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Daß die Familie Schotte sich in diesen« Jahr gar nicht aus den Weihnachtsabend freute, hatte seine besonderen Gründe. Vater, Mutter und Tochter, sie alle schlichen in der Wohnung herum, als ob die Vorbereitung für die Bescherung, die in wenigen Stunden stattfindcn sollte, von ihnen als Last empfunden würde. Was den Hausherrn bedrückte, hätte sicher kein Außen stehender erraten können. Glaubte man doch allgemein, daß ein gnädiges Schicksal diesem kraftstrotzenden Fünfziger, dein die Lebenslust ans den Augen sprühte, alle Wünsche erfüllt hatte. Mit seiner um wenige Jahre jüngeren Gattin lebte er in mustergültiger Ehe. Seiner Tochter war er Berater und Freund. Daß sein Baugeschäst, dem er mit kluger Umsicht Vorstand, von Jahr zu Jahr wachsenden Ertrag abwarf, pfiffen die Spatzen von den Dächern. Was mochte es also sein? Gerade jetzt hätte ein Unbeteiligter, der an der Tür des Wohnzimmers horchte, vieles zu erraten vermocht. Denn Herr Schotte besprach sich dort mit seiner Frau. Aber schon Lrregt durchquerte Schotte das Zimmer. nach den ersten Sätzen hatte ihn die Erregung so überwältigt, daß er aufsprang und das Zimmer zu durchqueren begann. „Was willst du denn tun?" fragte Fran Schotte, der die Tränen in den Augen standen. „Ohne Angabe von Gründen kannst du sie doch nicht nach Hause schicken! Sollen wir eine Notlüge gebrauchen . . .?" „Ich habe nie gelogen und werde cs auch fernerhin «licht tun!" antwortete Schott« und fuhr dann, sichtlich gequält, fort: „Fast noch schlimmer erscheint mir aber die Vorstellung, an einem Tage wie dem heutigen mit solch einem ehrlosen Menschen unter einem Dache zu sein . . ., also wirklich, was tun? . . Die Pause, die diesen Worten folgte, wollen wir be nutzen, um Erläuterndes zu sagen. Schottes hatten von jeher ein gastfreies Haus geführt und jeder, der zu ihnen kam, fühlte sich sogleich dort heimisch. Zu den schönsten Gebräuchen der Familie aber gehörte es, daß am Weihnachtsabend allen Freunden nnd Bekannten Tür und Tor offen standen. So hatte es sich denn in der kleinen Fabrikstadt eingebürgert, daß alle, die zu Schottes nähere Beziehungen unterhielten, im Laufe des Abends, also nach der Bescherung im eigenen Heim, bei ihnen vorsprachcn, um ihnen die Hand zu drücken, ein gutes Glas Wein zu trinken und Süßigkeiten zu knabbern, bis der Magen zu streiken begann. Im vorigen Jahr mögen es so an die fünfzig Personen gewesen sein, die sich bei Schottes die Klinke reichten. In strahlendster Laune war Schotte von einem zum audercn geeilt, während seine Frau immer wieder frisch gefüllte Kannen nnd Schüsseln herbeischasfcn ließ. Erst in der zwölften Stunde machten sich die Gäste zum Ausbruch bereit. Aber unmittelbar vorher ereignete sich etwas so Peinliches..., so Furchtbares..., daß Schottes Antlitz sich noch heute rötete, wenn er daran dachte. Mit einem Ulk sing cs an. Irgendeiner — wer, wußte später keiner mehr zu sagen — war auf den lustigen Ge danken verfallen, den Abschied besonders wirkungsvoll zu ge stalten. Alle Anwesenden sollten in einem Hnldigungszng an der Hausfrau vorübermarschicrcn. Die Anregung fand stür mischen Beifall. Schon trat der erste an und die übrigen Im Gänsemarsch zogen sie vorüber. folgten im Gänsemarsch. Das gefüllte Glas ans Kommando hoch in der Rechten schwingend, verneigte sich jeder mit komischer Feierlichkeit