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Wilsdruffer Tageblatt : 20.10.1926
- Erscheinungsdatum
- 1926-10-20
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192610204
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19261020
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19261020
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1926
-
Monat
1926-10
- Tag 1926-10-20
-
Monat
1926-10
-
Jahr
1926
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 20.10.1926
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KIHM heimlichen fierä " ! llnterbsllungsbrllage rum „WUrckruNei' cagrblatt" — Amtsblatt. s °MSW - r TW n r TZ/ . « Vie Schlaugeasarm und das Wangen-seroWWe 3nWnl zu Manan. Von L. M. Dieck-Man. Es gibt wohl kaum eine Tiergattung, die dem Menschen verhaßter wäre als die der Schlangen, insbesondere der Gift- j schlangen. Wenn auch in Deutschland nur eine Art dieser gifti gen Reptilien vorkommt, die Kreuzotter, so wird doch ihre Er kennung oft sehr erschwert, da nach neueren Forschungen viele, ! gänzlich von einander verschieden aussehende Variationen be- : stehen. In manchen südlichen Ländern herrschen während der heißen Jahreszeiten förmliche Schlangenplagen, denen alljährlich Tausende von Menschen und Haustieren zum Opfer fallen. In ! dieser Beziehung am schlimmsten bestellt ist es wohl um Brasi- I lien, wo es allein etwa 100 Arten giftiger Schlangen gibt, von ! denen die gefährlichsten sind: die Klapperschlange, die rote Ko rallenschlange die schöngezeichnete Iararaca, die Sururaca und die dickbäuchige Urutu. Früher fielen diesen Arten Jahr für Jahr gegen SO Menschen zum Opfer. Da sich diese Reptilien sehr rasch und stark vermehren, ist ihnen mit Ausrottung nicht beizukommen. Das Landvolk namentlich seufzte unter dieser Plage wie weiland die Israeliten, als Jehova, sie zu strafen, die feurigen Schlangen aussetzte. Wenn Moses seinem Volke half, indem er die Eherne Schlange errichtete, fo ist der brasili anische Staat moderner verfahren. Er hat in Butanan, im Staate San Paolo, eine Schlangenfarm und, damit verbunden, ein schlangen-serologisches Institut erbaut. Bekanntlich erfolgt die wirksamste Behandlung der von giftigen Schlangen Gebissenen nach der Serumtherapie, die wir dem französischen Arzt und Forscher Pasteur verdanken. Sie beruht darauf, die tödliche Wirkung des Giftes zu paralysieren, indem man durch vorsichtige Impfung mit einem besonders prä parierten Schlangengift, dem sogenannten „Giftserum", die Be reitschaft des Blutes zur Vernichtung artfremder Stoffe bis zum Maximum erhöht. Diese Methode ist sehr einfach in der An wendung, wenn man die Art der Schlange kennt, von der die Bißwunde herrührt. Denn die Schwierigkeit liegt darin, daß die Schlangen-Sera streng „spezifisch" wirken, d. h. nur dann zur Heilung führen Können, wenn Serum und Bißgift von der gleichen Schlangenart herrühren. Deshalb mußte auch bei der Errichtung der Schlangenfarm für möglichste Vollständigkeit des Schlangenmaterials Sorge getragen werden: Das Institut zu Butanan beherbergt Exemplare von allen in Brasilien vorkommenden Giftschlangenarten. Die ses wurde erreicht, indem man besonders konstruierte Versand kisten mit den erforderlichen Aufklärungen den Farmern kosten frei zur Verfügung stellte. So erhält diese seltsame Farm all jährlich gegen 7000 lebende Schlangen verschiedenster Art aus allen Gegenden Brasiliens zugesandt. Die ausgesetzten Fang prämien gelten nur für die Einsendungen lebender