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02-Abendausgabe Leipziger Tageblatt und Anzeiger : 04.02.1905
- Titel
- 02-Abendausgabe
- Erscheinungsdatum
- 1905-02-04
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- SLUB Dresden
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Public Domain Mark 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id453042023-19050204020
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id453042023-1905020402
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-453042023-1905020402
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Leipziger Tageblatt und Anzeiger
-
Jahr
1905
-
Monat
1905-02
- Tag 1905-02-04
-
Monat
1905-02
-
Jahr
1905
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Ab end-Ausgabe: vormittag- 10 Uhr. Morgen-Ausgabe: nachmittags 4 Uhr. Anzeigen sind stets an die Expedition zu richten. Extra-Beilagen (nur mit der Morgen- Ausgabe) nach besonderer Vereinbarung. Tie Expedition ist wochentags ununterbrochen geöffnet von früh 8 bis abends 7 Uhr. Druck und Verlag von E. Polz in Leipzig (Inh. Vr. V„ R. L W. Klinkhardt). Sonnabend den 4. Februar 1905. 99. Jahrgang. Var wichtige vom Lage. * Nach der letzten Meldung sind 40 000 Arbeiter von Sosnowice im Aus st and. (S. den Artikel.) " Nach einer Erkundigung, die die Petersburger Telegraphen.Agentur an zu st ändiger Stelle ein gezogen hat, ist die Nachricht vonderFreilassung Gorkis verfrüht. * Das serbische Kabinett Pasitsch demissio nierte: es ist anzunehmen, daß der König ein G e - schäftsministerium ernennt. * Ueber Paris wird gemeldet, Ktiropatkin sei erschöpft: als sein Nachfolger sei Linjewitsch zu be- trachten. (S. Russ.-jap. Krieg.) Lslttsi über Oie stritt;. —v. London, 3. Februar. AuS Lula erhält der „Standard" von seinem russischen Spezialkorrespondenten eine anderthalb Spal ten lange Depesche, die einen Besuch bei Tolstoi schildert, den ersten Besuch eines Interviewers, den der Graf seit Monaten empfangen hat. Der Bericht über die Unterredung ist sehr fesselnd: er enthält nichts durch- aus Nelres über die Weltanschauung des Informators, aber er zeigt authentisch, loie jener sich zu der gegenwärtigen Agitation seiner Landsleute verhält, und teilt die wesentlichsten Abschnitte aus einem Manifest mit, dos Tolstoi drucken lassen will. Durch die erwartete Schrift würden die politischen Broschüren des Grafen über die Arbeiterfrage und über den Krieg mit Japan fortgesetzt werden. Tie äußere Einkleidung des Interviews ist die ge wohnte. Der Korrespondent des „Standard" hat Tolstoi vor seinem Hause getroffen, als er sich auf der schnee- bedeckten Landstraße von Tula nach Iasnaja Poljana mit seinen Hunden erging und der scharfen Winterluft trotzte: später, im .Hause selbst, vollzog der, seinen Muschikrock tragende Gutsbesitzer den eigentlichen Empfang, nachdem er den fremden zuerst mit seiner Tochter, die seine Sekretärin ist, allein gelassen hatte. Der englische Journalist eröffnete seinem Wirte sofort, daß er sich über dessen Beurteilung des Petersburger Konfliktes und der unmittelbaren Zukunft unterrichten wolle. Tolstoi antwortete, daß er allerdings durch Briefe aus allen Ländern zu einem Gutachten aufgefordert worden sei, daß er aber die Form einer besonderen Ab handlung für die beste halte. Schon die Worte, mit denen er seinen positiven Bescheid einleitete, machen deutlich, daß der Graf den Anmarsch der fünfzehntausend Arbeiter mißbilligte: „Die Studenten wähnten, der Zar sollte sich an einen Zwischenfall aus dem ersten Stadium der französischen