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MlsdnrfferÄMaü Sonnabend / Sonntag 17. /18. November Nr. 135 — 1923 — 82. Jahrgang AochemMbMe. Stürmisches Draufgä«gert«m oder Koeifcrei? — Tragischer Konflikt — Der S. November — „Etwas ist faul ..." — Nen-Philatelistik — Der Kron prinz kommt! — „Mumpitz" — Scheidung der Beister — Leterum censLkr . . . Die ganze Woche stand und steht noch unter dem Eindruck, den die Schießerei von nationalgesinnten Mannern in München auf Männer gleicher Sinnesart ausgelöst hat. Mehr als eine Schießerei ist es gewesen. Achtzehn Todesopfer! Die Rechen derer, die bereit waren, ihr alles einzusetzen für die Rückgewin nung des verloren gegangenen deutschen Ansehens im deutschen Innern wie im Auslände, um 18 Kämpfer gedichtet, das ist mehr als Tragik, das ist Schicksal. Achtzehn Helden hat man in München zu Grabe getragen. An ihrer Bahre weint das ge samte nationale Deutschland. Die Nachwirkungen des ver gossenen Blutes sind noch nicht abzusehen. Einstweilen tobt der Kampf der Meinungen noch hin und her, ob unüberlegtes, all zustürmisches Draufgängertum oder feige Kneiserei im letzten maßgebenden Augenblick den größeren Teil der Schuld auf sich geladen hat. Bei Männern wie Kahr, Lossow und dem Obersten von Seisser kann natürlich von Kneiferei keine Rede sein. In einem Aufsätze der „München-Augsburger Abendzeitung" ward Trcitschke zitiert, einer der bedeutendsten Geschichtskun- digen aller Zeiten. „Der tragische Konflikt" ist der Aussatz überschrieben. Damit auch dürste das Verhalten der Herren um Kahr und Kahrs selbst am treffendsten erklärt sein: „Der Staatsmann — sagt Treitschke — hat nicht das Recht, sich die Hände zu wärmen an den rauchenden Trümmern seines Vater landes mit dem behaglichen Selbstlob: ich habe nie gelogen; das ist die Tugend des Mönches." Bleibt der andere Lösungs versuch: unüberlegtes stürmisches Draufgängertum. Daß Herr von Kahr alle nationalen Strömungen in den Dienst seiner Absichten zu stellen bestrebt war, ist begreiflich, ist Pflicht. Auch die Avant-Earde Hitler, die stürmende, galt es zu zügeln, um sie zu nutzen. Dieser war das „ewige Vvrbereiten, Prüfen und Erwägen Kahrs" (nach den Auslassungen des Dr. Friedrich Weber) zu zahm, zu schlapp meinetwegen. (Jugend hat ja das besonnene Zuwarten noch nicht geübt!) Der 9. November — war er nicht der gegebene Tag, mußte er nicht genutzt werden? Hitler, der Mann der wohleinftudierten Pose, um die Befriedigung seines Ehrgeizes bange, konnte sich und die Seinen nicht länger meistern. Er nutzte den Tag und an der Bahre der 18 Besten trauert das nationale Deutschland. . . Daß der Münchner Putschversuch nicht geeignet war, dem Ansehen Deutschlands im Auslande auf die schwächlichen Beine zu helfen, — wer möchte das bestreiten! Wer aber da draußen nicht so genau über die Gesamtlage im deutschen Reiche orien tiert ist, um sich ein Urteil selbst zu bilden, wird, wenn er nur einiges vom Für und Wider des Hitler-Putsches gelesen, doch mit Marcellus im „Hamlet" sagen müßen: „Etwas ist faul im Staate Dänemark"! Unser „Notgeld" (bitte das Wort in weitestem Ausmaße gelten zu kaffen!) steht ja bei uns fast auf dem Nullpunkte der Anerkennung. Darin liegt — ein schwacher Trost allerdings — für uns die Gewähr, daß das Notgeld nicht weiter Zeuge unseres politischen und wirtschaftlichen Verfalles sein kann. Dessen bedarf es ja auch kaum mehr, haben wir dafür doch die — Briefmarken! Bei ihrer räumlich beschränkten Ausdehnung vermag sie die erforderlichen Nullen nicht mehr zu fassen. Die neuen, mit Anfang dieser Woche gültigen Marken zeigen denn