Giftreptilien; allein diese haben sür das Institut Wert: Beim Tode des Tieres zersetzt sich das Gist sehr schnell und wird unwirksam für die Serumherstrllung. Im Institut angelangt, werden die Gift schlangen ihren isolierten „Behausungen" zugesührt. Die ganzen Einrichtungen sind ebenso eigenartig wie zweckmäßig: Auf flachem, durch hohe Mauern von der Außenwelt hermetisch ab geschlossenem Gelände stehen kraalförmige, halbkugelige Stein gehäuse, die sich zu Zuchtzwecken für die Reptilien als besonders vorteilhaft erwiesen haben. Die natürlichen Lebensbedingungen der Tiere werden möglichst gewahrt, glatte Rasenflächen wechseln mit durchhöhltem Boden, mit steinigem Grunde, Felsenpartien und Sandstellen ab, so daß für die verschiedenen Arten die Boden verhältnisse der Natur angepaht sind T«s ist sür Zuchtzwecke von Wichtigkeit, denn viele Schlangenarien vermehren sich in der Gefangenschaft nur, wenn sie ihr natürliches Leben führen kön nen. Als hauptsächliche Nahrung erhalten die Gistreptilien ihre Lieblingsspeise: lebende Ratten, die zu diesem Zwecke besonders gezüchtet werden. In der Farm verbleiben die Tiere bis zu ihrem natürlichen Tode, jedes verendete wird sofort entfernt und für eine wissenschaftliche Sammlung konserviert. Im Gegensätze zur Schlangenfarm, die nur den erwähnten Zuchtzwecken dient, ist die andere Abteilung des Instituts zu Butanan sür die Serumgewinnung eingerichtet. Es werden ge naue Register geführt über die Giftentnahme bei jedem einzelnen Exemplar. Das ist nötig, um eine rationelle Serumgewinnung zu ermöglichen, denn einmal ist die Nachfrage seitens der Aerzte im ganzen Lande sehr groß, anderseits bedarf nach jeder Ent nahme das Gift zur Neubildung und wirksamen Ausreifung einer bestimmten Zeit. Die Schlangen werden nämlich zur Ge winnung ihres Giftes nicht getötet, was unrationell und, wegen der schnellen Zersetzbarkeit, unzweckmäßig zugleich wäre: Die Wärter des Instituts gehen, mit hohen Lederschaftstiefeln gegen Bißwunden geschützt, durch die Farm und fangen mit besonders konstruierten Zangen die vom Leiter der Serumabteilung ge ¬ wünschten Tiere heraus. Dann wird die Giftschlange wehrlos gemacht, indem man ihren Kopf in eine eigens hierfür eingerich teten Klemme faßt und das Schwanzende mit der Hand strass zieht. Durch einen geschickten und genau bestimmten Finger druck zwingt man darauf das Reptil, sein Gift in eine vorge haltene, sterile Glasschale auszuspritzen. Während die Schlange danach in die Farm zurückgebracht wird, nimmt die Serumher stellung ihren weiteren Verlauf. Das gewonnene Gift, der Menge nach etwa einen Fingerhut füllend, von gallertartiger Beschaffen heit und milchig-gelblichem Aussehen, muß zunächst vorsichtig im Wärmeschrank getrocknet und dann mit sogenannter „physio- Herbstlied. Ein leises Taumeln und Schwanken, Ein überladenes Boot — Mit Bändern und bunten Gedanken Fährt die Erde ins Abendrot ... Es flattern die Bänder und Fahnen — Von Farben und kostbarer Fracht; Erde, du Traumboot, beladen Gleitest du in die Nacht — Im Abendrot ist kein Landen, Du gleitest hinaus und weit In graue Meere. Dich finden Die Stürme — die wirbelnde Zeit — Erde, du schwankende Fähre: Buntüberladenes Boot, Bald aus dem grauen Meere Hinter dem Abendrot Zerflattern Farben, Girlanden, Bänder und Wimpel und Strauß. Im Abendrot ist kein Landen, Du schwankst in die Nacht hinaus .., Walter Hammer-Webs. logischer Kochsalzlösung" verdünnt werden. Von dieser Lösung spritzt man in bestimmten