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Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt, - Nr. 131 - Donnerstag, 7. Juni 1928 Sei Oeiner Heimat treu. Heilig sei dir stets Hein Heimatland! Sei dir stets der Boden deines Väter, Den sie erkämpft mit Schweiß und Blut Und hartem Angesicht — Sv ward er Eigentum, So hast du ihn ererbt! Geh' nicht in fremdes Land Zu fremden Menschen, Wo du, vom Sturm umtobt Den sichern Port nicht findest. Doch wenn du gehst, Wirft nach der Heimat schmerzlich du dich sehnen. Hellmuth Gründer-Dresden. Die Besetzung Pekings. Tschangtsolin lebt noch. Wie aus Tientsin gemeldet wird, hat die Kavallerie des Generals Nen das Chinesenviertel Pekings be setzt. General Nen selber soll in allerkürzester Zeit in Peking einziehen. Der Vertreter desGcneralsFeng hat der japanischen Gesandtschaft die Besetzung der Stadt schriftlich mitgeteilt. Die Japaner setzten dem Einmarsch der Südtruppen keinen Widerstand entgegen. General Nen erklärte der Presse, daß in Peking ledig lich Schutztruppen verbleiben würden, die den Garnison dienst versehen sollen. Aus seinen Verhandlungen mit dem französischen und dem englischen Gesandten habe er die Überzeugung gewonnen, daß diese Mächte seinen Truppen keine Schwierigkeiten bereiten würden. Alle Be amten Tschangtsolins, die den Grundsätzen Sunjatsens folgen und einen Eid darauf leisten wollen, sollen in ihren Stellungen bleiben. Angeblich soll die chinesischen Generäle die Absicht haben, China in sechs Regionen Mit der Zentrale Nanking einzuteilen. Hauptstädte dieser sechs Regionen sollen außer Nanking Kanton, Hankau, Kaifeng, Peking und Mulden werden. Was Tschangtsolin betrifft, so scheinen sich neueren Mel dungen zufolge die Berichte, die seinen Tod melden, nicht zu bestätigen. Von japanischer Seite wird versichert, daß ernochamLeben sei, daß sein Befinden aber als ernst bezeichnet werden müsse. Kritik unserer Lebensführung. Tie Gefährdung der Volksgesundheit. Die Arbeitsgemeinschaft für Volksge sundung, Berlin, hielt ihre Mitgliederversammlung und eine Tagung über das Problem der gesunden Lebensführung ab. Die Arbeitstagung beschäftigte sich mit dem Wesen und der Bedeutung der Körperkultur und ihrer Auswüchse. Dr. Plachte-Kiel ging in seinem Vortrag von dem Ruf „Zurück zur Natur" aus, welcher für krisenhafte kulturelle Geisteslagen kenn zeichnend ist. Im Anschluß an eine Führung durch die Ausstellung „Die Ernährung" durch den Leiter der Aus stellung sprach Dr. Max Winckel über die Einwirkungen von Licht und Luft aus den gesunden und kranken mensch lichen Organismus. Eine vernünftige Körperpflege, der Sport in der freien Natur im Winter und Sommer führen zu einer Stärkung der Volksgesundheit und auch zur Er reichung eines höheren sittlichen Niveaus. Geheimrat Faßbender sprach über die gesunde Ernährung im Wandel der letzten Jahrzehnte. Zur Gesundheit gehört nicht allein intellektuelle Erkenntnis, sondern auch Willensbil- dung. Die Ernährungsfragen sind ebenso eine Bil- dungs- wie eine Erziehungsfrage. Geheimrat Bier zeigte seine Licht-Luft-Heilstätte für knochen- und gelenkkrauke Kinder und wies sowohl auf die Bedeutung der Leibesübungen und ihre Grundlage als auch auf ihre Grenzen hin. Scharf geißelte dieser führende Mediziner auf dem Gebiet des Sportwesens die vielfachen gegenwärtigen Von Frühling z« Frühling Roman von A. Arnefeld. 