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Wilsdruffer Tageblatt : 10.07.1926
- Erscheinungsdatum
- 1926-07-10
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192607109
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19260710
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19260710
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1926
-
Monat
1926-07
- Tag 1926-07-10
-
Monat
1926-07
-
Jahr
1926
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 10.07.1926
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» !» N « tt Kl Ilm deimileden fierä j Unterhaltungsbeilage rum „LMsaruNer Tageblatt" — Amtsblatt. Die Wurst. Kulturgeschichtliche Plauderei vonBertha Witt. Deutschland gilt unter den Völkern als das Land der vor züglichsten Wurstbereiter. Die Braunschweiger, Gothaer, Rügen- walder und vor allem die Frankfurter haben es darin zu Welt ruf gebracht. Aber die Deutschen sind aus dem Gebiete der Wurst macherei nicht die eigentlichen Erfinder, wenn sie auch im Laufe der Zeit den ersten Wurstarten, die es gab, eine ganze Reihe vortrefflicher Abarten hinzufügten. Schon in ältesten Zeiten ist die Wurst in verschiedener Zubereitung ein bekanntes und ge schätztes Nahrungsmittel. Griechen und Römer waren große Freunde der Wurst, und wenn man älteren Forschern glauben soll, so stammt dieses Gebilde, das anfangs zwar nur ein Ge- mengsel von Blut und Fettstücken, also eine richtige Blutwurst darstellte, aus ältesten heidnischen Zeiten. Die rund geschlungene Form der Wurst entsprach dem alten heidnischen Schlangen zeichen, der Bacchusschlange, die man auch in altem, überlieferten Backwerk, den Kränzen und Kringeln, wiederfindet. Das Bac chus- oder Iahreswendefest feierte man unter diesem Schlangen zeichen, das in seiner ohne Anfang und ohne Ende zusammen- gefügten Form den beständig sich erneuernden Kreislauf der Zeit bedeutete. Wie von jenen Festen noch so manches unausrottbar in den Sitten und Gebräuchen der Menschheit haften geblieben ist, so haben sich auch gewisse Wurstschmäuse an besonderen Ta gen erhalten. Es ist anzunehmen, daß die Evangelisten, wenn sie in ihren Briefen an die Römer und Korinther gegen die heidnischen eß baren Götzenopfer predigen, solche Opferwürste gemeint haben, wie denn von Tertullius in jener Verbindung die Bezeichnung „botuli" gebraucht wird, und .botulus" nannte man noch später eine bei den Römern beliebte Wurstsorte. Eine andere Wurstart nannten die Alten „spirula", also eine ganz offenbare Ableitung von „spira", d. i. Schlange, und eine „spirae" war eben auch das Bacchuszeichen. Freilich hat wohl mehr die ökonomische Klugheit, als der Wunsch, den Göttern das Fleischopfer in Form des Schlangen zeichens darzubringen, die Alten schon frühzeitig die Kunst des Wurstmachens gelehrt, da diese Kunst ein Mittel war, das ge schlachtete Fleisch längere Zeit vor dem Verderben zu bewahren. Leber- und Blutwurst und eine Art Schwartenmagen waren es, an denen sich Griechen und Römer ergötzten. Aber Blut, Leber und Fett galten ihnen als eine besonders kraftspendende Nah- jrung: man nahm früher an, daß so wertvolle Substanzen wie Hirn, Blut und dergleichen den eigenen entsprechenden Substanz besitz mehrten und ergänzten. Gegen diesen Gebrauch wendet sich Kaiser Leo IV., wenn er die Blutwürste verbietet. Freilich wollte er damit die Wurstschlemmerei in seinen Staaten treffen, die keineswegs gering war. „Es ist uns zu Ohren gekommen," so lautet das kaiserliche Verbot, „daß man Blut in Gedärme wie in Säcke packt und so als ein ganz gewöhnliches Gericht dem Magen zuschickt. Es kann unsere Kaiserliche Majestät nicht länger zusehen, daß die Ehre unseres Staates durch eine so fre velhafte Erfindung, bloß aus Schlemmerei sretzlustiger Menschen geschändet werde. Wer Blut zur Speise umschafft, der wird