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Wilsdruffer Tageblatt : 13.10.1926
- Erscheinungsdatum
- 1926-10-13
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192610138
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19261013
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19261013
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1926
-
Monat
1926-10
- Tag 1926-10-13
-
Monat
1926-10
-
Jahr
1926
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 13.10.1926
- Autor
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- E L ! M Z Kl Ilm deimtteden Iierä - llnterbattungsbeilsge rum „AllstiruNei« Tageblatt" — Amtsblatt. »er kleine Heilige. Skizze von R. Wagner-Berlin. Die Dämmerung ist gekommen und hat all die Farben ge- , blichen, die so jungfroh, so lebendig glühten im goldenen Sonnen- ' licht. Aus dem Garten steigt der Rosenduft herein durch die Fenster. Ich soll euch etwas erzählen. Wollt ihr ein Märchen, — ein Geheimnis? Oh, das Leben ist voll von tausend geheimnisvollen, selt samen Dingen und ihr, die ihr guten Herzens seid, geht wohl hindurch mit großen, verwunderten Augen durch dies Märchen, wundersam und lieblich, schaurig und heilig, düster und sonnig zugleich. Immer Märchen erzähl' ich, erzähl' ich das Leben. — Wie die Rosen duften, wie die Sterne aufblühen einer am andern, wie sie sich einwirken in den Samtmantel, den die Nacht um die alte Erde breitet. — Ich will euch die Geschichte erzählen von einem kleinen Jungen, der einst über meinen Weg gelaufen, vom Joseph Verland, dem Schustersohn. Da wo das Bergstädtchen zu Ende war, wo die Viehkoppeln anfingen, da wohnten die Eltern in einem sauberen Häuschen, und der Vater war Flickschuster, ein braver, stikler Mann. Der Joseph war ein seltsames Kind, — ich habe ost bei ihm gesessen vor der Tür, wenn der Vater drin emsig schaffend mein Schuh werk unter den Händen hatte, still gesessen bei des Schusters Einzigem und hab mir von ihm etwas erzählen lassen; gar manches hab ich da von ihm gelernt. „Der kleine Heilige" hab ich ihn wohl im Scherz genannt, . und er war auch in Wirklichkeit einer und ist auch den Tod der - Heiligen gestorben, den Martyrertod als Kind. Der kleine, zierliche Junge hat mich gelehrt, daß die Blumen nicht da sind zum Abreißen sondern zum Freuen und daß die Schwalben Engel sind, die sich einst wieder verwandeln und im Himmel erzählen, was sie hier unten alles gesehen. Und daß die Schmetterlinge Kinderseelchen sind, die der Herr gott früh zu sich geholt, aber nun hat er ihnen erlaubt, hier unten noch ein Weilchen zu spielen und fröhlich zu sein. Oh, er wußte so manches, wovon ich mir nie etwas hatte träumen lassen. Ein tiefes, frohes Versunkensein war über das blasse, nicht einmal hübsche Gesichtchen gebreitet, wenn er mit den Brocken seines Honigbrotes die Ameisen fütterte, wenn er einen Mist käfer umdrehte, der auf den Rücken gefallen war, und wenn er ihm nun andächtig zuschaute, bis der blauschimmernde Rücken schild sich spaltete und der Käfer weiterschnurrte. Dem Vater bettelte er die Mäuse in der Falle ab und trug sie weit ins Feld ' hinein, und wenn er dann mit der leeren Falle wiederkam, strahlten die Augen vor Seligkeit. Ich hab ihn nie mit anderen Kindern spielen sehen, obwohl sie ihn alle gern hatten, aber wenn eins jammernd angelaufen kam, dann wurde er lebendig, und man fah ihm die Qual an, die er litt bei den kleinen Schmerzen des andern. Vielleicht hatte ihm die Natur mit zuviel Gute, mit zuviel Liebe das kleine Herz beladen, daß es nun fast an der Last zerbrach. In der Koppel, die an des Schusters kleinen Blumengarten 