2». Fortsetzung. Nachdruck verboten. Frau Remus erwartete noch Klavierstücke, die sie zum besten geben wollte, und der junge, lustige Architekt Klein haus, der den neuen Kurhausbaü leitete, versprach, eigene Dichtungen vorzutragen. Meta, Fräulein Olga, Herr Remus und ein paar Be amte bildeten samt dem jungen Postfräulein das Publikum. Eine richtige deutsche Weihnachtstanne sollte der Tender noch bringen. Aber am Zwanzigsten trat ein Unwetter von seltener Heftigkeit ein. Sturmgepeitscht, in hohen Wellen donnerte bas Meer brandend an die Ufer. Düstere, schneeschwere Wolken jagten am Himmel, die Küste Istriens war kaum zu erkennen. Postboot und Tender blieben aus. Nachmittags flüchte ten italienische Fischer, die am Meere von dem Sturm über rascht worden waren, in den Hafen. Sie erzählten, daß der Tender, der täglich von Pola aus die Runde über alle Forts der Brionischen Inseln machte, um den Mannschaftsverkehr aufrecht zu erhalten und Pro viant zu bringen, morgens vergebens versucht hatte, sich dem Hafen zu nähern. Dann habe er sich gegen Fort Pe- neda an der Südspiße gewendet, habe aber auch dort nicht landen können und sei, anscheinend havariert, nach Pola zurückgekehrt. Daß das Postboot von Fasana unter diesen Umständen ousblieb, war selbstverständlich. Und der Sturm wuchs. Donnernd brauste er unaufhör lich über die Insel. Die Zypressen bogen sich wie Gerten zur Erde, die Gebäude erzitterten in ihren Grundfesten, es war unmöglich, auch nur die paar Schritte bis zum Molo zu machen, ohne zu Boden geschleudert zu werden. Auch am Nächsten Tage kam kein Tender. Bon den beiden Forts Peneda und Tegethoff schickte man Übertreibungen, besonders im Frauensport, und die sinnlose Sportbegeisterung breiter Massen. .Die lüsterne Nacktheit, welche sich gegenwärtig im übergroßen Maße auch in den Wochen- und Monatsschriften breit macht, bezeichnete Dr. Harmsen als ein Geschäft mit Sexualien. Das Gesetz zur Bekämpfung der Schmutz- und Schundliteratur hat gegenüber diesen Druckerzeug nissen ebenso wie die Staatsanwaltschaft weithin ver sagt. Die notwendige Voraussetzung für jede Bekämp fung der für unsere Jugend gefährlichen Zeitschriften ist eine gesunde öffentliche Meinung diesen Fragen gegenüber. 40 OVO Mark sür ein Bein. Absichtlicher oder zufälliger Unfall? In dem kleinen Städtchen Olpe spielt ein Versiche rungsprozeß, der an den Wiener Fall Marek erinnert. Der Ingenieur Marek hat über 200 000 Schilling nach einem Unfall erhalten, bei dem er ein Bein verlor. Der Arbeiter Kuhr, dessen Jahreseinkommen höchstens 4000 Mark be trug, hatte sich mit 40 000 Mark gegen Unfall bei zwei Ge sellschaften versichern lassen. Einige Monate nach dem Abschluß blieb er bei einem Nadunfall am Eisenbahnüber gang liegen, wurde vom Zug angefahren, aber nicht über fahren. Er rief um Hilfe und wurde ins Krankenhaus gebracht, ein Bein war ihm abgefahren worden. Die Angelegenheit hatte bereits im Februar dieses Jahres das Schöffengericht von Olpe beschäftigt und ob gleich der Staatsanwalt in der erstinstanzlichen Verhand lung Freisprechung des Angeklagten mangels Beweises beantragte, verurteilte das Schöffengericht den An geklagten zu neun Monaten Gefängnis. Das Landgericht Arnsberg hat den Prozeß nach dem Schauplatz der Tat, nach Olpe, verlegt und wird nun noch einmal alle Zeugen vernehmen. — Die Aussagen Kuhrs stimmen auffälligerweise nur mit denen einiger Zeugen überein, die schon vorbestraft sind. Siegreicher Einzug in Paris. Der „Eiserne Gustav", der Droschkenkutscher Hartmann aus Berlin-Wannsee, der mit seinem Gaul „Erasmus" und einer Kutsche von Anna dazumal nach Paris gefahren ist, ist heute Gegenstand größter Ehrungen. Er erhält über 300 Briefe täglich (darunter meistens Liebesbriefe) und wurde auch vom deutschen Botschafter empfangen. Leningrad probt Gasangriff. Die Hamburger Phosgenwolke hat den „Gasangriff", den man seit dem Weltkrieg schon ein bißchen vergessen hatte, wieder aktuell gemacht, überall fragt man sich: „Was geschieht und tote verhält man sich, wenn er wirk lich kommt?" Die Sowjetrusseu halten sich da nicht erst lange mit theoretischen Erörterungen auf, sondern zeigen an einem praktischen Beispiel, was zu geschehen hat: man hat einfach einen Probegasangriff aus Leningrad arran giert, um die Bevölkerung mit Bombenabwürfen, Rauch patronen, Gasmasken und was sonst noch zu einem richtigen Gaskrieg gehört, rechtzeitig vertraut zu machen. Der Hauptangriff