hart gegeißelt, zum Zeichen der Ehrlosigkeit bis aus die Haut ge schoren und auf ewig aus dem Lands verbannt". Schon von Homer wissen wir, wie sehr bei den Griechen die Blutwurst geschätzt wurde. Im Hause des Odysseus bereitete Penelope, des Helden Gattin, sie selbst mit den Mägden, und das „königliche Gericht" ließ die Männer „fröhlichen Herzens" wer den. Homer läßt den Antinoos sprechen: „Höret, was ich euch sage, ihr edelmütigen Freier! Hier sind Ziegenmagen, mit Fett und Blute gefüllt, Die wir zum Abendfchmause auf glühende Kohlen gelegt. Wer nun am tapfersten kämpft und seinen Gegner besieget. Dieser wähle sich selbst die beste der bratenden Würste." „Physke" hieß bei den Griechen diese geschätzte Blutwurst: /eine andere, Allas genannte Sorte scheint unserer Lebcrwurst entsprochen zu haben. Beide wurden gekocht, gebraten und auch geräuchert. Die Römer erreichten bereits eine gewisse Viel seitigkeit in der Wurstmacherei, ja ihre Kunst auf diesem Gebiete war später derartig, daß erst die Deutschen sie nach Jahrhun derten darin wieder erreichten. Die botulis und spirulae sind nur wenige Abarten der vielerlei Sorten. Es sind dünne, schlanke Bratwürste, die diesen Namen tragen, und aus Gallien und Ger manien hatten die Römer bereits treffliche Fleischwurstrezepte mitgebracht, so daß sie nun auch eine Art dicker Knackwurst kannten, die Horaz in Versen feierte. Man bereitete jetzt die Wurst durchweg aus Schweinefleisch, nur der verwöhnte römische Gaumen verlangte eine feinere Mischung von Schwein, Kalb und Huhn. Die Fleischwurst ist offenbar nordischen Ursprungs, denn hier opferten die Alten ihren Göttern den heiligen Eber, auch mit jenem ökonomischen Sinn, daß sie Würste daraus herstellten, die sie selbst verspeisten. Es waren die größten Leckerbissen bei ihren Schmausereien, denn zu ihrer Bereitung wurden nur die Schinken genommen. Richtige Mettwürste kamen hier zustande. Auch die Grützwürste sind eigentlich nur in der alten Heimat der Angeln und Sachsen zu Hause, und die Grützwurst war jene Wurstart, die man nur bei den Germanen anlras. Aber die Deutschen lernten das Geheimnis der den Römern so zusagenden gallischen Wurstbereitung, und seit dem erfanden sie durch eine ganze Reihe pikanter Zusammenstellungen jene zahlreichen und vortrefflichen Wurstsorten, durch die Deutschland nach und nach be rühmt geworden ist Mit dem Verfall Roms war es mit der römischen Kochkunst vorbei: die Barbaren der Völkerwanderung, die in die italienischen Fluren Hinabstiegen, machten der alten Kultur vollends ein Ende: und wenn Frankreich im Laufe der Jahrhunderte das klassische Land der feinen Küche und Kochkunst wurde, so wurde Deutschland nun das klassische Land der Wurst fabrikation. Heute noch haben sich die alten ursprünglichen Wurstarten, — die Blut- und Leberwurst der Griechen und Römer, die Brat- und Knackwurst der Franken und Gallier, die Grützwurst der Germanen, die Mettwurst der nordischen Völker — als die Mütter aller anderen Würste erhalten. Italien steuerte noch eine Sorte bei, die Deutschland sehr bald übernahm, die Cervelat. Im Mittelalter herrschte die Bratwurst, — das Bratwurstglöcklein in Nürnberg ist ein lebendiger Zeuge dasür —, und das Brat wurstessen wurde gelegentlich so eifrig betrieben, daß man es durch Verbote einzuschränken suchte. Das alte Goethesche Frank furt brachte, ehe es seine weltberühmten „Frankfurter" lieferte, den alten griechischen Schwartenmagen in einer vorzüglichen Qualität wieder hervor, und Frau Äja mutzte alle Woche eine Sendung nach Weimar schicken, da es nicht gelang, einen Schwartenmagen von Franksurter Güte in Weimar herzustellen, obwohl Frau von Stein selbst sich bemühte, solches Gericht zu zubereiten. Goethe hatte es ihr genau beschrieben, so sehr ent behrte er die köstliche Frankfurter Wurst, die