und die Dienerin nach Graz ins Theater geschickt. PilsudSki verzichtet auf den Armccoberbcfehk. Warschau, 15. Dezember. In einer Sitzung unter dem Vorsitz des Ministervräsidenten Grabski, an der u. a. Kriegs- Minister Sikorski, Minister Thugutt, der Seimpräsident Ramj teilnahmen, kritisierte Marschall.P'lsndski den Gesetzentwurf über die Organisation des Obersten Kommandos und erklärte, daß er den Posten eines Generals der Armee nicht annehmen werde, da dieser dem Kriegsminister unterstellt sei und außer dem vom Ehcs des Generalflabcs abhänae. Der offizielle Rücktritt. Berlin, 15. Dezember. Amluch wird mitgetM: Der NÄchskanzler Dr. Morr Werreichle heute nachmittag 4,3V Ahr Keine deutschen Sachverständigem am Quai d' Orsey Eigener Fernsprechdienst des „Wilsdruffer Tageblattes". Poris, 16. Dezembr. Die vsm „Temps" gebrachte Mel dung, wonoä deutsche Wirtschaftssachverständige gestern vormittag am Ouai d'Orsry an einer Beratung über die Frage der Auf hebung der zollfreien Ausfuhr von Elsaß,-Lothringen teilgrnvm- Men haben follen, wird von deutscher Seite dementiert. Es habe sich um sine Reihe interner Besprechungen französischer Sachver ständiger oehondelt. Ehamberleins Rede über internationale Politik. Eigener Fernsprechdienst des „Wilsdruffer Tageblattes". London, 16. Dezember. In seiner Rede im Unterhaus« über die internationale Politik unterstrich Chamberlain nochmals die Bedeutung der Tatsache, daß Großbritannien seinen Außen minister zur Tagung des VölLeMmdsrates gesandt habe. Er sei sehr befriedigt von feiner Reife zurückgekehrt. Bon seiner Unter redung mit dem französischen und dem italienischen Ministerpräsi denten sowie Führern verschiedener anderer Staaten sagte Cham berlain, daß er sie im Geists des Völkerbundes geführt Habs. Die Besprechungen sowohl in Paris wie in Rom haben dis Befesti gung der bestehenden Schwierigkeiten erzielt. Zum Genfer Pro tokoll meinte der englische Außenministrr, daß er darüber nicht nur die Ansicht Frankreichs und Italiens gehört habe, sondern auch dis verschiedener anderer Staaten. Er sei nicht in der Lage gewesen, irgendwelche Angaben über den englischen Standpunkt Nemü-Mg der KabmettsdemW« Berlin, 15. Dezember. Heute vormittag trat das Neichskabinett zu einer Sitzung zusammen. Auf der Tagesordnung standen zur Beratung: Laufende Angelegenheiten und Bericht über die politische Lage. Man war sich schon in der letzten Ka binettSsttzung dahin schlüssig geworden, den prinzipiell be schlossenen Rücktritt des Kabinetts heute zu vollziehen. In der Sitzung fehlten Reichsautzenminister Dr. Strese mann, der in einem Sanatorium weilt, und Reichs- finanzminister Dr. Luther, der noch nicht von seinem Urlaub in Berlin eingetroffen ist. Kurz nach Mittag schloß die Beratung. Ein erneuter formeller Rücktrrttsbrschiusi wurde heute nicht gefasst, da der Rücktritt der Regiermn- bereits in der vorigen Woche prinzipiell beschlossen worden war. Der Reichskanzler begab sich gegen Abend zum Reichspräsidenten, um diesem die Demission der Reichs regierung zu übergeben. Dienstag treten im Reichstag die Fraktionen der De mokraten und Deutschnationalen, am Mittwoch des Zen trums und der Deutschen Volkspartei zusammen, um sich über ihre Stellung zu den politischen Fragen klar zu werden. Nach diesen Fraktionsberatungen dürfte der Reichspräsident in direkte Verhandlungen mit den Irak tiousführern eintreten. Mit ziemlicher Sicherheit kann jetzt angenommen werden, daß der neue Reichstag am 5. Januar 1925 zu sammentritt. Die Berufung des deutschen Botschafters in Parts, von Hoesch, nach Berlin ist, wie von zuständiger Stelle mitgeteilt wird, nicht im Zusammenhang mit der Ka binettsbildung ersolgt. Herr von Hoesch kommt hierher, um über „laufende Angelegenheiten" Bericht zu erstatten Von mehreren Seiten war behauptet worden, Herr von Hoesch überbrächte Auslassungen der