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Beilage zu Ar. 74 des „Wochenblattes für Wilsdruff". Gin Traum. Nachdruck verboten. Es war tief in der Nacht. Eben hatte es 12 Uhr geschlagen. In seinem Bettchen schlief ein kleines hübsches Mädchen. Plötzlich sah sie, wie ihre Zähne lebendig wurden, aus ihren gewöhltchen Stellungen heraustraten und anfingen, auf der Zunge stehend, sich zu unterhalten Alle hatten weiße, largwaüende Mäntelchen an, die bis zu den Füßen reichten und hell glänzten wie Seide. Die Backenzähne, dicke bequeme Herren, trugen auf dem Kopfe ein kronenähnliches Mützchen; die Augenzähne waren schlanke Jünglinge mit spitzen, schiefsitzenden Hüt chen, sehr unternehmungslustig wie es schien. Die Scheide zähne, Männer in den besten Jahren, von energischem Aussehen, kräftig, schneidig, schickten den ersten Redner vor. „Nun, wie ist's euch heute ergangen?" „Wie immer, übel!" sagte ein Dicker. „Na, man sieht dir wenigstens keine Not an," lachte ein zweiter Schneidiger. Die übrigen schmunzelten, wurden aber schnell wieder ernst. „Ja, ihr da vorn, ihr habt nicht so viel auszu- stehen. Aber wir hinten, ach Gott! Kaum haben wir unsere Arbeit beim Essen redlich getan und denken nun zu ruhen und uns auch etwas zu gute zu tun, da fährt unsere Herrin schon mit irgend einem spitzen, harten Ge genstand auf uns los, mit Nähnadel, Stecknadel, be sonders gern auch mit der Gabel oder einer Stricknadel. S' ist haarsträubend!" „Gut, daß du keine Haare hast!" witzelte der Spötter wieder. „Ach, laß doch deine dummen Späße!" sagte gallig der Kläger. „Hab' ich nicht recht?" wandte er sich dann an die übrigen. „Leider", seufzten die. „Hier seht nur die Löchelchen in meinem Mantel", rief ein anderer Dicker. „Und meine!" „Und hier!" Alle wiesen Schäden auf, klein zwar, aber wie leicht konnten die in Kürze größer weiden! „Mir tut jetzt noch die Seite weh von einem Stiche am Abend", sagte ein besonders Starker. „Hab' mich aber eben gerächt", triumphierte er, „die Kleine wirb's schon gespürt haben, wie ich ihren Nerv gezwickt habe". „Was nützt das uns?" dämpfte ihn ein anderer. „Wenn das so weiter geht, sind wir bald alle krank, und dann kommt der Barbar wieder, der vor kurzem da war und unsern Bruder mit der fürchterlichen Zarge so rupstig-rapstig raus holte. Mir zittert jetzt schon daS Herz, wenn ich mir's vergegen wärtige, daß mich das Schicksal treffen sollte!" „Ja, soweit darf's nicht kommen!" darin waren alle einig, selbst der Spötter war ernst geworden. Die Jünglinge begannen sich untereinander feurig zu besprechen und heftig zu gestikulierend Pläne zu schmieden. „Zwar hab' ich's gern, wenn ich jeden Tag ordenlicy abgerumpelt, gebürstet und gewaschen werde, aber so nein! das halte ich nicht lange mehr auS", rief der erste Dicke. Was tun? Lange war alles still unter den Männern. Die Jünglinge tuschelten unter sich, endlich waren sie einig. „Wißt ihr was?" unterbrach der kühnste von ihnen das trübe Schweigen der älteren, „wir wandern aus!" Be denklich guckten sich diese auf den Vorschlag hin an. „Wohin? Werden wir denn einen Platz finden, wo wir auch so aut wie hier genährt werden, aber ohne die schlechte Nebenbehandlung?" „Wir gehen zu dem Barbaren selbst; der kennt alle Stellen und wird uns, weil wir doch noch leidlich gesund sind, schon eine versorgen!" „Was, zu dem Henker? nein!" „Na, da laßt euch nur