auch nur noch die aufgedruckte ein- und mehrstellige Zahl an Milliarden, für die die Marken gelten. Und wenn die drei stelligen Zahlen nicht mehr ausreichen, dann werden auch hier aus Milliarden Billionen, wie es das Notgeld gelehrt. „Und wer das Lied nicht weiter kann, der fange es von vorne an", bei der Rentenmark oder ihresgleichen. Wenn aber Friedrich- Ebert und Stresemann im Verein mit dem Reichspoftminister die Urkunde der Ehrenmitgliedschaft zu allen philatelistischen Weltverbänden in der Tasche tragen, ihrer „Verdienste" um die Hebung der Vielgestaltigkeit auf diesem Gebiete willen, dann — ist nicht mehr weit unsere goldene Zeit.... „Der Kronprinz, er ist's, er kömmt!" — Sv riefen die Kämpfer auf preußischer Seite in der Entscheidungsschlacht vom 3. Juli 1866, als sie der Kronprinzenarmee im Augenblicke der größten Not ansichtig wurden. Und mit diesem Eingreifen war den Armeen des Prinzen Friedrich Karl und Fransecky's der Sieg gewiß. Wer der Ansicht gewesen, daß das Kommen eines anderen Kronprinzen just in diesen Tagen eine Wagschale rühre, der befand sich im Irrtum. Den letzten Kronprinzen Preußens und des deutschen Reiches führte Heimatsehnsucht ins Vaterland zurück. Seine Frau, seine Kinder wiederzusehen, das waren seinem Kommen Anlaß und Ziel. Daran vermögen die hämischsten Aussätze gewisser Blätter nichts zu ändern. Und wenn Frankreich diesen Heimatsbesuch zum Anlaß nimmt, erneut mit Repraffalien und dergleichen zu drohen, so beweist das eben, wie den Herrschaften jedes Mittel zu solchen Drohungen gerade recht ist. Es zeugt von den nervösen Zuckun gen, denen ein Franzosenherz anheimfällt, wenn nur ein Ge danke an das, was früher in Deutschland war, in ihm Platz greift. Wenn die Amerikaner an „Protesten" u. bergt, anläß- üch dieses Kronprinzenbesnches nicht teilnehmen und solche Bestrebungen mit der allein richtigen Bezeichnung „Mumpitz" belegen, so sprechen sie damit den- vernünftigen Deutschen aus der Seele. Die Scheidung der Geister nach rechts und links tritt immer stärker in die Erscheinung. Kein Tag, an dem nicht wuch tige Zeichen darauf hindeuten. Die große Koalition ging in die Brüche und Stresemann ist um ihre Ueberkleisterung stark be müht. „Doch wer einmal tot daliegt, wird nicht mehr lebendig", so heißt's in dem Liede vom Römer Varus. So trifft's auch die große Vereinigte Sozialdemokratische Partei. W-er da zwischen den Zeilen der Abonnementseinladungen ihrer führenden Organe zu lesen vermag, — wer den mehr als weinerlichen Ton -versteht, mit dem sie flehend die Hände ringen um- das Verweilen jedes ihrer „Getreuen", -der weiß genug. Die Elite ihrer Gefolgschaft sind die Buchdrucker wohl immer gewesen. Trotz Anfeindungen aller Art! Der verlorene Streik in den Berliner Notgeldfabriken, der mit dem Abfall eines großen Teiles der Buchdrucker zum neu gegründeten „Berufs verband deutscher Buchdrucker" unter Anlehnung an den -deutschnationälen Nationalverb-and deutscher Berufsverbände endigte, — spricht er nicht Bände? — Wie pflegte der ältere Cato seine Reden im römischen Senat zu beschließen?: „Leterum osnseo Oartkaxineum esse ckelenckam ..." — Jupiter. England gegen Frankreichs Keschühung der Sanderkündeleien. Eine Interpellation der Sozialdemokraten Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion hat im Reichs tage folgende Interpellation eingebracht: „Die hemmungslos fortschreitende Zerrüttung der Finanzen des Reiches, der Länder und Kommunen und der daraus fol gende Währungsverfall haben zu einer Stockung in der Pro duktion, zu einer Anarchie in der Preisbildung und zu einer Unterbezahlung der Arbeitskraft geführt, die eine Hungerkata strophe in gefährliche Nähe rücken. In den breiten Volksmassen besteht die Auffassung, daß die bisherigen Maßnahmen der Reichsregierung unzulänglich und teilweise einseitig unter allzu großer Schonung leistungsfähiger Volkskreise ergriffen worden sind. Die Unterzeichneten fragen -deshalb die Neichsregierung: 1. Wie ist der. augenblickliche Stand der Reichsfinanzen? Wie hoch sind die täglichen Ausgaben und Einnahmen? 