war gegen das Moskau-Narwa- Arbeiterviertel gerichtet, und die Bewohnerschaft dieses Stadtteils war schon tagelang vorher auf die gassicheren Unterstände, in die man sich, sobald die ersten Warnsignale ertönten, zu flüchten hatte, hingewiesen worden. Und alles klappte ausgezeichnet: Der „Feind", so wurde bei dem Manöver angenommen, plante einen nächtlichen Gasan griff, und die Straßen mußten schon um 6 Uhr abends von den Fußgängern geräumt werden. Alle Fahrzeuge, mit Ausnahme der Straßenbahnen, waren für den Abwehr dienst requiriert. Die Arbeiter in den Fabriken bekamen Gasmasken. Als die ersten „feindlichen" Flugzeuge sich näherten, ertönten Alarmsirenen, und alle Glocken be gannen Sturm zu läuten. Der elektrische Strom, soweit er der Beleuchtung dient, wurde sofort ausgeschaltet und von den Straßen her erklangen durch die tiefe Dunkelheit schailerlich die Warnfaufaren. Tann ein Krach, eine Ex plosion, und über der Moskau Narwa-Vorstadt lag die erste Gaswolke, die die Bevölkerung eines Miethauses in einen drei Häuser weiter gelegenen gassicheren Unter stand trieb. Ein mörderisches Abwehrfeuer von Ge schützen und Maschinengewehren erfüllte die dicke Luft. Die ganze Vorstadt war in dichte Rauch- und Gaswolken — es waren natürlich unschädliche Gase — gehüllt, und es dauerte fast zwei Stunden, ehe der feindliche Gasan griff abgeschlagen und die Luft wieder rein war. Das Manöver war durchaus gelungen! In Polen hat man kürzlich bei einem ähnlichen Probcgasangriff richtige „Reizgase" verwandt, und die davon betroffene Gegend war so „gereizt", daß ganze Dorfschaften meilenweit davonliefen und sich erst nach mehreren Tagen wieder nach Hause wagten. ( polltlschr kunckschsu Deutsches Reich Stresemann und Koch-Weser Ehrenvorsitzende der Libe ralen Vereinigung. . In einer unter der Leitung des früheren Ministers Fischbeck abgehaltenen Vorstandssitzung der Liberalen Vereinigung wurden Geheimrat Kahl, Reichsaußen minister Dr. Stresemann und Koch-Weser als Ehrenvor sitzende einstimmig in den Vorstand gewählt. Der Vor stand beschloß ferner, in den letzten Tagen des Juni eine allgemeine Tagung der Mitglieder der Liberalen Ver einigung und weiterer für deren Bestrebungen sich inter essierender Kreise einzuberufen. Der Gummiknüppel der Schutzpolizei. Der Berliner Polizeipräsident veröffentlicht einen Bericht über dis jüngsten Berliner Zusammenstöße zwi schen Kommunisten und Schutzpolizei, bei denen die Polizei von ihren Gummiknüppeln Gebrauch machen mußte und der Polizcivizepräsident Dr. Weiß von den Beamten, die ihn nicht erkannt hatten, mißhandelt worden ist. Im Anschluß an die Untersuchungen dieser Vorfälle hat der Polizeipräsident an das Kommando der Schutz polizei eiu Schreiben gerichtet, in dem er betont, daß er stets für die ihm unterstellten Beamten eintreten werde. Das könne aber nur daun geschehen, wenn jeder einzelne Beamte sich vor Augen halte, daß in keinem Falle das er forderliche Maß der polizeilichen Notwendigkeiten über schritten werden dürfe. Aus Ln- und Ausland Berlin. Der Reichspräsident und der Reichskanzler Haven dem bayerischen Ministerpräsidenten Dr. Held zum 60. Geburtstage ihre Glückwünsche übermittelt. Berlin. Der Reichspräsident empfing den neuernannten siamesischen Gesandten zur Entgegennahme seines Beglaubi gungsschreibens. Darmstadt. Der Hessische Landtag hat das Gesetz zur Abfindung des ehemaligen Großherzogs in erster Lesung mit 29 gegen 25 Stimmen angenommen. Stuttgart. Zum Präsidenten des neugewählten Württembergischen Landtages wurde mit 53 von 78 Stimmen der sozialdemokratische Abgeordnete Regierungsrat Pflüger gewählt. Wien. Im Justizausschutz des Rationalrates gab Justiz minister Dr. Dinghofer aus eine Anfrage hin zu, datz sich ans den österreichischen Geschworenenlisten eine große Anzahl von Vorbestraften befinde. Er stellte dann eine Reform der in Frage kommenden gesetzliche» Be stimmungen