langsam morden! Geht ihr andern mit?" wandte er sich an seine drei andern Altersgenossen. „Warum nicht? Schlechter kann's uns nicht gehen und sterben müssen wir doch mal. Kann uns auch wo anders besser gehen." Sie spazierten nach der Zungenspitze, hüpften nacheinander auf die Lippe, rutschten an der Wange her- unter aufs Bett und trippelten und krochen und rutschten weiter. Mit Mut und List würden sie schon hiukommen zum Zahnarzt. Auf die Männer wirkte der Jugendeifer und der Unternehmungsgeist und der Gedanke an ihr Schicksal hier doch auch so stark ein, daß sie bald folgten. Die zögernden Alten wollten nicht allein bleiben und zogen mühsam und ungelenkig endlich hinterdrein. Bald war auch von ihrem leisen Pusten und Krächzen und Schimpfen nichts mehr zu hören, es war ganz leer und ganz still in der Mundhöhle. Da schlug es 1! Das Mädchen hatte alles gehört und gesehen, und als alle fort waren, erschrak sie fürchterlich, da sie au ihren zahnlosen Mund dachte und wie sie von den Kameradinnen gehänselt werden würde und — wachte auf. Leise klang das Nach summen vom Uhrschlag an ihr Ohr. Sie empfand den zwickenden Schmerz im Zahn, war aber noch nicht sicher, griff und fühlte die Zähne, biß sich auf den Finger, schlüvfte aus dem Bett, machte Licht und besah sich im Spiegel. Gott lob! noch waren die Zähne da bis auf einen, ganz hinten. „Aber ich will mir's eine War nung sein lassen und der Mutter folgen, die mich schon immer getadelt hat." Mit diesem Vorsatze schlüpfte sie ins Bett zurück. Rich. Welde. Aurze Ghronik. Eine fchlagfertt-e Frau hat nach einer Gerichts verhandlung in Speyer großes Aufsehen erregt. Sie war wegen übler Nachrede gegen einen Gendarm zu 30 Mark Geldstrafe und wegen Beleidigung eines Steuerboten und Widerstandes gegen die von ihm repräsentierte Staats gewalt zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt worden. Darüber geriet die Dame in Helle Wut. Sie griff vor der Tür des Sitzungssaales den Steuerboten an und be arbeitete ihn mit ihrem Regenschirme, daß die Fetzen flogen. Der Gendarm, der den Steuermann schützen wollte, wurde gleichfalls übel zugerichtet von dem rasen dem Weibe, das ein herbeigeeilter zweiter Gendarm nur kurze Zeit festhalten konnte. Sie rieß sich los und folgte dem davoneilenden Steuerboten wie eine Furie, zu» nicht geringen Gaudium des sehr verehrlichen Publikum». Ei« Ingenieur vom elektrische« Strome getötet. Der Ingenieur Baresch von den Siemens- Schuckert-Werken in Berlin wurde in Elberfeld bei der Montagearbeit in der Fabrik von Schlieder L Baum durch den elektrischen Strom getötet. Steige« des Tote« Meeres. Seit einer Reihe von Jahren ist der Wasserspiegel des tote« Meeres im Steigen. Eine am Nordende früher vorhandene Insel ist vollständig verschwunden. Auch am Südende haben sich verschiedene Acnderuagen im Terrain zugetragen. Die Ursache ist noch unbekannt. Der Gattin freiwillig in den Tod gefolgt. Mannheim, 24. Juni. Das am Kanzerplatz gelegene Spital für Lungenkranke wurde heute früh der Schauplatz eines erschütternden Dramas. Der Eisengießer Stolzen- thaler war gekommen, um seine in der vergangenen Nacht nach langem Krankenlager verstobeue Frau noch einmal zu sehen. Nachdem er vonffeiner in der Leichenhalle auf- gebarten Gattin Abschied genommen, gab er beim Per- lassen der Halle einen Schuß auf sich ab. Tödlich verletzt mußte er in das Krankenhaus