Revolution erinnern, als das, was als eine Anhäufung unbewaffneter Volksmassen be- gann, damit endete, daß die rote Mütze der Freiheit und Les Aufruhrs erhoben wurde." Dann fuhr Tolstoi fort: „Aber das rechtfertigte nicht, daß das Militär auf Männer, Frauen und Kinder feuerte. Die am Krieg mit Japan Schuldigen haben offenbar auch diese Untat ver- übt, beide Verbrechen entspringen dem Uebel einer Herr- schäft durch die Gewalt" Es versteht sich, daß Tolstoi seiner Philosophie wegen den Revolutionsbegriff tadelt, wie er auch energisch verneint, daß das russische Volk als Ganzes mit dem Gedanken einer politischen Revolte sym- xtthisiere: „Nur eine kleine Abteilung des Volkes geht damit um. Wollten sie zur Gewalt greifen, um ihre Krankheiten zu heilen, dann wären sie ebenso sehr im Unrecht, wie die Truppen des Kaisers. Keine große oder gute Reform kann Rußland auf diesem Wege kommen. England und Amerika beuten das Volk gerade so aus, wie es die herrschende Klasse in Rußland tut, aber ihre Weae sind verschieden. Was das russische Volk braucht, dessen bedürfen auch andere Länder, nämlich der Abschaffung aller Hemmungsgesetze, welche die Wenigen befähigen, die Vielen zu regieren, der Abschaffung deo Steuern, die das bezwecken, der Bezahlung von Soldaten und der privaten Aneignung und Ausnutzung des Bodens. Eine Umwälzung in Rußland naht, aber sie wird durch die Verbreitung geistiger und wirtschaftlicher Bildung kommen, und namentlich durch die Menschen, welche eine persönliche Umwälzung ihres eigenen Lebens bewirken und den wahren religiösen Geist sich erwerben. Indessen muß das Volk das Land haben." Man sieht, mit welcher Bestimmtheit Tolstoi seinen spiritualistischen Kollektivismus behauptet, ohne daß er jemals ein Pro- gramm der Verwirklichung überhaupt für nötig erachtet: mit den russischen „EmanzipationSparteien" hat er dem- nach kaum etwas zu schaffen. Dem Korrespondenten des „Standard" bat der Graf noch mitgeteilt, daß er den russischen Arbeitern vier Postulate vorrcchnen will. Erstens mahnt er sie, sich zum klaren Bewußtsein zu bringen, was ihnen not sei, und sich nicht dadurch zu verwirren, daß sie nach dem strebten, was sie gar nicht entbehrten. Zweitens rät er ihnen vom Aufruhr ab, „vor den: Gott uns bewahre", warnt sic vor Streiks und Demonstrationen, sagt ihnen, daß es ganz wertlos für sie sei, sozialistische Abgeordnete in ein Parlament zu schicken: aber sie sollen, darum bittet er sie, zum Uebel nicht helfen und looder Arbeiter noch Pächter der Bodenbesitzer sein. Drittens bekämpft er die Illusion, als ob die bisher Enteigneten am Boden einen privaten Anteil ihrerseits erlangen könnten. Viertens nennt er das einzige, das große Heilmittel, das „bessere Leben", das der Einzelne aus freiem Willen antritt: „Nichts ist für Menschen verderblicher als die Idee, daß die Ursachen ihres Elends nicht in ihnen selbst, sondern in äußeren Bedingungen sich befinden. Wenn sie ihre Aufmerksamkeit nur auf die Abänderung jener äußeren Bedingungen richten, dann wird das Uebel nur wachsen." Für diese Religion der Passivität hat Tolstoi, dessen biblisch einfache Sprache von ieher sich des Gleich- nisses mit so volkstümlicher Wirkung bedient, ein neues Gleichnis gesunden: „Es scheint natürlich und leicht, die Tür zu erbrechen, hinter der das liegt, was wir suchen: umso mehr, als hinter uns Menschenmassen stehen, die uns gegen die Tür hinschieben und hindrücken. Aber je eifriger wir darauf beharren, die Tür zu erbrechen, hinter der das liegt, was uns unsere Wohlfahrt dünkt, umso