'grenzte, stand ein großer, starker Stier. Boshaft dumm glotzten die Augen die Vorübergehenden an, dumpf dröhnend kam stets ein drohendes Brüllen aus der gewaltigen Brust, — aber der Joseph hatte sich mit ihm angefreundet, der stieg furchtlos in 'das umfriedete Gehege und tätschelte ihn, ja, wenn der Stier wiederkäuend im Grase lag, dann hockte der Joseph vor ihm 'sind erzählte ihm eine von den vielen, vielen lieben Geschichten, die sein kleines Herz wußte. Die Unschuld der reinen, großen Kinderaügen hatte Gewalt über den dumpfen Sinn, über die rohe Kraft dieses wilden Gesellen. In der Rüsenzeit war's, die Welt war schwer von Licht und Duft, von Freude und Leben; da stieg ich wieder einmal hin auf zum Schusterhaus. Der Schlächter mit seinen Gehilfen kam an mir vorbei, sie führten den Stier aus der Koppel da oben ,zum Schlachthaus. Die Männer waren erregt; Schreien klang l hinter ihnen; ich ging, von einer plötzlichen Angst getrieben, : schneller. Gruppen von Menschen überall, auch vor dem Schuster haus und da, mitten auf der Gasse eine Blutlache. Da kam ich, um den kleinen Heiligen sterben zu sehn. Als die Männer das Tier fingen und festmachten, als sie ihm das Leder über die Hörner zogen, um ihn zu blenden, da war auch der Joseph herzugelausen. Zitternd hatte er gestanden, mit bebenden Lippen in dein totenblassen Gesicht, und dann hatte er sich plötzlich mit einem saft irren Schrei auf den Freund ge- Syruch. Alles, was wird, muß wieder enden; alles, was ist, muß sich wenden; alles, was bangt oder zagt, ist verloren. Wölfe beißen, — Ketten reißen, —: aus dem zähen, stillen unbeugsamen Willen wird einzig Freiheit geboren! Wulf Bley. Der Erde. Skizze von Fausto Maria Martini. lUebersetzt von Katharina Bombe.) „Wo warst du heute?" — „Draußen, mit dem Buben, rr ist schon eine Woche nicht an die Luft gekommen." — „Hast du nie mand getroffen?" — „Niemand, Claudio." Claudio schaute zu Simonetta hinüber, die still und regungs los vor ihm stand. Er blickte in ihr offenes, freies, wie von innerem Glück erhelltes Gesicht und war sofort überzeugt, daß sie die Wahrheit sagte. — Ueberzeugt? Schon flackerte eine leise Feindseligkeit in ihm auf, schon kratzte eine Kralle an dem festen Gemäuer seines Vertrauens, und eine kleine boshafte Stimme .flüsterte ihm zu: Wer weiß, wo sie gewesen ist. Und Claudio, . dEr so fest an feine Gattin glaubte, konnte diesen zerstörenden : Einflüssen nicht widerstehen, sobald er die Augen von dem klaren - Angesicht, dem Spiegelbild lauterer Wahrheit, abgewandt hatte. .Langsam stieg der Argwohn vom Gehirn zum Munde hinab und ihm war, als ob er mit einem inneren Feinde spräche. Er fühlte dunkel, wie sich dieser seines Willens bemächtigte und ihn ! unwiderstehlich dazu antrieb, seine Frau grundlos zu quälen. So sand er denn auch schnell einen Vorwand „Neulich hast du aber doch Palmieri getroffen, der dich ein Stück Wegs begleitete. Er hat es mir selbst am Abend erzählt." — „Ich habe dir nicht davon gesprochen, Claudio, weil ich nicht annahm, daß dich die Begegnung interessieren könnte, denn wir haben nur die üblichen Begrußungsformcin gewechselt. Er sagte zu mir: ,Wie gehts, gnädige Frau? Entschuldigen Sie, daß ich Sie nicht sogleich in Hut und Mantel erkannt habe. Wie gehts Claudio? Was macht er, woran arbeitet er?' Stell dir vor, nicht einmal erkannt hat er mich." Und ganz leise, mit schmerzdurch- zitterter Stimme führte sie den kleinen Zeugen dieser Begeg nung auf: „Außerdem war ja auch Dino bei mir.' Ihre Worte fielen ins Leere, obgleich Claudio wußte, daß er ihr nichts vorwersen konnte. Aber zwischen diesen beiden, sick) leidenschaftlich