im Hirschgraben jede Woche frisch ins Haus geliefert worden war. Auch Napo leon war ein großer Wurstfreund und vermißte die Wurst sehr auf der kaiserlichen Tafel, ja Jean Paul nannte sie eine „Speise für Götter". Gedanken. Von Richard von Schaukal. Man kann alles noch einmal sagen, aber es muß sich anders anhören. Die Menschen suchen die Wahrheit, wo sie sich nicht hat ver bergen können: an der Oberfläche. Dummheit verleiht die zum Handeln nötige Sicherheit. Das stolze Leid des Einsamen: daß er immer darüber hin aus ist, wo die andern halten und zusammenhalten. Das Vollkommene sehen die Menschen nicht: es hat keine Flecken. Dumm sein heißt, es merken lassen, ohne es zu merken. Das Pergament. Von B. Witt-Altona. Unbestreitbar sind Pergament und Papyrus wesentliche kul turelle Erfindungen des Altertums. Das Bedürfnis des Men schen, dem flüchtigen Gedanken und dem gesprochenen Wort durch Schriftzeichen Dauer zu geben, regte sich schon früh, so bald die Sprache einmal entwickelt war. Der erste Schreibstoff waren Baumblätter, später die etwas dauerhafteren Häute der Papyruspflanze: doch schon bald führte der Wunsch, sich besseres und vor allem haltbares Material zu verschaffen, zur Erfindung eines wirklichen Papiers, das man aus dem Stoff herzustellen lernte, der bisher in rohem Zustande zum Schreiben benutzt worden war, eben jene Papyrushäute, die man durch entspre chende Verarbeitung in eine flüssige Masse umwandelte, um ein regelrechtes Papier daraus zu schöpfen, das in Formen gefüllt und dann zum Trocknen aufgehängt wurde. Außer der Pa- pyrusstaude wußte man aber auch schon andere Pflanzen, wie Baumwolle und Bast, zu gleichem Zwecke zu verwerten. Aber alle sich ergebenden Papierstoffe hatten den Nachteil, daß sie nicht dauerhaft genug, sondern leicht zerbrechlich waren, und es war wünschenswert, ein festeres Material herzustellen. Und das gelang in dem Pergament. Wie man anfangs Baumblätter zum Schreiben benutzte und dann diesen Stoff zu Papier verarbeitete, so hatte man sich an dererseits frühzeitig auch schon gesäuberter Tierhäute bedient, um sie zu beschreiben. Der Gedanke lag also nahe, auch dieses Material in eine Masse umzuarbeiten, um daraus Papier zu erzielen. Es ergab sich in der Tat ein festes, äußerst haltbares Papier, eben das Pergament. Man schreibt die Erfindung der Stadt Pergamus in Kleinasien 300 v. Ehr zu, nach der dann auch der neue Papierstoff benannt wurde. Doch scheint es, als wenn man im Pergamus eigentlich nur eine vollkommenere Art des Papiers herzustellen lernte, während dieses Hauptpapier bereits anderweitig längst bekannt war, denn sowohl bei den Persern als auch bei den Israeliten besaß man schon weit früher pergamentene Urkunden und Bücher. In Pergamus soll Eu- menes, der ein großer Bücherliebhaber war und eine Bibliothek nach der berühmten Alexandrinischen anlegen wollte, besonders deswegen der Herstellung eines guten Papiers seine Aufmerk samkeit gewidmet haben, weil Ptolomäus von Aegypten aus Eifersucht auf die neue Bibliothek jede Ausfuhr ägyptischen Papiers verbot. Jedenfalls ist Pergamus eine besondere Vervollkommnung in der Herstellung des Pergaments zuzurechnen. Allerdings war das Pergament damals von gelblicher Farbe: erst in Rom lernte man, es weiß herzustellen, bis man später auch dazu über ging, es zu färben. Besonders purpurfarbene Bogen galten als wertvoll: die schwedische Bibliothek zu Upsala besitzt noch eine gotische Handschrift der vier Evangelien in gotischer Uebersetzung auf purpurnem Pergament, in Gold- und Silbertinktur geschrie ben, wie überhaupt früher wertvolle Bibelabschriften mit Vor liebe in Gold- und Silbertinte ausgesührt wurden, die besonders kostbar war. Deutschland, das etwa im 8. Jahrhundert mit dem Per gament bekannt wurde, wandte ihm später eine ganz besondere