weniger Hoffnung ist, daß wir eindringen. Die Tür geht nur nach außen auf, weshalb sich ein Mann, der Wohlfahrt erreichen will, nicht mit der Umbildung der äußeren Verhältnisse befassen sollte, sondern mit der Umbildung ihrer selbst." Die Berichte der europäischen Presse aus Rußland erscheinen Tolstoi unwahr, über trieben, und lachend verabschiedete er den Korrespon denten des „Standard" mit den Worten: „Ich habe mit dem Lesen der Zeitungen längst aufgehört, so wie ich auch das Tabakrauchen eingestellt habe. Beides sind schlechte Gewohnheiten. Meine Tochter sagt mir alles, was sie aus den Zeitungen erfährt." In blendenden: Schneesturm fuhr der englische Journalist von Iasnaja Poljana ab. Vie stritt; in st«;;la«a. Die Situation in Petersburg. Eine amtliche Beschwichtigungsnote der Petersburger Telegraphenagentur will bestäligen, daß in ganz Rußland wieoer Ruhe eintrete: „Die Arbeiter nehmen die Arbeit wieder aus, Kundgebungen auf den Straßen haben aufgehört. Schwierig bleibt die Lage nur noch im Weichselgebiet, aber die kritische Zeit für Warschau ist vorüber, all- mählich geht auch hier alles wieder seinen gewohnten Gang." Nach einer Depesche der „Köln. Ztg." macht die Ernennung Buligins zum Minister des Innern viel von sich reden, schon weil er in gewisser Beziehung ein domo novus ist. Man sagt ibm Festigkeit und Selbstbewußt- sein nach, Eigenschaften,welcheFürst Swiatopolk-Mirski, wie auch die ibm sympathischen Artikel der Blätter hervor beben, fehlen. Ob der neue Minister staatsmännisch be fähigt ist, muß sich erst zeigen. Die Bewegung in den gebildeten Kreisen ist gegenwärtig nicht viel schwächer als unter den Arbeitern, zu deren Beruhigung die Regierung den Weg der Zugeständnisse betreten hat. Dem neuen Minister fällt nun die Aufgabe zu, Mittel und Wege zu finden, welche der Bewegung der gebildeten Klaffen die Schärfe nehmen und einen friedlichen Ausgang aus der vorläufig auswegslosen Lage schaffen. Wie Buligin, dem ein strengkonserva tiver Charakter zugeschrieben wird, den fortschrittlichen Bestrebungen der Gesellschaft Rechnung tragen wird, ist schwer vorauszusagen. — Der Berichterstatter der „Daily Mail" behauptet, der Arbeiterempfang beim Zaren habe für den Augenblick die Lage eher verschlim mert, weil unter den Arbeitern Unzufriedenheit, darüber herrsche, daß die beim Kaiser zugelaffenen Leute nicht von ihren Genossen gewählt, sondern willkür lich dazu bestimmt worden seien. Darauf sei denn in ver schiedenen Fabriken ein neuer Aus st and eingetreten, der jedoch wohl nicht von langer Dauer sein werde. Zunächst würden die Fabrikanten die Rechnung der Beschwichti gung zu zahlen haben, da die Regierung sie zur Herab setzung des Arbeitstages um eine Stunde und zu einer zehnprozentigen Lohnerhöhung veranlasse. Dagegcn hätten 1-- A-bei'^eber wegen der ihnen günst'.gen Zolltwranken wenig einzuwenden, wofern die Maßregel aus ganz Rußland ausgedehnt und nicht auf Petersburg, Moskau und einige weitere Industriestädte beschränkt blerbe. — Der phantasievolle Petersburger Korrespondent des „Daily Telegraph", Dillon, sendet Depeschen, wonach ein völliger Umschlag in der Haltung des Zaren eingetreten sei und er eine russische Magna Charta unterzeichnet habe und Rußland neben vielen anderen sogar eine Verfassung geben werde. Witte sei nun ganz obenan. Derselbe Bericht erstatter hat das folgende, für sich selbst redende Märchen ersonnen: Eine andere Szene ereignete sich in den kaiserlichen Gemächern des Winterpalais. Se. Majestät ging über den weichen Teppich auf und ab, als der