liebenden Menschen flackerte von Zeit zu Zeit stürzt und die Knie des schon Gefesselten umklammert. Er schrocken hatten die Män^ r wohl die Stricke nachgelassen, das Tier hatte den Kops freit > men und in furchtbarer Wut und Angst um sich gestoßen. Kemer hatte helfen können. Lautlos war das kleine, feine Körperchen zusammengesunken. Er hat nicht lange gelitten, der Joseph Verland, der kleine Heilige. Ich habe bei ihm gesessen, bis die Händchen still wurden und kalt, bis das Seelchen eingegangen in das große Licht. Als wir ihn am dritten Tage zu Grabe getragen hatten, hab' ich mein Bündel geschnürt und bin fort, — mich litt's nicht mehr in den abgeschiedenen, toten Gassen, — fort in die großen Städte, in den wildesten Lärm, — Das ist die Geschichte vom Joseph Verland, dem kleinen Heiligen, der mich die Liebe lehrte. Als ich heut durch den Garten ging und den Schmetterlingen zusah, die über den Blütenbeeten tanzten, da hab' ich wieder einmal, wie so oft in all den Jahren, an ihn denken müssen. Und mir fiel ein, was er mir einstmals vertraut: die Schmetter linge sind Kinderseelchen, die der Herrgott zu sich geholt, aber nun hat er ihnen erlaubt, wenigstens als Schmetterlinge hier unten noch ein Weilchen zu spielen und fröhlich zu sein. — Auf der Eisenbahn in China. Von Hannah Asch. Die ständigen Kämpfe an den Bahnlinien in China rufen ^"merung an Bahnfahrten wach, die ich kürzlich dort zu rucklegte. o In Tientsin gelandet, war ich ohne chinesisches Geld Der chinesische Geldwechsler in der Nähe des 'Bahnhofs schob mir wortlos die sonst ihre Macht selten verfehlenden Nown der Bank von England wieder zu, aber für meine letzte japanische Zehn- Aen-Note gab er anstandslos eine Anzahl Tientsin-Dollars, wo mit ich gerade die Fahrt zweiter Klasse nach Peking und die Ku lis bezahlen konnte. Der Durchgangswagen mit rechts und links je zwei gegen über liegenden Holzbänken und einem Gang in der Mitte füllte sich schnell mit Angehörigen des mittleren Bürgerstandes. Es war noch eine dritte Klasse im Zuge. Mir gegenüber machte sich ein junges Chinesenmädchen in schwarzen Seidenhosen und loser blauer Jacke "breit, fünf Handkoffer normaler Größe mit sich führend, die sie einfach auf dem Sitz aufbaute. Dazu kamen noch einige große Pakete in Zeitungspapier, einige Kartons, Schirme, Mäntel und mehrere kleine Taschen. Aehnlich richteten sich auch die anderen Fahrgäste ein, besonders Soldaten, die große, lose geflochtene Körbe mit Proviant mitbrachten. Sie selbst zogen ihre Füße hoch, flegelten sich auf zwei Sitzen ohne Rücksicht auf die Platzsuchenden und belegten die gegenüberliegende Bank mit ihrem Gepäck. Als der Zug sich in Bewegung setzte, war der Wagen voll, allerdings mehr mit Gepäck als mit Menschen. Neben mir saß ein großer Chinese in mittleren Jahren in einem Itchang aus schwerem, schwarzem Damast. Mit einem Fächer aus schwarzer Seide fächelte er sich Kühlung zu. Seine 3—4 Zentimeter langen, verholzten Fingernägel bewiesen daß es bei diesem äußeren Zeichen chinesischer Vornehmheit mehr auf die Länge als auf FormenschönheU und Sauberkeit ankam. Er nahm einen Apfel aus der Tasche, polkte mit dem schwarzen, schaufclartigen Daumennagel kleine Stücke heraus, führte sie in den Mund und spie die Schalen in weitem Bogen in den Gang, der durch das ununterbrochene Spucken der übrigen Fahrgäste und die Ausscheidungen der spielenden Kinder einen hygienisch weitsg einwandfreien Eindruck machte. Aus anderen Sitzen saßen Chinesinnen und Japanerinnen, die weiten Jacken oder Kimonos auseinandergeschlagen; an ihren gelben Brüsten hingen saugende Kinder Ein