gebracht werden. Eine schwere Luftballontatastrophe ereignete sich auf dem Herrschaftsgute des Großgrundbesitzers Fekete nächst Budapest. Innerhalb des Häuserkomplexes versuchte nachts ein großer Luftballon zu landen, wobei dessen In sassen, zwei französische Offiziere und ein Ingenieur, tödlich verunglückten. Knechte und Bauern, sowie der GutSbefitzer selbst eilten auf das Geräusch mit Laternen herbei, durch deren offenes Licht das den geöffneten Ventilen entströmende Gas zur Explosion kam und den Maierhof in Brand setzte. Das Gut samt Nebengebäuden brannte »oll- ständig nieder. Der Gutsbesitzer und mehrere seiner Leute erlitten schwere Brandwunden. In dem brennenden Korb des Ballons will man Schriften bemerkt haben. Zur Aufklärung des Falles leitete die Behörde eine Unter suchung ein. Touriste«unglück am wilde« Kaiser. Am Totenkirchl ist am Sonntag ein Mitglied der SMion Bayerland des deutsch-österreichischen AlpenvereinS, nnmenS Raßmann, nach einem mit einem Begleiter und einer Be gleiterin im Schneesturm verbrachten Biwak unterhalb des Führerkamins in den Armen der zu seiner Rettung vom Stripfec Joch herbeigeetlten Bergführer Tavernar» und Gschwendtner an Erschöpfung gestorben. Das Letter war beim Aufstieg gut, auf dem Gipfel angelangt, »urde die Partie der drei Alpinisten vom Regen heim gesucht, der bald in Schneesturm überging. Einer der Touristen — 132 — saufen, zum Verknöcheln mit den liederlichen Holzknechten; aber das Stück mit dem Kahn, das leid' i net, so wahr —" Er kam nicht weiter. Mit einem rohen Auflachen schob der Bursche ihn beiseite und ergriff Marcel, der ungeduldig ein paar Schritte dem Ufer getan hatte, beim Arm. „Eifert euch nicht, Wirt, 's bleibt wie's ist, und ihr, Herr, kommt mit mir, ich weis' euch den Nachen, und wenn ihr gut rudern könnt, will ich nicht der Marti heißen, wenn ihr nicht noch heil 'nüber kommt, ehe der See losgeht." Der Wirt wollte nacheilen, wollte warnen, zurückhalten; aber ängstliche Stimmen und Rufe aus dem Inneren seines Hauses wurden laut; er hörte das jämmerliche Aufweinen eines seiner Kinder, und in der Befürchtung, es sei ein Unglück geschehen, wandte er dem See den Rücken und lief spornstreichs ins Haus zurück. Indessen hatte der junge Marti den Kahn losgekettet — einen sehr kleinen, flachgebauten Nachen mit erhöhter Sitzbank für den Rudernden. Der Wirt hatte recht, viel besser als eine Nußschale war dies Fahrzeug nicht, und wäre sein Besitzer nicht, wie leider fast immer, stark angetrunken und Marcel von der furchtbaren Ueber- anstrengung und der wühlenden inneren Aufregung halb von Sinnen gewesen, sie wären wohl beide von ihrem Vorhaben zurückgekommen. Mit einer trotzigen Gebärde strich der Bürsche das empfangene Geld in der flachen Hand zusammen und ließ es klingend in seine Tasche gleiten; der Helle Ton entlockte ihm ein wohlgefälliges Lächeln. Während er die Ruder herbeischleppte und einlegte, bestieg Marcel die Sitzbank und griff nun mit hastigen Händen zu. In unheim lichem Feuer glommen seine Augen seine Brust wogte stürmisch in stoßweisen Atemzügen. Martl hatte immer noch die Hand in der Tasche und klimperte mit dem Gelde; halb umgewandt, gab er dem Kahn einen kräftigen Stoß mit der Fußspitze, daß er ein tüchtiges Stück in den See hineinschwankte, dann drückte er sich herausfordernd den Spitzhut fester auf den Kopf, nickte triumphierend nach