Ackerbauminister Jermulow angezeigt wurde. Es war die Reihe an ihm, seinen periodischen Amtsbericht Sr. Majestät einzureichen, und er wurde in der üblichen reservierten Manier empfangen. Nach dem ersten Gruße und als der Kaiser den Bericht zu hören erwartete, scblug mit grellem Miß klang die Stimme des Ministers an sein Ohr „Sire! Ich bin durch meinen heiligen Eid gezwungen, ernsthaft zu Eurer Majestät zu sprechen und Worte zu äußern, die bei gewöhnlichen Gelegenheiten respekts widrig erscheinen möchten; aber es ist die Treue zu meinem kaiserlichen Herrn, welche mick ermutigt, Ihnen zu sagen, daß das gegenwärtige System der Negie rung siine Nützlichkeit überlebt hat. Ohne den Beistand des russischen Volkes ist eS fortab unmöglich, die Geschäfte deS Reiches sortzuführen. Truppen mögen mit Gewalt die Ruhe wahren, aber sie können nicht das Land regieren. Nach einer Petersburger Meldung des „Echo de Paris" stehen in der höheren russischen Beamtenschaft be ¬ deutende Verschiebungen bevor. General Sacharow werte aus dem Kabinett ausscheiden und zum Statthalter des Kaukasus ernannt werden; der UnterrichtSminister Glasow wird das Kriegsministerium erhalten und sein Ge- hülfe R6nard das Unterrichtsministerium. Auch Graf LamS - dorff wird in einigen Monaten seinen Posten verlassen und durch Murawlew ersetzt werden. Nach demselben Blatt sollen sämtliche Mitglieder des ProvinzialratS von Wologda verhaftet worden sein. Ministerielle». Der Präsident des Ministerkomitees, Witte, unterbreitete dem Kaiser ihm zugegangene Telegramme von fünf Gruppen Altgläubiger in Niibnijnowgorov und Charkow mit dem Ausdruck der Ergebenheit und des Dankes sür den Erlaß vom 25. Dezember 1904, welcher sür die Altgläubigen, wie es in einem Telegramm beißt, „die Morgenröte eines neuen Lebens" bedeute. Der Kaiser bemerkte, daß er die Berichte mit Vergnügen gelesen habe. — Der Gehülse deS Justiz ministers, Senator Manuchin, ist nicht, wie gemeldet wurde, zum Justizminister, sondern zum Verweser des Justizministeriums ernannt worden. Gorki. Der Petersburger Berichterstatter deS „Daily Expreß" behauptet, die angebliche Freilassung Gorki« sei einstweilen unbegründet. Er habe vorgestern deS Dichters Wohnung besuckt und einen seiner Freunde gesprochen, der diesen zuerst im Gefängnis habe besuchen dürfen. Dort sitze Gorki in Einzelhaft in einer kleinen, kalten, schlecht beleuchteten Zelle mit Steinboden und dürfe weder seine eigenen Kleider und Unterkleider tragen, noch erhalte er Feber oder Papier oder Bücher wissenschaftlicher oder unterhaltender Art. Er glaube, man wolle ibn auf unbestimmte Zeit festbalten, und verlange augenblicklich am dringendsten nach Filz pantoffeln. Sastsnowr Verter-ignngrre-e. Die Kampforganisation sBojewaja Organisatzia) der Partei der russischen Sozial-Revolutionäre veröffentlicht die Rede, welche Saffoncw, der Mörder Plehwes, vor seinen Richtern gehalten hat. In diesen Augenblicken, da sich die Kampf organisation zu neuen Taten rüstet, ist eS vielleicht nicht unerwünscht, auS der Rede Saffonows die Beweggründe kennen zu lernen, von denen diese Organisation bei ihrem Vergeben gegen hohe Staatsbeamte sich leiten läßt. Saffo- now sagte u. a.: In der Tat bat sich die Kampforganlsation unmittelbar kein so wciles Ziel gesetzt, Wieden gewaltsamen Umsturz der russischen autokratischen RegierungSsyslems. Die Kampforganhation ist keine besondere selbständige Organisation, sondern nach ihrer Lage und ihren Aufgaben ein untergeordneter Teil der großen Partei der Sozialreoolution. Deshalb kann