vor Frau Schotte. Die Heiterkeit er reichte aber erst ihren Höhepunkt, als ein Witzbold mitten drin das Licht abdrchte und im Dunkeln einer über die Füße des anderen stolperte. Als die Birnen aufglimmten, war das Lachen noch so allgemein, daß niemandem die Veränderung aufftel, die plötz lich mit Frau Schotte vorgegangcu war. Ganz crschrockeu hatte sie erst an sich heruntcrgcblickt nnd war dann zu ihrem Mann geeilt, der im Vorraum demOUädchcn einige letzte An weisungen gab. Kreideweiß hatte sie ihm zngeflüstert, daß ihr während des Vorbeimarsches sein Weihnachtsgeschenk, eine sehr wertvolle Schmucknadel, die sie vorn an ihrem Kleide be festigt hatte, abhanden gekommen war. Schotte erwiderte rasch, sie möge die Laune der Besucher nicht durch Erwähnung des Vorfalls trüben. Nach deren Weggang werde sich die Nadel sicher finden. Die Gäste gingen, aber das Schmuckstück fand sich nicht. Dagegen verriet ein Riß im Stoff nur allzu deutlich, daß eine verbrecherische Hand am Werk gewesen war . . . Das hatte sich nun gerade heute vor einem Jahr ereignet und man ahnte noch immer nicht, wer der Täter gewesen war, weil Schotte von einer Anzeige nichts wissen wollte. „Ich ver folge niemanden, der Gast in meinem Hause war!" hatte er gesagt. Und dabei blieb es. Darum untersagte er auch seinen Angehörigen, Dritten gegenüber des Vorfalls Erwähnung zu tun. Aber heute, gerade heute, also wieder am Weihnachts abend, sollte er Gefahr lanfen, daß der ehrlose Mensch sein Heim beträte! Wie sollte er es verhindern? Weder er noch seine Frau fanden in ihrer Zwiesprache einen befriedigenden Ausweg. Während sie sich noch unterhielten, hatte Anneliese, di« zwanzigjährige Tochter, ein großes, blondes, hübsches Mädchen, begonnen, den Weihnachtsbaum zu schmücken. Die Tränen, die sie in den Augen hatte, waren freilich durch ganz andere Ereignisse heranfbeschworen worden. Ihre Gedanken kreisten nur um ein männliches Wesen, von dem wir freilich keine unparteiische Schilderung zu geben vermögen. Wir müssen uns deshalb begnügen, zu erzählen, wie die für den vorliegenden Fall wichtigsten Personen über ihn urteilten: Fräulein Anneliese hätte aus eine dahingehende Frage mit Begeisterung geantwortet: „Hans" —so heißt nämlich be sagter Herr—„sei der entzückendste Junge, den man sich denken könne. Er habe das schönste Blondhaar, die blauesten Augen, das treueste Herz." Und wenn der Vicrundzwanzigjährige, der vor kurzem seiuen Doktor machte, noch nichts Her vorragendes geleistet habe, so läge dies ausschließlich daran, daß er bisher noch nicht Gelegenheit fand, sich in einer seinen Vcrstandeskräften entsprechenden Weise ausznzeichncn. Herr Schotte, der in fast allen Punkten entgegengesetzter Meinung war, wäre sicher nie zu einer so kritischen Einstel lung gelangt, wenn Dr. Hans Bellermann es verstanden hätte, die Gefühle, die er seit mehr als einem Jahr für Fräulein Anneliese hegte, besser zu verbergen. Als Schotte anfing, klar zu sehen, nahm er ihn unter die kritische Lupe und erklärte sodann, dieser junge Mann solle, ehe er ans Heiraten dächte, erst zeigen, daß er etwas zu leiste» vermöge. Gutmütigkeit paare sich oft mit Dummheit, Bescheidenheit mit mangelnder Entschlußkraft, Nachdenklichkeit mit fehlender Initiative. Und er dächte gar nicht daran, den Dr. Bcllcr- mann probeweise in seinem Vauunternehmen zu beschäftigen, Annelieses Tränen hatten andere