französischen Regie rung in bezug auf die Kabinettsbildung in Deutschland Keine KUckttittssWcbten Herriots. Eigener Fernsprcchdienst des „Wilsdruffer Tageblattes". Peris, 16. Dezember. Am Ouai H'Orsey wirb auf das BeMmmtbsK» versichert, Herriot Pewke gar n'cht daran, infolge seiner Erkrankung zurückzutreten. Sein Befinden sei nicht so ernst, als Haß er nickst vorübergehend von seinem Zimmer aus dis Reg'rnmgsgefchästs Frankreich« festen könne. Eigener Fernsprechdienst des „Wilsdruffer Tageblattes" Rom, 16. Dezember. Briand hat noch kurz vor seiner Wreiss der „Tribuns" ein Interview gewährt, m dem er die Notwendigkeit eines ZusammengeheNs von Frankreich, England und Italien betonte, nm sine baldige gemeinsaMS Konferenz zur Regelung der schwebenden afrikanischen Fragen cmkLnd'gLe. Aus die Frage, wie er über das Referat SÄandras zur Saars-Hui- srage denke, antwortete Briand, daß ihn das Referat sehr be friedigt Hobe. Salandra habe ganz richtig erkannt, daß, dis -sut- scheu Beschwerden ganz unbegründet seien. Zum Genfer Pro tokoll meinte Briand, d's Hauptsache sei, daß das Protokoll mit dem festen Willen angenommen werde, alle Konsequenzen daraus zu ziehen. Wenn dieser Wills fehle, sei rs bester, das Protokoll zu zerreißen. Noch kein Bericht der Kontrollkommission Eigener Fernsprechdienst des „Wilsdruffer Tageblattes". Paris, 16. Dezember. Der Bericht der Interalliierten KontroLkomMffsivn ist entgegen anderslautenden Meldungen ncch nicht vollständig abgefaßt. Tie Note ist daher weder in Pans noch in London übergeben worden. Weiter wftd erklärt, daß die Dvtfchasterkonfererz vorläufig von dem Bericht noch nicht das Geringste erfahren habe. zu machen, Ha dir britischen Minister erst am Tage seiner Ab reise zu ihrer ersten Beratung zusammengetreten waren. dem Reichspräsidenten die RüatMserklärung des Reichskabi netts. Der MichLpräsldeut mchm die Dsm'ffion entgegen, be- cuftraxte eher gleichzeitig den Reichskanzler Dr. Marx und die bisherigen Reichsregierungsmitglicder mit der einstweiligen Wei terführung dsr Geschäfte. Bis Stellung des Zentrums bei den Verhandlungen über die Regierungsbildung bildet zurzeit einen wesentlichen Bestandteil der Diskussionen über Vie Zusammensetzung der neuen Negierung. Neichs- lauzler M a r x hat einem Vertreter der Wiener „Neuen Freien Presse" Erklärungen abgegeben, in denen er auf die Abstimmung im Zentrum bei der vorletzten Kabinettskrise zurückkommt. Damals stimmten vom Zentrum nur 17 Mit glieder gegen den Eintritt der Deuts chnationa- len, 48 dasür. Marx sagte jetzt: „Ich habe damals mit der Minderheit gestimmt. Dieser Beschluß aber hat heute keine Gültigkeit mehr. Schon da mals haben mehrere Fraktionskollegen, die zur Mehrheit gehörten, erklärt, daß sie nur aus taktischen Gründen so stimmten, weil sie meinten, die Demokraten würden sich, wenn im Zentrum eine starke Mehrheit für die Koalition mit den Deutschnationalen sich zeigte, dadurch bestimmen lassen, an einer solchen Koalitionsregierung zugleich mit dem Zentrum sich zu beteiligen. — Jetzt nach den Wahlen lehnen die Demokraten jede Beteiligung an einer Koali tionsregierung mit Einschluß der Demschuationalen ab und man kann sich keinerlei Hosfnung mehr machen, daß sic eine vermittelnde Lösung akzeptieren würden. Das Zen trum wird also, wenn es am Mittwoch zusammentritt, mit dieser Ablehnung der Demokraten als mit einer vollendeten Tatsache zu rechnen baden. — Jedenfalls wird zuerst die Bildung einer Koalition der bürgerlichen Parteien ver sucht werden. Schlägt dieser Versuch sehl, so wäre dann die Große Koalition in Erwägung zu ziehen. Der Führer des Bayerischen Bauernd undes, Professor Fehr, hat, wie man erfährt, der Zentrumsfrak tion mitgeteilt, daß er eine Koalition der Mitte unter stützen würde. Die Haltung des anderen Führers der Wirt schaftspartei. des Professors Dr. Bredt, ist noch nicht klar.