Zeitabschnitten regelmäßig genau be rechnete Dosen einem Pferde in die Halsschlagader. Im Tier körper vollziehen sich komplizierte physiologische Umsetzungen, die bis heute ihrer Theorie nach nur wenig geklärt sind. Nach einigen Wochen ist der Umwandlungsprozetz, der mit sinnreich erdachten Methoden kontrolliert wird, soweit vollendet, daß dem Pferde etwa 2—3 Liter „giftangepaßtes Blut" entzogen werden können. Durch Zentrifugieren trennt man die festen Blutbe- standteile vom Blutwasser, dem sogenannten „Serum", das in diesem Falle nun ein „spezifisches Giftserum" geworden ist für Vergiftungen durch Bisse von jener Schlangenart, der es entnom men wurde. Nach Sterilisation und Abfüllung in zugeschmolzene Glasampullen ist dann das Giftserum zur Abgabe bereit. Uebrigens wird in der Schlangenfarm neben den Gift schlangen auch eine Art ungiftiger Schlangen gezüchtet: die große Mussurama, die sich von Giftschlangen ernährt und deshalb als Vertilgerin dieser Plagegeister von großer Bedeutung ist, zu die sem Zwecke verkauft und in den Farmen ausgesetzt wird. Das Institut von Butanan ist auch als Forschungslabora torium bekannt geworden. So z. B. hatte man dort bemerkt, daß nach Injektion des präparierten Giftes der Klapperschlange (Crotalus) die Pferde ein besonders glänzendes Fell bekommen und zugleich erhöhtes Wohlbefinden zeigen. Nähere Unter suchungen ergaben, daß kleine Dosen dieses Giftes, „Crotalin" genannt, in der Lage sind, degeneriertes und zersetztes Blut zu verbessern. Die Versuche, Epilepsie, die ja, als wirkliche Epilep sie, noch heute für unheilbar gilt, mit Crotalin zu behandeln, sind insofern günstig ausgefallen, als derartige Injektionen im stande sind, epileptische Anfälle in ihrer Schwere zu mildern, ja in leichteren Stadien selbst zu vermeiden. Die Homöopathie wendet übrigens die Gifte verschiedener Giftschlangenarten schon seit langem zur Aufbesserung schlechter Blutbeschafsenheit an, ihrem „Aehnlichkeitsprinzip" gemäß: Was Vergiftung hervor ruft, ist auch fähig, in kleinen Dosen Vergiftungen zu heilen. Dieser Grundsatz wird auch in der Serumtherapie befolgt, und das Institut zu Butanan wandelt das tödliche Gift aus dem Zahne ekler Reptilien in wohltätige Heilmittel um. Bedenkt man, daß während früher mehr als 70 Prozent der von Gift schlangen Gebissenen dem Tode oder lebenslänglichem Siechtum verfielen, dieser hohe Prozentsatz im vergangenen Jahre auf 3 Prozent herabgesunken ist, und diese 3 Prozent zu später Be handlung sowie Angabe der falschen Schlangenart zuzuschreiben sind, so kann man die segensreiche Tätigkeit der auf den' ersten Blich hin etwas seltsam anmutenden Einrichtung ermessen. Die Lebensmüden. Skizze von Martin Ulbrich-Magdeburg. Obwohl Karl Kornelius ein vielbeneideter Millionärssohn war, hatte er doch das Leben gründlich satt. Als einziger Sohn seiner Eltern war er im steten Genießen ausgewachsen und hatte sich niemals einen Wunsch versagt. Die prächtige Vorortvilla, welche er bewohnte, und die auch einen verwöhnten Geschmack befriedigen konnte, erschien ihm öde und leer. Jahrelang hatte er allerlei Sport betrieben, bis auch dieser für ihn jeden Reiz, einbüßte. Zur gleichen Zeit erfuhr seine Liebe zu einem schönen Mädchen eine bittere Enttäuschung; denn Elvira hatte sich als berechnende Kokette offenbart, die sich ihm geschmeidig angepaßt, weil sie seine Schätze begehrte. Und was seine Freunde anbe traf, so war er überzeugt, hätte ihn über Nacht das Schicksal zum Bettler gemacht, kein