geckenhafter Chinesenjünglinq, den Fächer keck am Genick in den Halskragen seines königsblauen Damast-Itchangs gesteckt, schien sich in d?r Umgebung nicht wohl zu fühlen. Von mir als der einzigen Europäerin nahm man kaum Notiz. Draußen fegte der mongolische Staubsturm über die trost lose Ebene. Durch alle Fugen drang er herein. Im Wagen wirbelte der Staub herum, zum Ueberfluß alles mit einer gelb lich-grauen Sandschicht bedeckend. Ein Boy in schmutzig-weißem Kittel ging im Wagen auf und ab, bot Tee in kleinen Porzellan schälchen an, dessen Lieferung in China in den Preis der Fahr karte einbegriffen ist. Eine Fahrt in der zweiten Klasse ist für den Europäer interesscmi, weil er dort dos seiner Ur- sprünglichkeit beobachten kann; auf langen Strecken kann sie leicht ekelerregend werden. Die Fahrt nach Peking dauerte nur drei Stunden. das Bedürfnis auf, sich zu quälen, züngelte ohne Grund hin und wieder eine wilde Feindschaft empor, die die schönsten Stunden ihrer Ehe zerstörte. Um ein Nichts kam es zu einer Feuers brunst, zu heftigem Wortwechsel, zu Beleidigungen und kränken den Befehlen von Seiten des Mannes. So auch heute. „Du gehst nicht mehr allein spazieren. Nur zusammen mit mir wirst du das Haus von jetzt an verlassen, verstanden?" — „Claudio," schluchzte sie auf, „das verdiene ich nicht, ich liebe nur dich und bin dir treu, das weißt du selbst am besten..." Einen Augenblick fühlte er, wie die Raserei über ihn kam und ihn zu Brutalitäten gegen diese Frau anpeitschte, die ihn gerade durch ihr schlichtes Wahrheitsbekenntnis so in Wut ver setzte. Schlagen hätte er sie können? Doch bevor der häßliche Gedanke zur Tat werden konnte, brach Simonetta in ein hilf loses, kindliches Schluchzen aus. — Da drückte eine kleine Kinderhand von außen auf die Tür klinke. Dino war auf das Weinen der Mutter herbeigekommen. Ein langer, tiefer Seufzer zog noch durch die kahlen Zimmer, und dann war es still. Wie durch ein Wunder hatte der Kleine, noch ehe er das Zimmer betrat, den Sturm des Zornes und Schmerzes beschwichtigt. Dino sagte kein Wort. Er schritt durch das dumpfe Schweigen. Seine kindliche Reinheit bahnte ihm eine Gasse, und seine kleine Seele schien plötzlick) durch den Schmerz der Erwachsenen reis und wach geworden zu sein. Er blickte forschend aus den Vater und warf sich dann mit ausge breiteten Armen der Mutter in den Schoß, wie um sie vor der Wut des Vaters zu schützen. Als Claudio die zitternde Gestalt des Knaben und die bitter bösen Blicke seiner kindlichen Augen auf sich gerichtet sah, kam ein großes Erkennen über ihn. Er wußte plötzlich, aus welchen Irrwegen sich seine überschwengliche Liebe zu Simonetta in Eifersucht und Haß verwandeln konnte, sah ein altes, vergesse nes Geschehen sich zu einem Bilde vor seinen Augen zusammen- sügen, und es wurde ihm klar, daß die Sucht, sich selbst zu quä len, die ihn seit jenem Tage verfolgte, als er zum ersten Male glaubte, glücklich zu sein, tief in feinem Wesen begründet lag, daß diese Veranlagung mit ihm geboren und ausgewachsen, daß sie ein Wesensteil seines Vaters und seiner Vorfahren war. Erinnerung trug das Bild zusammen, daß er bisher aus Schmerz und Reue verdrängt hatte. So tief war es unter die Bewutztseinsfchwelle gesunken, daß mit ihm das verblichene Ge mälde des Vaters über dem Ehebett täglich mehr und mehr hin ter der staubigen Glasscheibe verwischte. Doch heute hatte das unerwartete Eintreten des kleinen Dino eine Stunde aus dem Leben von Claudios Eltern lebendig gemacht, ihr jede Schemenhaftigkeit geraubt, ja fast die eben erlebte Szene, in der er und Sinionetta die Handelnden waren, in