Ursachen. wie dieser es vorgeschlagcn habe, denn sein Betrieb sei kein Versuchslaboratorium. Und damit Punktum. Uud dieses „Punktum", dem er gerade am Morgen gleichen Tages erneut den stärksten Nachdruck verliehen hatte, war die Ursache der Tränen, die jetzt glitzernd auf die Tannenzwcige nicderficlcn. Es fehlt uns leider an der Zeil, uns weiter in diesen Konflikt zu vertiefen, den wir nur nebenbei erwähnten, um zu erläutern, weshalb auch Fräulein Schotte so schweren Herzens dem Verlauf des Abeuds entgegcnsah. Würde Hans, der schon seit Wochen einer weiteren Begegnung mit ihrem Vater aus dem Wege gegangen war, es wagen, sie an diesem Abend in ihrem Eltcrnhausc aufzusuchcn? Während sie diese für sie so wichtige Angelegenheit noch überlegte, war im Wohnzimmer die Entscheidung gefallen. Frau Schotte hatte sie durchgcsctzt. Man wolle auch weiterhin gastfreundlich sein wie stets und den häßlichen Vorfall gänzlich zu vergesse» trachte» .. . » * Zwölf Stunde» später, die Uhr näherte sich der Mitter nacht, herrschte in den Räumen Schottes reges Leben. Fast alle, die im Vorjahr am gleichen Tage erschienen waren, traf man an nnd des Erzählens war kein Ende. Mnßte doch jeder jedem verkünden, was ihn« der Weihnachtsmann Besonderes gebracht hatte. Viele hatten sich ihren neuen Besitz um- oder angetan. So Fran Apotheker Mark den Schal ans venezia nischer Spitze, der allgemein Bewunderung erregte. Der Herr Rat Kleine wiederum mußte seiue Brieftasche aus echtem Schlangeuledcr herumzeigcn, obwohl sie lange nicht so wert voll war wie die goldene Zigarcttcndosc, die der junge Pro visor Budde — wie er erzählte — von seiner auswärts lebenden Mutter erhalten hatte. Auch anderes deutele daraus hin, daß er ans wohlhabenden Kreisen stammle, denn Bnddc, der vor einem Jahr in die Stadt gekommen war, nm Stel lung zu suchen, nnd bisher keine gesnnde» hatte, ließ sich er sichtlich nichts abgehcn. Und da er zugleich ein gut gewachsener Bursche war, stets lustig uud voller Einfälle, hatte ihn eigent lich jeder gern. „Das wäre einer, den ich in meinem Geschäft branchen könnte," sagte sich Herr Schotte, dessen Augen gerade jetzt wohl gefällig auf Budde ruhten. „Und wen» der sich eines Tages in Anneliese..." Er kam nicht dazu, den Satz zu Ende zu denken, denn in diesem Angeichlick traten mehrere seiner Gäste auf ihn zn und verwickelten ihn in eine Unterhaltung. Frau Schotte war auch an diesem Weihnachtsabend von ihrem Gatten reich bedacht worden. Unter den vielen Ge- Als letzter stand vudde vor ihm. schenken befand sich aber — als Überraschung — ein Gegen stand, der sie besonders freute: eine Schmucknadel nämlich, die der im vorigen Jahr entwendeten fast auf ein Haar glich. Auch diesmal steckte sie sie sogleich an, ohne daß das anffiel, weil jeder meinte, daß sie noch die alte Nadel trüge. Nur Dr. Bellermann, der tatsächlich erschienen war, es aber ver mied, sich Anneliese zu nähern, zuckte zusammen, als er das Schmuckstück erblickte, und wurde um einen Schatten blasser. Frau Schotte bemerkte es und zögerte lange, ehe sie ihrem Gatten von ihrer Beobachtung Kenntnis gab. „Du wirst dich geirrt haben," erwiderte er und eine Unmutsfalte bildete sich auf seiner Stirn. „Gott geb's," meinte Frau Schotte, und ganz leise fügte sie hinzu, „sonst . . . arme Anneliese!" Gerade an diesem Abend siel Doktor Bellcrmann aber auch sonst durch sein stark