einziger hätte ihm die Treue bewahrt. So beschloß er, seinem inhaltlosen Leben ein Ende zu machen. Mochten sich hernach lachende Erben in seinen Mammon teilen. Er saß am dunkelgrauen Teufelssee, dessen Wellen an den kieserbestandenen Ufersaum schlugen. Bedächtig zog er den Re volver aus der Rocktasche und setzte ihn an die Schläfe. Zwei Se kunden noch, und dann war's vorbei mit diesem Erdenjammer. Da hörte er plötzlich in seiner Nähe einen schweren Fall. Das Wasser rauschte auf. Als er sein Haupt ein wenig über die Uferbüsche reckte, sah er da unten einen Menschen verzweifelt mit den Wellen Kämpfen. Da besann sich der Lebensmüde auf seine Kraft, die er so manches Mal als trefflicher Schwimmer be wiesen. Nasch warf er Rock und Weste ab und sprang in die Flut, die er mit kurzen Stößen teilte. Bald war er bei dem Unglücklichen, packte ihn beim Arm und zog ihn an das Ufer. Dort bettete er den bereits Bewußtlosen auf einen Sandhügel und uchte ihn dem Leben zu erhalten Und er, der Lebensmüde freute sich, als er Erfolg hatte. Mit Teilnahme schaute er in ein verhungertes, von schweren Leiden durchfurchtes Angesicht. „Warum haben Sie mich aus dem See gezogen, der mein Grab werden sollte?" sprach mit vorwurfsvoller Stimme der Gerettete. Zwischen den beiden Männern entspann sich ein seltsames Zwiegespräch. Kornelius erfuhr den Namen des anderen: Kart Niemann. Aus gutem Hause stammend,'hatte er sich eine ge diegene Bildung erworben. Dann war er in den Krieg gezogen und erlebte nach der Heimkehr den Zusammenbruch seines Vermögens, dem der schmerzliche Tod seiner jungen Frau folgte. Diese Verluste hatten ihn schließlich zur Verzweiflung getrieben. Das war eine eigenartige Begegnung, hier der vom Lebens überdruß erfüllte Genießer eines verachteten Ueberflusses, dort der zum Bettler gewordene Ung-lücksvogel, der nicht mehr so viel besaß, um sich ein mageres Mittagsmahl zu gönnen. Gab es ein seltsameres Zusammentreffen? War's blinder Zufall oder Fügung des Himmels? Die beiden überkam ein Ahnen von einer großen seligen Gottesmacht, von der sie ein ander in die Arme getrieben worden waren. Sie schritten den Waldweg entlang der großen Stadt zu, nicht mehr als Verzwei felte, sondern jeder von dem redlichen Vorsatz erfüllt fortan in des andern Sein den Lebenszweck zu sehen, den eine welle Gotteshand gesetzt, nachdem sie vor verblendeten Augen den düster verhüllenden Vorhang weggezogen hatte. Aerjtehgnorare im alten Rom. Im alten kaiserlichen Rom gehörte der Beruf eines Arztes zu den gewinnbringendsten Beschäftigungen. Nach Ueberliefe- rungen aus jener Zeit wissen wir heute, daß einige Leibärzte der Cäsaren damals feste Iahresgehälter in Höhe von 250 000 Sester- zien (annähernd 50 000 Mark) bezogen. Bedeutend größer war überdies die Bezahlung sür die Behandlung von Einzelfällen in den Häusern vermögender Patrizier. Doch wurden dem Arzt seine Bemühungen nur dann honoriert, falls es ihm geglückt war, den Patienten völlig auszuheilen, während er nach erfolg losen Heilversuchen leer ausging. Plinius berichtet, daß für die Genesung eines vornehmen Römers einst die märchenhafte Summe von 200 ovo Sesterzicn <40 000 Mark) aasa-zahlt murde Der Arzt Stertinius ersparte sich im Laufe seiner fruchtreichcn Praxis ein Vermögen von 6 Millionen Sesterzien (1X Millionen Mark), und ein anderer, namens Erina, hinterließ nicht weniger als 10 Millionen Sesterzien. — Diese hohen Honorare schädigten, wie man weiß, den Gesundheitszustand des römischen Plebs, indem