dem Wirtshaus hinüber und ging mit unsicheren Schritten, laut pfeifend, nach der entgegengesetzten Richtung. Durch die Lust kam es wie ein dumpfes Rollen; die Berge ringsum nahmen den Ton auf und jagten ihn einer dem anderen zu, daß er, sich fortpflanzend, von Kuppe zu Kuppe ging, wie ein Losungswort, das im Kreise herumgegeben wird. Unruhiger schon hob und senkte sich der düstere See; das Raubtier fühlt sich seiner Fesseln ledig, es kauert nieder und setzt an zum Sprung. Gerade über Marcels Haupt stand die drohende Wetterwand; es war ihm, als müßte er geborgen sein, sobald er aus ihrem un mittelbaren Bereich entflohen sei, und er ruderte aus allen Kräften, um dies zu erreichen. — 129 — für ihn beginnen, er wollte einen Strich unter seine Vergangenheit machen, streben und arbeiten wollte er für sein Glück, unermüdlich — hatte er sie nur an an seiner Seite, die ihn zu einem anderen, einem besseren Menschen machte, die alles in ihm weckte, was gut und edel war. Mit tiefer Beschämung sah er auf sein bisheriger Leben zurück, nichts als eine Kette leichtsinnigen Genusses, lockeren Vergnügens — was hatte er getan bisher, um das Herz zu ver dienen, das sich warm und vertrauensvoll, in kindlicher Reinheit und Unschuld ihm und nur ihm zu eigen gegeben hatte? Aber war er schwach und energielos gewesen ohne sie — mit ihr, das wußte, das fühlte er, würde er siegreich den Kampf des Lebens wagen — war es doch nur die Trennung, die verzehrende Sehnsucht gewesen, die ihn ermatten ließ und ihn immer tiefer in jenen Strudel gezogen hatte, in welchem er Vergessen und Betäubung fand. „Steuermann, gibt's heute Regen?" fragte eine Stimme hinter ihm. „Zwar ist kein Wölkchen zu sehen; aber die Luft ist so eigentümlich still und drückend." „Müssen's abwarten," lautete die Antwort. „Wenn der See die Färb' hat und 's Gebirg' drüben so dunkelblau steht, daß man meint, man greift's mit der Hand, da gibt's allemal 'was. Ob just hier, ist freilich nicht zu sagen — mag leicht sein am Ende weiter drunten; aber kommen tut's schon." „Findet ihr nicht, daß der trockene Wind auf ein Gewitter deutet?" „Das schon. Das muß man so nehmen, wie's der Herr gott schickt." Gegen diesen philosophischen Satz ließ sich nichts einwenden; die Stimmen entfernten ffch. Marcel sah, sich auf seinem Sitz um wendend, neben der gedrungenen Gestalt des Steuermanns einen herkulisch gewachsenen Mann gehen mit starkem ergrauten Haar und regelmäßigen, edlen Zügen; er konnte das Gesicht gerade scharf im Profil sehen und sein Künstlerauge musterte wohlgefällig dieses Bild reifer, herbstlicher Manneskraft. Schon wollte er sich erheben, um die anziehende Erscheinung schärfer ins Auge zu fassen; allein seine Gedanken arbeiteten zu mächtig in ihm; mit einer nachlässigen Kopfbewegung ließ er sich wieder auf seinen Sitz zurücksinken. Näher und näher rückten die dunkelvioletten Gebirgshäupter; scharf umrissen in der blendend Hellen Beleuchtung hoben sie sich plastisch gegen den bläulich-weißen Himmel ab; es sah aus, als schwimme das Gebirge dem Schiffe langsam entgegen. Manch neugieriger, wohlgefälliger Blick fiel aus Mädchenaugen auf den regnungslosen Fahrgast mit dem nachdenklichen Gesicht unter der breiten Krempe des Hutes; es war doch verwunderlich, daß ein so schöner junger Mann wie eine Bildsäule auf feinem Feldstuhl verharrte und keinen Blick für seine Umgebung hatte.