verändertes Benehmen auf. Er, der sonst an so viel. Hemmungen litt, tat sich durch betonte Heiter keit hervor. Erst hatte er, um die Anwesenden zu zerstreue», ein Gesellschaftsspiel veranstaltet, bei dem cs galt, einen Ball zu fange» und gleichzeitig aus zwei zugerufcncn Worten ci' Verspaar zu bilden. Schon dies fand man für einen Weitz nachtsabcnd wenig passend und angebracht. Und nun stieg er gar auf ciuen Stuhl und forderte alle auf, ebenso wie im Vor jahr die Hausfrau hoch leben zu lassen. Das Ehepaar Schotte sah sich befremdet an nnd obwohl cs sich jetzt nicht ausznsprechen vermochte, hatten Wohl im Augenblick beide den gleichen Gedanken. Bellermann hatte inzwischen begonnen, aus einer Bowlcnterrine, die vor ihm stand, de» Gästen einen frische» Trunk zu verabfolgen. „Jeder reiche mir sein Glas," rief cr immer aufs ueue. So hatten bald alle wieder frische» „Stoff", »»r Budde stand als letzter mit seinem leeren Glas noch vor ihm. Bcllermann schenkte ihm jedoch nicht ein, sondern sagte leise: „Folgen Sie mir unanffüllig in de» Rebenraum. Ich möchte Ihnen dort ein wichtiges Geheimnis anverlraucn." Ein wenig erstaunt und auf eineu neuen Scherz gefaßt, eilte Budde dem Dr. Bellermaun nach ins nächste Zimmer. Was sie anfänglich sprachen, wisse» wir nicht. Aber Herr Schotte, der ihr Verschwinden bemerkt hatte und ihnen nach- gcfolgt war, traute seinen Ohren kaum, als er, hereintretend, den Dr. Bettermann mit betontem Nachdruck sagen hörte: „ . . . nnd nun ist es Wohl das beste für Sie, daß Sie die Wahrheit gestehen. Sonnenklar liegt der Fall zutage. Der Diebstahl ist voriges Jahr begangen worden, während alle Gäste, unter denen auch Sic sich befanden, an der Hausfrau vorüberzogen und ans Kommando ihr Glas in der rechten Hand schwangen. Da das Licht nur für Sekunden erlosch, kann der Täter unmöglich Zeit gefunden haben, seine rechte Hand frei zu machen. Folglich kommt nur jemand in Frage, der sich seiner linken Hand mit jener großen Gewandtheit zu bedienen vermag, die in diesem Falle erforderlich war. Zweimal stellte ich heute alle Anwesenden auf die Probe. Beim Gesellschaftsspiel und beim Einschcnkcn der Gläser, lind beide Male erwies es sich, daß Sie der einzige Links händer unter uns sind. In den letzten Wochen habe ich viel Seltsames über Ihr Vorleben in Erfahrung gebracht und — dieser Fall ergänzt nur das Bild!" Bnddc, der zuerst einen zornrotcn Kopf bekommen hatte und anfbrausen wollte, war ganz still geworden. Mit tieft gesenktem Kopf stand er da uud zitterte an allen Gliedern. Herr Schotte machte nnr eine unmerkliche Bewegung, aber Vudde verstaub sie sogleich, und wenige Sekunden später hatte cr das Haus verlassen. Schotte sah Dr. Vettermann, der plötzlich seine ganze Sicherheit wieder verloren hatte, an und sagte ihm sehr ernst: „Die Abrechnung mit Ihnen muß ich Wohl oder übel öffent lich vollziehen. Am besten ist cs, wir bringen die Sache gleich znm Austrag." Rasch ging cr wieder zn den Gästen zurück und rief ihnen zu: „Herr Dr. Bellermanu bittet Sie, Ihre Gläser nochmals, füllen zu dürfen, nm auf seine Verlobung mit unserer Tochter Anneliese . . ." Was er weiter sagte, hörten die Nächstbetctltgten kaum> Annelieses Herz schlug plötzlich so laut, daß cs ihr war, als dröhnten alle Weihnachtsglockcn in ihren Ohren, uud Doktor Bettermann — nun, wir wollen weiter ehrlich berichten: Hans machte sein dümmstes Gesicht.