sie das Aufkommen und die Verbreitung unkundiger Quacksalber zwangsläufig förderten, die auf dem Forum Ro- manum ihr skrupelloses Unwesen trieben. Zur Ausübung ärzt licher Praxis benötigte der damalige Aesculapjünger keine be sondere Vorbildung und keine Examina, und es fand sich keine Behörde, die den Kurpfuschern ernstlich das Handwerk legte. ,Mbil sclmirari". — Es ist alles schon dagewesen. Auch dis Antike kannte bereits das leidige Promintentenunwesen. Wenn man Doktor ist... Wahre Geschichtchen von Erich Sellheim. In einem weitab- aber wunderschön gelegenen Hessendörf chen begab es sich von ungefähr, daß der Herr Lehrer, nächst seiner jungen Frau und dem Herrn Pfarrer die Respektsperson des Ortes, Besuch erhielt. Besuch aus der Großstadt. Und zwar einen Schwager, einen Doktor dazu. Besagter Besuch hat sich mit sinkender Sonne zur Ruhe gelegt. Ein doppelschläfriges Bett nimmt die von einer zehn stündigen Bahnfahrt müden und matten Glieder des Stroh witwers auf. Neben ihm schlummert den festen und gerechten /Schlaf eines fast Zweijährigen das Söhnlein in buntbemalter, hochgiebeliger Holzbettstatt. Plötzlich Getrampel von Holzschuhen und nägelbeschlagenen /Stiefeln. Laute Ruse durchhallen die Stille der anbrechenden ' Nacht: „Herr Lehrer, Herr Lehrer ..." Der Herr Lehrer läßt sich vernehmen. „Herr Lehrer, der Herr Doktor soll sofort kommen. Lübecks Margrete liegt in den Wehen, und die Amme hat gesagt..." „Aber was wollt Ihr denn?" schallt's von oben herab. „Mein Schwager ist doch..." „Es tät pressieren, hat die Amme gesagt, und der Herr Dok tor sollt' sofort kommen", schallt's empor. „Aber mein Schwager ist doch..." schallt's wieder herab. „Und der Herr Doktor sollt' ja kommen", schallt's unentwegt empor. „Aber mein Schwager..." Ich ahne den ursächlichen Zusammenhang des lebhaften Frage- und Antwortspiels, schlüpfe in meine Unaussprechlichen und eile hinaus, willens, den Leuten da draußen plausibel zu machen, daß ein Doktor der Philosophie nicht die Funktionen eines Doktors der Medizin übernehmen könne. Da packen mich aber auch schon zehn, zwanzig derbe Bauern- fauste und ziehen mich die emzige Straße des Dorses hinab Vor einem erleuchteten Hause wird Halt gemacht. Ich werde in ein Zimmer geschob, völlig ahnungs- und willenlos. , „Sie kommen just im rechten Augenblick, Herr Doktor", ruft Mir die behäbige Hebamme zu und hält mir auch bald darauf auf ihrem prallen Arm ein zappelndes, schreiendes Neugebo renes entgegen. — Ich beginne mich zu akklimatisieren .. „Ja, wenn der Herr Doktor nicht gewesen wäre", kommt's andächtig und ehrfurchtsvoll von den Lippen der biederen Dort einwohner. ' Ich aber stahl mich heimlich, still und leise in die linde, sternenklare Sommernacht hinaus. Die Schuljugend hat Pause. Lustig tummeln sich die Jun gen und Mädchen im heiteren Spiel auf der Dorfstrahe. Einen Schulhof oder Schulplatz kennt man hier nicht. Da führt laut kläffend Weberts Hektor in die Schar der spielenden Kinder. Die laufen durch- und auseinander. Zu nächst lautes Johlen und Lachen. Dann Wehschreien und Weinen. „Den Häns hat er gebissen!" — Und wirklich zeigt Hansens braungebrannte, nackte Wade eine blutunterlaufene Biß- besser Quetschwunde. Dem Herrn Lehrer ist die Sache peinlich. Er ist ja letzten Endes der Verantwortliche. Die Mutter des Häns kommt, laut wehklagend und heftig gestikulierend. Und mit ihr und gleich ihr die verheiratete Weiblichkeit des Dorfes. „Das muß der Webert bezahlen." (Webert ist ein vielbe