2. Wie gestaltet sich voraussichtlich der Etat in den nächsten Monaten, in Goldmark berechnet? 3. Welche Maßnahmen hat die Regierung zur Beseitigung des Defizits ins Auge gefaßt? Wie denkt sie sich insbesondere das Verhältnis der Reichsfinanzen zu denen der Länder und Gemeinden? 4. Stehen die zu treffenden Währungsmaßnahmen fest, ins besondere auch die Einlösung der Papiermark in eine wert beständige Anleihe oder in ein wertbeständiges Zahlungsmittel? 5. Ist sichergestellt, daß die Reichsbank künftighin Kredite ausschließlich auf Goldbasis gibt? 6. Wer trägt die Verantwortung für die Verschleuderung der Goldanleihe und die dadurch bewirkte Schädigung der Reichsfinanz-en; welche Maßnahmen gedenkt die Regierung zu ergreifen, um die durch die verzögerte Zuteilung von Goldan leihestücken -entstandenen Privatgewinne für das Reich zu be schlagnahmen?" ! ist der Kurs der Rentenmark für den öffentlichen Verkehr auf 66-9 Milliarden festgesetzt worden. Die erhöhte Zahlung die sich j hieraus für die genannten Gehalts- und Lohnempfänger ergibt, i wird bei der Festsetzung der Nachzahlungen für das dritte - Novemberviertel und die entsprechende Arbeiterlohnwoche be rücksichtigt werden. 1V0Milli0NLnNöKLLNmarki«sRl!hrgebiet Berlin, 15. Nov. Das Reichskabmett hat in seiner heu- l tigen Sitzung beschloßen, von dem Eesamtkredst, der dem Reiche f in Höhe von 900 Millionen Mark von der Rcnlenbank zur Ver-. fügung gestellt worden ist, einen Betrag im Werte von 100 Millionen Nentenmark für die Fortsetzung der Reichs- zuschüffe an das besetzte Gebiet, insbesondere der Erwerbslosen- - Unterstützung, bercitzustellen. Rückkehr auch Wilhelm !!.? Berlin, 15. Nov. Unter Bezug auf die Rückkehr des Kron- i Prinzen in seine deutsche Heimat werden in der französischen i Presse Mitteilungen über angebliche Verhandlungen zwischen i Schloß Doorn und der Reichsregierung gemacht, die die Rück- i kehr auch des ehemaligen Kaisers nach Deutschland vorbereiten- sollen. Es wird sogar schon ein bestimmter Termin, nämlich der 4. Dezember, genannt. Diese Mitteilungen, -deren tendenziöser Charakter auf der Hand liegt, entbehren jeder Grundlage. Daß der Kaiser selbst nicht -die Absicht hegt, nach Deutschland zurück zukehren, beweist eine Aeußerung, die er einer ihm nahestehen den Persönlichkeit aus den früheren Hsfkreiscn gegenüber ge legentlich einer Unterhaltung über die Rückkehr seines Sohnes gebrauchte: „Ich kann aus Gründen -der monarchischen Ehre nicht nach Deutschland kommen. Ich kann nicht als Privatmann in ein Land zurückkehren, das ich 3V Jahre lang regiert habe." England protestiert. Am 20. November Neichstagssitzung. Berlin, 15. Nov. Der Aeltestenrat des Reichstages trat im Gegensatz zu den bisherigen Dispositionen auf Verlangen mehrerer Parteien schon heute zusammen und beschloß nach ein stündiger Sitzung, die Plenarsitzung des Reichstages am Diens tag, den 20. November, nachmittags 1 Uhr stattfinden zu lassen. Auf die Tagesordnung wurde außer kleineren Verträgen mit auswärtigen Staaten die politische Aussprache gesetzt. Am Montag, den 19. November, vormittags, wird der Auswär tige Ausschuß tagen, der