ich nur von der Partei und ihren Aufgaben sprechen und dabei kann ich dann auch von der Kampforganisation reden. Die Aufgaben unserer Partei sind zu groß und zu zahlreich, als daß sie sich in die Formel der mir vor geworfenen Anklage zusammendrängen ließen. Eine dieser Auf gaben, die die Partei durch terroristische Akte ihrer Kampforgani- sation vollsührt, ist die Erteilung von gebührenden Antworten, d. h. von Antworten mit bewaffneter Hand dort, wo die Willkür der Regierungsbeamten so weit geht, daß sie weder das Leben, noch die Ehre der russischen Bürger und Revolutionäre schont. Weiter erzählt Saffonow, wie eS kam, daß er, obwohl aus einer reichen und frommen Familie stammend, Revo lutionär geworden ist und fährt dann fort: „Ja, die Regierung hat aus mir friedlichen Menschen einen Re volutionär gemacht. Eine ganze Reihe von Morden und anderen Verbrechen, die von den Ministern und ihren Agenten verübt werden, nötigte mich, die terroristischen Akte zuerst zu rechtfertigen, dann sie zu billigen und sie schließlich zum Programm zu erheben Als ich auS Sibirien floh, suhlte ich, daß hinter mir blutige Geipenster stehen, die mich weder am Tage, noch in der Nacht los ließen und die mir zufliisterten: „Du mußt zu Plehwe gehen!" Und da ich wußte, was von den Ministern in Rußland verübt wird, fühlte ich mich nicht berechtigt, mich dem Genüsse deS Wohl lebens und eines friedlichen Daseins hinzugeben. Wenn ich Plehwe tötete, erfüllte ich nur, was mein Gewissen von mir forderte. Es tut mir sehr leid, daß mit dem Minister auch sein Kutscher ums Leben kam und daß der Hauptmann Zwezinsky schwer verwundet wurde . . Feuilleton. Frauchen. Roman von Felix Freiherr von Stenglin. SiaLdruck verboten. HI. Am nächsten Morgen war Valeska wieder ganz frei von den Gespenstern, die sie in der Nacht heimgesucht hatten. Agnes befand sich in einer gewissen Verlegen- heil der Schwägerin gegenüber, weil sie sich so ins Innere hatte blicken lassen, und auch weil sic befürchtete, die Schwägerin werde Folgerungen aus diesem Ge ständnis ziehen und ganz unerhörte Anstrengungen und Entschlüsse von ihr fordern. Indessen, dieser Kleinmut tpich schon im Laufe deS Vormittags, besonders infolge des Besuches, den sic mit BalcSka im VorsammlungS- zimmer des Frauenvereins machte. Valeska wurde dort mit solcher Achtung empfangen, daß AgneS von Stolz erfüllt ward. Frau Reimer, die Präsidentin, eine noch jugendliche, elegant gekleidete Dame, sagte mit liebenswürdigstem Lächeln: „Wir haben noch keine einzige studierte Dame im Verein. Es wäre eine reizende Belebung unserer Geselligkeit. . . . Und es würde Aussehen erregen." Nachher kam auch Fräulein Holder, blond, untersetzt in mittleren Jahren. In dem Verein, der sich bisher hauptsächlich mit dem Abonnement von Familien- Journalen für seine Mitglieder und mit der Ab Haltung voir Kaffeegesellschaften befaßt hatte, vertrat Fräulein Holder das vorgeschrittene Prinzip, das heißt, sie war für möglichst freien Verkehr zwischen Mann und Weib, auf weitere Gebiete dehnten sich ihre Freiheit?