Aufmerksamkeit zu. Benutzte man es anfangs nur zu sehr wichtigen Urkunden, wie deren noch aus Karls d. Gr. Zeit in blauer und violetter Farbe vorhanden sind, so verwandte man cs später doch allgemeiner als Schreibpapier, je besser und aus gedehnter die Herstellung wurde. So entwickelte sich im XIV. Jahrhundert in Deutschland eine hervorragende Industrie in Pergament, und obwohl es gegenüber anderen Papieren immer ein teures Material war, benutzte man es im Anfang der Buchdruckerkunst sogar zum Buchdruck: doch wurden solche Kunstdrucke bald seltener, da man die Schaf- und Ziegenhäute mehr und mehr zur Verarbeitung feiner Lederwaren benutzte und dadurch eine starke Verteuerung des zur Herstellung des Pergaments benötigten Materials eintrat. Gesunden. Skizze von Hermann Söller. Die klare Winternacht sandte ihre Kälte durch den schmalen Türspalt des Stalles, in dem der alte Kutscher die noch oerschla- jfenen Pferde anschirrte und fahrbereit machte. Er zog das Riemenzeug fest und schimpfte brummend vor sich hin. Verrückte Sache, so spät noch sort, und das bei der grimmigen Külte — aber die Gnädige mußte es ja wissen! Und er hing mürrisch das Schellengeläut wieder auf. „Ohne Schellengeläut," hatte die Gnädige gesagt, „und dann vor die Seitentür" — und er nahm ein paar wollene Decken von der Futterkiste hoch und warf sie ,auf den Kutschersitz. Tann löschte er die Stall-Laterne aus und spannte die Pferde ein, und fuhr langsam über den holprigen -Schnee zum Hofe hinaus. Im Vorbeifahren warf er noch einen Blick durch das Helle Fenster in die Leuiestubc hinein. Um den blankgescheuerten Tisch saßen die fremden Kutscher herum und warteten auf ihre Herren. Sie hatten jeder ihr Bier vor sich stehen und rauchten an ihren Zigarren. In der Mitte des Tisches lag auf einem großen Schinkenbrett eine Reihe Würste und ein Laib Brot. Auf der Bank dein: Ofen saß die Mamsell und ver folgte geschmeichelt den Zuspruch. Auf einem Stuhl abseits ein ijunges Kerlchen in Livree, das sich die Zeit mit einer Mundhar monika vertrieb. — Der alte Kutscher schnalzte mit der Zunge I und trieb die Pferde an. Was brauchten die zu sehen, wohin er j fuhr, wenn die Gnädigte sagte „ohne Schellengeläut"! — und der i Schlitten schludderte leise zum Hose hinaus... Oben in ihrem Zimmer stand die Frau und sah sich noch ein- j mal um. Sie tat es ganz ruhig und fast empfindungslos, nur so s als wollte sie sehen, ob sie auch nichts vergaß. Dann nahm sie s ihre Handtasche und ging hinaus. Als sie auf der Treppe war, j hörte sie Gelächter und Herrenstimmen aus dem Eßzimmer her aus. Dazwischen ein scharfer Psropsenknall, Glüserklirren und ein akzentuiertes „Atout!" Sie stockte, ein Zug des Ekels glitt über ihr blasses Gesicht, und doch stand sie noch horchend still. „Mädchen mit dem roten Mieder" schlug eine weinselige Stimme an — sie wandte sich schnell und ging durch die große Halle hin aus. „Gib mir meinen Taler wieder" klang es hinter ihr her.. Der alte Jochen ging stampfend bei den Pferden auf und ab und rieb sich die Hände warm. Als die Gnädige kam, stand er stramm und machte sich an den Zügeln zu schaffen. „Es ist kalt, Jochen", sagte die Frau und schauerte leise zusammen. „Jawoll, Gnädige", sagte der alte Kutscher, und schob ihr den Fußsack zu recht. Sie sah in das alte Gesicht, als suche sie eine Zustimmung oder Mißbilligung darin... „Es tut mir leid, Jochen", hob sie noch einmal an. „Jawoll, Gnädige", sagte der Alte wieder. Dann stieg er auf seinen Bock und trieb die Pserde an. Sie fuhren die Straße hinab, an den Wirtschaftshäusern vor nüber, die mit harten Umrissen im Mondlicht standen. Dann ein paar geduckte Arbeiterkaten mit weißen Schneehauben auf den niedrigen Dächern, ein einsames Gehöft mit einem einzelnen Licht — aber sonst alles dunkel ringsum und ohne Laut. Nur ein