den Schatten gestellt. Von Peking reiste ich nach Schanghai in ggstllndigie Kohrt, diesmal in der ersten Klasse im sehr eleganten, bequemen Abteil mit nur einer Reisegefährtin, die sich erst als Amerikanerin ausgab, sich dann aber als von Wladiwostock-Mukden kommende Russin entpuppte, die die Reise schon ost gemacht hatte und mit allen Besonderheiten des chinesischen Bahnverkehrs durchaus vertraut war. Schon das gepanzerte Aussehen des Zuges setzte in Er staunen. Während der Fahrt fiel das auf den Stationen in Reih und Glied stehende Militär auf, das auf einer Station so dicht gedrängt sich neben den einlaufenden Zug postierte, daß ich mich zu der Frage veranlaßt sah, ob hier wichtige Forts vor den Blicken der Fremden, die im Zuge reisten, geschützt werden sollten. Meine Reisegefährtin lachte: „Sie werden geschützt, Sie und ich und alle anderen ,For- eigners', die in diesem Zuge fahren, gegen die Räuberbanden, die die Züge oft aufgehalten, die Fremden herausgeholt und nur gegen Lösegeld wieder hergegeben haben." Sie wußte von einem Ueberfall zu erzählen, der erst wenige Monate zurücklag. Eine Anzahl Fremder war weggeschleppt; die Negierung weigerte sich, das verlangte hohe Löscgeld zu zahlen; da wurden ihr einige weihe Ohrläppchen zugesandt mit der Mitteilung, daß, wenn das Lösegeld nicht bald käme, mehr und größere Musterportionen von den Gefangenen folgen wür den. Falls etwa Militär zu ihrer Befreiung käme, würden die Opfer tot sein, bevor das Militär sie erreiche. Schließlich wurde der Regierung die Sache zu teuer, sie zog vor, die Züge bewachen zu lassen. Auf einer Station war ein Verbrecher ausgestellt, von einem Polizisten an schweren eisernen Ketten gehalten. Seinen Hals ' umschloß der Kang, ein großes viereckiges Brett, das in chine- slschen Schriftzeichen die Geschichte seines Verbrechens schilderte. Nie werde ich das wilde, verschlossene Gesicht dieses Mannes vergessen; seine Augen starrten ins Leere, während die Umstehen den lasen, „Wahrscheinlich hat er ein Verbrechen auf der Bahn began gen," erklärte meine Gefährtin, „vielleicht ist er einer der Räu ber. Nun wird er zu jedem ankommenden Zuge auf der Station ausgestellt. Das ist chinesische Justiz!" Die Dunkelheit brach herein. Im Wagen stand vor jeder Ausgangstür ein chinesischer Soldat mit wohlgefüllter Patronen tasche und aufgepflanztem Bajonett. Draußen durchstach Hellen Lichtschein die schwarze Nacht. „Das sind Scheinwerfer," erfuhr ich, „die angebracht sind, da mit das Herannahen von Räuberbanden rechtzeitig bemerkt wird." Na, das kann eine gemütliche Nacht werden, dachte i-h und begab mich nach gutem Diner im Speisewagen zur.Ruhx. Als der Zug in Tsi Nang Fu hielt, wurde ich durch militärische Kommandos wach. Ich lugte hinaus. Dichte Reihen chinesischer Soldaten waren hier ausgestellt, Fahnen wurden geschwenkt, zwei Militärkapellen spielten? Tas wirkte beruhigend, obgleich man,, wie ich belehrt wurde, in China nie sicher ist, ob sich nicht im nächsten Augenblick die Soldaten mit den Räubern zu gemein samer Arbeit verbinden. Weiter sauste der Zug durch die dunkle Nacht. Morgens hatte tcki wich für Pnkara wo ich den Zug verlassen mußte, um auf der Flußfähre über denUangse- Kiang Nanking zu erreichen. Meine Gefährtin, die den Betrieb kannte, entwarf einen vollständigen Schlachtplan: ) „Wenn der Zug in Pukow einläuft, wird sich eine furchtbare Horde Kulis auf uns stürzen, von denen jeder eins unserer Ge päckstücke an sich zu bringen sucht, sei es noch so klein, um sich eine Bezahlung zu sicherns Ich bin bewährt in diesem Kampf; Sie sind neu." Sie überzählte unser Handgepäck: „Zwei Kulis sind aus reichend. Ich blockiere dis Tür, Sie geben die Gepäckstücke her aus," Der Zug hielt. Wie ein Teufelsspuk fuhr die gelbe Horde auf uns los. Ein regelrechter Kampf entspann sich- Wir wur den bedrängt, das Gepäck uns einfach weggerissen; mir unserer seits rissen es zurück, wurden herumgewirbeli und langten etwas erschöpft und mit verschobenen Hüten auf der Fahre an. Unseres. Gepäckes halten sich trotz unserer energischen Gegenwehr doch sechs Kulis bemächtigt. Natürlich entspann sich dann noch der jedem Chinareisenden bekannte Streit wegen der Höhe der Ent lohnung. wegen der ebenso üblichen Anschuldigung, daß wir fal sches Geld gegeben hätten. Froh waren wir, als wir den gleichen Sturm mit den glei chen Nebenerscheinungen beim Verlassen der Fähre hinter uns hatten und nun glatt von Nanking nach Schanghai fuhren. Nach Jahren wiederholte sich heute genau das gleiche Er eignis. Auch damals stellte sich zwischen den grundlos tobenden Mann und die gekränkte, vom Weinen bebende Frau ein Kind, das diesem hier in Gesicht, in Stimme und Haltung täuschend ähnelte, und das war er, der kleine Claudio. Auch er war da mals auf unerklärliche Weise für das Verständnis des Schmerzes reis geworden, und diese Stunde hatte in seiner Seele eine gren zenlose Bitterkeit hinterlassen. Denn er hatte sich nicht, wie der kleine Dino, mit schützender Geste begnügt, sondern seinem Vater zugerufen: „Vater, wenn du zu Mutter schlecht bist, nehme ich sie mit fort, ganz weit weg, damit sie nicht mehr leidet und weint." Sogar die Faust hatte er gegen den Vater erhoben. Starr vor Staunen hatte ihn der Vater angesehen, genau so, wie er jetzt seinen kleinen Buben anblickte. Doch wieviel großzügiger war fein eigenes Kind! Es hatte nicht knabenhaft die Faust geballt, sondern nur zärtlich die Arme zum Schutz um die Mutter ge schlungen. Und Claudio fragte sich voll Scham und Reue, welche kna benhafte Roheit ihn wohl damals dazu getrieben hatte, seinem Vater die Frau nehmen zu wollen, die er mit derselben grenzen losen und eifersüchtigen Leidenschast liebte wie er seine Simo netta? Was würde er ohne sie anfangen? Schon wenn er daran dachte, überlief es ihn eiskalt. Diese Frau, die er ebenso un berechtigt wie eifersüchtig quälte, weil er sie grenzenlos liebte, gehörte zu seinem Leben wie sein Herzschlag. Sie war ihm Lebensnotwendigkeit, wie es die Mutter seinem Vater gewesen war, jenem melancholischen, verbitterten Mann, der jetzt aus dem alten, verblichenen Bilde von der Wand herabbnckte. Eine unangenehme Frage. Bevor im Jahre 1812 die württembergischen Truppen auf Befehl Napoleons zum russischen Feldzug abmarschierten, hielt der Brigadegeneral v. Hügel eine letzte Musterung ab. Nach der Musterung fand ein großes Mahl im „Goldenen Hirschen" statt. Dort wurde tüchtig gebechert, und die Unterhaltung betraf natür lich fast ausschließlich den bevorstehenden Feldzug. In der Be geisterung, den Wein und Jugend verleihen, rief ein junger Leut nant: „So 'nen russischen Feldzug mache ich ebenso leicht mit, wie ich ein Butterbrot esse!" — „Herr Leutnant," sagte der Ge neral, „ich nehme Sie beim Wort und komme gelegentlich auf das Butterbrot zuruck." — Beim Rückzug im Winter 1812/13 mußte dieser Leutnant bei bitterer Kälte mit seinem Zug im hef tigsten Kugelregen bis zum Halse im Wasser durch den eisigen Dnjepr waten. Als er nun vor Nässe triefend, halb ver eist, zähneklappernd und schlotternd am Ufer stand, ritt der General v. Hügel heran und fragte lächelnd: „Nun, Herr Leuk- nant. wie schmeckt Ihnen das Butterbrot?!" — S.
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