- bestrebungen eigentlich nicht aus. Sie schien alsbald Valeska als wahlverwandt für sich in Anspruch nehmen zu wollen. „Ms Studentin denken Sie natürlich frei", sagte sie in ihrer derben Weise. „Genau wie ich. Alle Zimperlichen müßten ausge räuchert werden. Leben wollen wir, nicht wahr? Das Dasein in allen seinen Erscheinungen genießen. Oh, wir werden uns verstehen!" Erstaunt aber war Fräulein Holder, als Valeska die Zigarette, die sie ihr bot, nicht annahm, mit der Ent schuldigung, daß sie überhaupt nicht rauche. Fräulein Holder hatte bisher immer daS Rauchen als besonderen Ausdruck des weiblichen SälbstbewußtscinS angesehen. Frauchen kam sich ordentlich wichtig vor als diejenige, die dem Verein ein so geachtetes, willkommenes Mitglied zuführen sollte, — denn Valeska hatte auf Frau Roimers dringende Aufforderung erklärt, daß sie beitreten und schon in der nächsten Sitzung ersännen werde. Es wollte Agnes scheinen, als ob ihr Leben bereits einen Inhalt bekäme. Als sie um 12 Uhr mit Valeska hsimkehrte, fiel ihr ein, daß dies die mit Grubweiler verabredete Stunde sei. Kaum ein flüchtiges Bedauern, daß sie ihn im Stich gelassen habe, überkam sic. Es hatte sein müssen, grüßens Dinge wurden von ihr verlangt. — Anton Grubweiler schlenderte eine ganze Weile ge duldig unter den großen Linden des Parks einher. Er malte sich aus, was er alles Agnes sagen würde. Viel leicht kam es zu ernsten Auseinandersetzungen, zu gründ- faßlichen Erörterungen . . . Als aber um 1 Uhr die Erwartete noch nicht erschienen war, begab Anton Grub- Weiler sich in schrecklicher Stimmung nach Hanse. Seine gute Mutter, die auf den gelehrten Sohn so stolz war, fragte besorgt nach der Ursache feiner Niedergeschlagen- heit. Da zog ein bitteres Lächeln über seine Lippen, und er erwiderte bedeutungsvoll: „Jede Stufe zur Erkenntnis ist mit Heilands schmerzen verbunden." „Ja, jo, mein armer Junge", sagte sie mitleidig, seinen kurz geschorenen Kopf streichelnd, „du mußt viel durchmachen." — Am Nachmittage probierte Agnes bei ihrer Schnei derin das graue Kleid an. „Ich will mir einen einfachen grauen Filzhut dazu kaufen", sagte sie, während sie sich noch in dem hohen Stehfptegel musterte. Als die Schneiderin äußerte, ein solcher Hut würde „eminent" zu dem Kleide passen und auch ganz modern sein (sie fand, daß alles, lvas ihren Damen gefiel, eminent passe und ganz modern sei), da erwiderte Agnes mit etwas Ueberlegenheit im Ton: „Oh, nickt weil eS modern ist!" Es tot ihr fast leid, daß es modern war. AIS sie dann in ihrem hübschen neuen Kleid und dem passend ausgewählten einfachen, grauen Filzhirt durch die Straßen ging, begegnete sie der alten Frau von Nönnies, der Witwe des Landrots. Von dieser wurde sie sehr lebhaft begrüßt. „Ach, kleine Frau! Wie reizeird, daß ich Sie sehe! Süß siehr sie wieder aus! Und so blühend! Werden Sie morgen bei Werlihens sein? Ich hörte, daß sic diesmal zwei immense Baifertorten bestellt Hot. Da wird das Vögelchen einmal wieder tüchtig schnabulieren, rvas?" Agnes schwankte in ihrer Antwort zwischen höflicher Freundlichkeit und ernster Frauenwürde hin und ber. „Ich weiß noch nicht, ob ich La sein werde. Meine Schwägerin Valeska ist gekommen, die Studentin." Frau von Rönnies legte ihr die Hand auf den Arm und zwinkerte mit den Augen. „Ich weiß! Nehmen Sie mir's nicht übel — mein Gott, ist cs möglich? Nichtig Studentin? So wie m Zürich? Tas sollen ja meistens Nihilisten sein. Sie studiert dock; nickt etwa Medizin? Nein? Gott sei Dank! Sonst würden sich Schwierigkeiten ergeben im Verkehr — mit den jungen Mädchen, Sic verstehen — Jura? Mein Gott, Jura studiert sie! Ja, ja, eine sonderbare Weit' Adieu, süße Frau! Wissen Sie schon, daß Alma in Bückeburg mit dem Prinzen August den Ball eröffnet hat? Eine große Auszeichnung! Leben Sie Wohl, kleine Frau! Nein, die Studentin! Bleibt sie lange? Großer Gott, eine so achtbare Familie .. „Wir sind auch sehr stolz darauf", sagte AgneS, dies mal mit deutlich hervorgekehrter Würde."
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