Hund kläffte hinter ihnen drein. Es war halb elf — wenn sie zwei Stunden fuhren, so konnte sie den Nachtzug noch erreichen, der sie fortbringen sollte. „Jochen," sagte sie, „kommen wir -auch noch recht?" Der Kutscher wandte sich zurück: „Jawoll, Gnädige", sagte er einsilbig, und drehte sich wieder um. „Was « wohl denkt," dachte die Frau, „ob er es wohl weiß, ob er es wohl begreifen kann?" -- Und wieder sah sie das Herrenzimmer vor sich, wie sie es so manchen Abend gesehn: den dunklen Eichen tisch, die verstreuten Karten, den verschütteten Wein — und drüber die roten Gesichter mit den schweren Adern auf der Stirn... und wieder hörte sie die Stimmen, die laut und lärmend wurden, und sah die Gewaltsamkeit der Hände, die sich um ihre feinen Gläser krampften... „Fahr zu, Jochen!" sagte sie hart, und der Kutscher trieb die Pferde an. — Es ging die Landstraße entlang. Zu beiden Seiten kahle Bäume, ein paar huschende Telegraphenstangen, ein paar Chausseesteine, die wie frierende alte Weiber am Grabenrande kauerten — sonst nichts als das öde Feld und die starre Erbarmungslosigkeit der Winternacht. Der alte Kutscher hob die Peitsche zum Knallen, ein paar Krähen flogen erschreckt aus den Zweigen auf.und ließen sich krächzend nieder: ein feiner klirrender Rauhreis stob ihnen nach in den Schlitten hinein — die Frau kauerte sich zusammen und sah nicht nach rechts noch links, der Atem fror ihr am Munde fest. Sie horchte aus das eisige Knirschen des Schnees und auf das Klap pern der ^erdehufe, und es schien ihr, als wäre selbst der Klang gefroren und käme hart und metallisch an ihr Ohr... Erst als sie in den Wald einbogen, ließ die Starre nach, und der Schlitten glitt lautlos über den losen Schnee. Aber mitten im Fahren riß der Kutscher fluchend die Pferde zurück und brachte sie mit einem Ruck zum Stehen. „Was ist?" fragte die Frau, und beugte sich hastig vor. Der alte Jochen war schon vom Bocke herunter. „Man bloß ein Lump!" sagte er, und mühte sich knieend, einen steifen Körper vom Wege aufzurichten. Die Pferde hielten damp fend still und rieben die Köpfe aneinander, der alte Kutscher stand hilflos und zerrte an seiner Last herum, die Frau im Schnee blickte stumm auf den Haufen Elend zu ihren Füßen, und der Wald warf schwere blaue Schatten im Mondschein über den Weg... „Ob er noch lebt?" sagte die Frau, und beugte sich scheu herab. „Bis ich zurückkumm, sicher nich!" — Sie sah erstaunt in das alte brummige Gesicht. „Ja denkst du denn, daß wir ihn hier liegen lassen?" Der alte Jochen zerrte eine Pferdedecke unter dem. Sitz hervor: „Ich denke garnischt, ich denke man bloß, daß die Gnädige das nich vertragen kann", sagte er, und schob den schweren Körper auf die ausgebreitete Decke. „Er wird ja woll getrunken haben", setzte er noch deutlicher hinzu, und fing an, mit der Pferdedecke kräftig an der starren Gestalt her umzureiben. Seine Handschuhe aus Schafwolle machten ihn un gelenk, er zog sie aus und warf sie in den Schnee... Die Frau tat ein paar vage Schritte, dann ging sie ohne ein Wort zu den Pferden hin, fuhr ihnen streichelnd über den Kopf und kraute sich in die Mähne hinein... in ihr stand noch das Bild des Zim mers mit den verstreuten Karten und dem verschütteten Wein, sie hörte das Lachen und Gläserklingen und sah in die erhitzten Gesichter hinein — und vor ihr lag in dem weißen Schnee der blasse Vagabund, und der Mond schien ihm grell in das zerfallene Gesicht... — „Jochen," sagte sie, immer noch mit dem Riemen zeug in der Hand, „wir wollen zurück." Der alte Jochen hob den Kopf. „Wohin?" fragte er schwerhörig, und hielt nicht im Reiben inne. „Nach Hause", sagte die Frau leise, und trat aus den Schlitten zu. Der alte Jochen stand steifbeinig auf. Die Frau schob die Felldecke zurück und machte Platz auf dem Sitz: „Hier herein", sagte