sich mit der Lage im besetzten Gebiet befaßen wird. Massenkündigungen im Ruhrgebiet. Gelsenkirchen, 15. Nov. Auf den Zechen ist am Mittwoch folgende Bekanntmachung -an die Belegschaft angeschlagen wor den: „Bei der völligen Erschöpfung der Betriebsmittel, bei der Ungeklärtheit der Absatzmöglichkeiten und der trostlosen Lage des Verkehrs, bei den schweren uns von den Besatzungsmächten i gestellten Bedingungen ist es heute nicht zu übersch-en, ob und inwieweit in Zukunft ein Betrieb möglich- ist. Wir sind daher zu unserem Bedauern gezwungen, unserer gesamten Belegschaft zum 30. November zu kündigen." Teilweise Auszahlung der Reichsbezüge in Mentenmark. Berlin, 15. Nov. Den Beamten, Angestellten und Ar- ! beitern des Reichs und den Beamten und Angestellten -der Län- f der und Gemeinden (Gemeindeverbände) wird am 15. und t 16. November zum erstenmal ein Teil ihrer Bezüge in Renten- mark ausgezahlt. Aus kaffentechnischen -Gründen wird hierbei der Umrechnungssatz von 300 Milliarden Papiermark gleich 1 Rentenmark zugrunde gelegt. Dieser Umrechnungssatz hat nur rechnerische Bedeutung für das Innenverhältnis zwischen Reich, Ländern und 'Gemeinden, als Arbeitgebern einerseits und den obengenannten Gehalts- und Lohnempfängern anderseits. Der Kursfestsetzung der Rentenmark für den öffentlichen Verkehr i sollte hierdurch in keiner Weise vvrgegriffen werden. Inzwischen Paris, 15. Nov. Gestern in später Abendstunde erschien der englische Botschafter Lord Crews auf dem Quai d'Orsay, der einen neuerlichen Protest der englischen Regierung gegen die Haltung Frankreichs gegenüber der rheinischen Separatisten bewegung überbrachte. Das englische Kabinett entwickelte aus stichhaltigen juristischen Gründen den -Standpunkt, daß die Schaffung einer unabhängigen rheinischen Republik den Ver- - sailler Vertrag aus der Welt schassen würde. Der Versailler Vertrag sei von den Vertretern der Neichsregierung unter zeichnet. Wenn sich aus dem Reichskörper einzelne Staaten los- -, lösten, so wären diese nicht mehr verpflichtet, die Bestimmungen j des Vertrages anzuerkennen. Außerdem sei in den Artikeln 27 ! und 28 des Versailler Vertrags das Reichsgebiet innerhalb der l -dort aufgezählten -Grenzen- garantiert. Poincars übergab feiner seits dem englischen Botschafter eine Note, die eine Antwort aus die -englische Note vom 5. November darstellt. In -diesen hatte das englische Kabinett gegen die Haltung Frankreichs gegenüber -der rheinischen Separatistenbewegung protestiert und darauf hingewiesen, daß die Franzosen die Umtriebe der Separatisten im Rheinland und in der Pfalz begünstigen. Poincars behauptet in seiner Note, dies sei unrichtig, alle Franzosen übten strengste Neutralität. (!!) Sonderbündler rauben unter dem Schutze der Franzosen deutsche Gelder. Speyer, 15. Nov. Die Sonderbündler brachen in die hiesige Reichsdankanstalt ein, verhafteten den Direktor und schoben ihn ins unbesetzte Deutschland ab. Die Eeldschränke wurden von den Separatisten erbrochen und ihres Inhalts, der zum größten Teil in wertbeständigen Zahlungsmitteln bestand, beraubt. In Neustadt (Haardt) drang ein Kommissar der sog. vor läufigen Regierung der autonomen Pfalz, ein Sonderbündler namens Nowa-k, in Begleitung eines Franzosen in eine Druckerei i ein, die mit dem Drucke von Kreisnotgeld beschäftigt ist, und -r- l klärte alles Geld für beschlagnahmt. Die Zeitungen wurden zur -Veröffentlichung einer Bekanntmachung gezwungen, wonach die - Bevölkerung bei Vermeidung von Strafe verpflichtet ist, das ! beschlagnahmte Notgeld, das noch einen Stempel der „Regie- i rung" erhält, anzunehmen.