in Aussicht. Prag. Der tschechische F i n a n z m i n i st e r Dr. E n g l i s ch tat seine Demission gegeben. Brüssel. Die deutschfeindliche Inschrift an der Front der Löw euer Bibliothek soll verschwinden und durch eine andere Inschrift ersetzt werden London. Kreuzer und Zerstörer der britischen atlantischen Flotte werden in der zweiten Junihälfte eine Kreuzfahrt in der Ostsee unternehmen und am 2. Juli durch den Kieler Kanal fahren, Ivas seit 191t nicht mehr geschehen ist. um Lebensmittel in das Hotel, das die ausgesandte Mann schaft nur mit Mühe erreichte. Hatte Frau Remus am ersten Tage nur über die aus gebliebenen Noten und den Weihnachtsbaum geklagt, so ging Herr Remus am Tag vor dem Heiligen Abend mit sor genvollem Gesicht umher. Seine durch die unerwartete Kundschaft der Festungs mannschaft in Anspruch genommenen Vorräte schmolzen rasch zusammen. Besonders an Bier und frischem Fleisch trat Mangel ein. Und keine Aussicht auf Besserung des Wetters! „Wenn es so weiter geht, wird es ein netter Weihnachts abend werden morgen!" klagte er zu Meta. „Nicht mal einen Festbraten kann ich garantieren." Meta lächelte. „Haben wir nicht Milch aus den Stallungen und Wein aus den Kellereien? Man muß sich eben behelfen, so gut es geht." Ihr machte die Situation Spaß. Das war doch einmal ein Ereignis! Und in den wildtobenden Naturgewalten, deren Großartigkeit jeder Beschreibung spottete, lag etwas Aufreizendes, Reinigendes. Am Morgen des 24. Dezember stand sie am Fenster und blickte hinaus auf das Meer. Hei, wie der Sturm die Wasser aufpeitschte und an den Klippen brüllte!. Sie hätte ihtti beide Arme öffnen und zurufen mögen: „Nimm mich mit, du Gewaltiger, vor dem alles Irdische in ein Nichts zusammenschrumpft! Trage mich fort in die Unendlichkeit, vernichte mich!..." Plötzlich machte sie eine Bewegung und kam zu sich. Ihr Auge hatte weit draußen einen dunklen Punkt erkannt, der gegen die Insel zuhielt. „Der Tender! Der Tender! Herr Remus, sehen Sie, dort arbeitet er sich vorwärts!" Herr Remus, der im Speisesaal saß und über einem Verzeichnis seiner Vorräre brütete, stand auf und trat rasch ans Fenster. Aber sein Gesicht klärte sich nicht, wie Meta gehofft hatte. Im Gegenteil wurde es noch sorgenvoller. „Es ist nicht der Tender, sondern ein Torpedoboot." „Aber es hält auf den Hafen zu!" „Ja, es wird landen und die Offiziere werden zu uns kommen, um unsere letzten Reste zu verzehren." „Vielleicht bringt es Proviant mit?" „Nein. Das ist den Torpedos streng verboten." In den schönen Jahreszeiten kam es sehr oft vor, du Torpedos in Brioni anlegten und die Offiziere ihr Mittags mahl im Hotel einnahmen. Vielleicht wollten diese nun, da sie schon einmal Dienst hatten, den Weihnachtsabend lieber im Hotel verbringen, als draußen auf stürmischem Meer. Der längliche schwarze Punkt, der aussah wie eine Rie senzigarre, kam rasch näher. Bald hatten ihn auch die an deren bemerkt. Sämtliche Bewohner des Hotels versam melten sich an den Fenstern des Speisesaals. Dann sah man aus einem Nebengebäude den Finanzbeamten, in sei nen Uniformmantel gehüllt, sich durch den Sturm gegen den Molo Hinkämpfen. Ihm folgten ein paar Fischer. Auch Architekt Kleinhaus wurde sichtbar. Jetzt holte Herr Remus seinen Havelock, um hinauszu gehen. Das Torpedoboot hatte den Molo glücklich erreicht. Meta zählte die Aussteigenden. Es waren sechs Offi ziere und ein Zivilist. Sieben Personen — o weh, womit würde man die bewirten? Sie dachte noch darüber nach, als sich hinter, ihr die Tür öffnete und Menschen geräuschvoll eintraten. „Ah...! O, da ist's behaglich! Famos! Brillante Idee, hier den Abend zu verbringen!" schwirrte es durcheinander. Und dann sagte plötzlich eine Stimme voll unterdrückter Leidenschaft dicht neben Meta: „Fröhliche Weihnachten, gnädige Frau — und Grüs-e aus der Heimat!" Mit einem Ruck fuhr sie herum. „Herr von Montelli! Sie?" ^Fortsetzung srig..,