sie, und griff mit zu. Die Pserde wieherten aus, es ging zurück. Schneller noch als vorher, in der alten Spur. Die Telegraphenstangen glitten vorüber, die Bäume huschten am Weg, die Chausseesteine kau erten am Grabenrand — aber es schien, als wäre alles weicher geworden, der Mond hatte sich überzogen, und es fiel ein leiser Schnee. Die Frau im Schlitten saß ganz still — sie hielt den Kopf des Vagabunden im Schoß und rührte sich nicht. Ihr ging ein großes Verstehen auf und machte sie stumm. Was sie bei den großen Herren nicht verstanden hatte, bei dem armen Vaga bunden verstand sie cs. Sie verstand die schwere Wirklichkeit und die heiße Not des Lebens, die Männer fühlen, und sie ver stand, datz man unterliegen kann im Kampf mit sich selbst . , Die vornehmen Herren und der arme Vagabund, sie suchten alle dasselbe, so oder so, den Rausch, der vergessen läßt. Was war der Unterschied — ach, nur der Schliff des Glases ... Und mit einem wunderlichen Lächeln des Erbarmens beugte sie sich über den struppigen Kopf .. „Mädchen mit dem roten Mieder, gib mir meinen Taler wieder" .. es war der Herr von Stronsdorf, der das sang. Seine Frau war ihm jung gestorben, nun kneipte er so rum .. Und der mit den Karten in der Hand, der hatte wohl nie wen gehabt .. und der mit dem Burgundergesicht, den trieb der Unfrieden sort ... Und immer noch mit dem Vaga bunden im Schoß sah sie die ganze Tafelrunde vor sich und sah sie mit anderen Augen an. Und sie dachte an ihren Mann, und wie sie ihr spinnwebfeines Frauenleben vor ihm gerettet hatte — Und in Not und Schuld beugte sie sich nieder und deckte den Lump mit ihrem Mantel zu. Sie fuhren weiter und weiter, und die Schatten liefen mit über den bleichen Schnee. Das Haus tauchte auf, schwer und dunkel, nur im Erdgeschoß das Licht aus dem Herenzimmer heraus .. „Fahr' vorne vor," sagte die Frau, und der alte Kutscher fuhr in scharfem Trab durch das offene Tor und hielt vor der Freitreppe still. Ein Hund schlug an, und kroch beschämt in seine Hütte zurück. Die Herren hatten die Köpfe erhoben, der Hausherr trat an die Glastür heran .. „Was ist los?" fragte er überrascht, und kam heraus — hinter ihm die andern, der eine noch mit dem Glas in der Ha.nd — durch die offene Tür das breite Licht, und ein Dunst von Wein und Rauch .. ein paar Pfropfen rollten über den Teppich nach ... Der alte Jochen war schwerfällig von seinem Sitz heruntergeklettert und warf den Pferden die Decken über. Sie standen dampfend und schnau bend, noch das Zucken der Fahrt in den Gliedern. „Was ist los 2" fragte der Herr noch einmal. Der alte Jochen machte wortlos die Wagenlaterne auf und drehte das Licht nach dem Schlitten zu: „Man bloß ein Vagabund," sagte er dann und schneuzte sich in sein Taschentuch. Die Frau stand aufgerichtet im Schlitten und hielt die zerlumpte Gestalt. Das Licht der Wagenkerze fiel grell in das blasse Totengesicht und zeigte den Jammer der Züge. Der alte Jochen schlug die Decke zurück, ein fader Schnapsgeruch stieg aus den Lumpen auf ... Die Herren standen stumm, und sahen sich betreten an: „Mein Gott, die gnädige Frau!" Ein früherer Offizier schlug die Hacken zu sammen, aber es klappte nicht in dem tiefen Schnee ... Der mit dem Glas in der Hand trat leise zurück und verschüttete stumm den Wein .. Ueber den Hos von der Leutestube her kamen langgezogen die Töne der Mundharmonika. — „Hilf," sagte die Frau, und wandte sich ihrem Manne zu. Sie sahen sich in die Augen, stumm, eine Minute lang .. „Hilf," sagte sie noch einmal. Da nahm er den starren Körper auf seine Arme und trug ihn die Stufen hinauf. Ihm nach ging wortlos die Frau. Auf der halben Treppe drehte er sich noch einmal um: „Laß anspannen, Johann," sagte er mit starker Stimme, „die Herren wollen nach Hause!"
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