neideter Großbauer, Häufens Vater ein Tagelöhner.) Man setzt schon in wollüstiger Vorschadensreude die mannig fachsten Kostenrechnungen auf, denkt an teure und langwierige Prozesse und vergißt darüber den Jungen in seinem Schmerz. Plötzlich das erlösende Wort. „Der Herr Doktor muß helfen." Und schon umstehen mich, den das Klagegeschrei des Jun gen aus dem Hause gelockt hat, an zwanzig Frauen. „Helfen Sie dem Häns", ertönt es im vielstimmigen Chorus, an dem ein antiker Tragödiendichter seine Helle Freude gehabt hätte. „Aber ich ..." versuchte ich abzuwehren. „Helfen Sie, Herr Doktor." „Aber ich..." Ich kann nicht weitersprechen. — Und so verordne ich denn: Sofort ins Bett mit dem Jungen, die Wunde Kühlen, zuerst mit Brunnenwasser, dann mit essigsaurer Tonerde. „Aber sür alle Fälle rufen Sie den Arzt aus der Stadt!" rate ich zum Schluß der Mutter des Jungen. „Aber, Herr Doktor, das ist doch nicht nötig!" Und es ward auch nicht nötig. Am nächsten Morgen bereits spielte der Häns wieder mit seinen Kameraden. Ich aber war um ein Weiteres und Beträchtliches gestiegen m dem Ansehen der gesamten Gemeinde... Der Lotze-Adam ist gestürzt. Als er seine Briefe ausgetragen hatte und auf feinem Rade den Berg hinabfahren wollte, da hat er die Gewalt über seine Maschine verloren und ist eben gestürzt. Die Hiobsbotschaft verbreitete sich mit großstadtunmöglicher Schnelligkeit im Dorfe. Und alles strömt aus den Häusern und Hösen, den armen Briesträger von Angesicht zu Angesicht zu schauen, wie man ihn auf einem kleinen Leiterwagen durch das Dorf transportiert. Regungs- und teilnahmslos liegt er auf dem Wagen, tief in buntblumige, daunenschwere Kissen ver graben, den starren Blick zum regengrauen Himmel gerichtet. „Er ist sicherlich schon tot. Oder er macht's gewiß nicht mehr lange." Also lautet die Diagnose von Adams Gemeinde schwestern und -brüdern. Und schon pflanzt sich von Mund zu Mund der gebieterische Ruf: „Der Herr Doktor soll kommen!" Alle meine Beteuerun gen, daß ich wohl Doktor, aber nicht Arzt sei, werden übertönt durch ein stereotypes „Doktor ist eben Doktor!" Und wieder stehe ich vor einem Kranken und stelle fest, was jeder normale Mensch auch feststellen konnte: Die Knochen sind heil, das Herz schlägt, der Mund röchelt schwer. Aber ihm ent strömt eine derartig beständige Wolke von Alkohol, daß mein Befund untrüglich sein muß. Es bedarf wahrlich keiner ärzt lichen Approbation, um Bierleichen zu agnoszieren. Also: Sofort nach Hause. 24 Stunden Bettruhe. Dann kaltes Bad. Wenn Appetit vorhanden, Hering mit Kartoffeln. Uebermorgen wieder dienstfähig. Meine Diagnose erfüllte sich auf Stunde und Minute, und mein Ruf als vielvermögender Jünger Aeskulapii war fortan gefestigt, war wertbeständig geworden in der gesamten Dorf gemeinde. Besonders aber hat es mir der Lotze-Adam nimmer ver- gessen, daß ich seine wahre Krankheit nicht verraten habe. Ich sehe mit Bestimmtheit und Vergstügen für den nächsten Sommer meiner ehrenvollen Berufung als Gemeindearzt aus Lebenszeit mit einer besonderen pensionssähigen Dienstzulage, gezahlt in Milch, Eiern, schlachtreisen Schweinen usw., entgegen. Beckmann-Anekdote. Als der berühmte Komiker Beckmann in Berlin bei einer Tischgesellschaft seinen Platz zwischen den beiden Schwestern Auguste und Charlotte von Hagn erhielt, sagte er beim Nieder setzen: „Eine herrliche Stelle! Zwischen A. Hagn und C. Hagn kann man nur mit B. Hagn (Behagen) sitzen."
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