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Rr. 139 — 1923 — 82 Jahrgang. Dienstag / Mittwoch 27. / 28 November SlresenMriigliAtt! „Geleimte Töpfe halten desto länger," — so lautet ein alter Erfahrungsgrundsatz. Zu häufige Aneinanderkleisterung aber vermag die Scheiben nicht mehr beisammen zu halten und wenn die Scherben aus so heterogenen Ursudstanzen be stehen wie sie die „große Koalition Stresemann" zeigte, dann soll man mit der Leimung lieber erst gar nicht beginnen. Kurz: das Kabinett Stresemann wurde gegangen. Was nach ihm kommt, weist noch kein Mensch. Wie sich das gegangene aber heute noch vom Zwielicht der Scheidestrahlen gestreift darstellt, das mögen die verschiedenen Preffestimmen dartun, die hier kurz ausmarschieren sollen. Das Schillerwort auf Wallenstein: „Von der Parteien- Gunst und Hast- verwirrt — Schwankt sein Charakterbild in der Geschichte" — auf Dr. Stresemann an gewendet hieße aber doch, ihm der Ehre zu viel antun .... Es schreiben: Deutsche Allgemeine Zeitung: „In Deutsch lands schwerster, schwerster Not stellte sich der scheidende Kanz ler für das undankbare Amt des Leiters der Reichsgeschäste zur Verfügung. Der Dank für seine hohe vaterländische Ge sinnung ist ihm gewiß." Berliner Lokal-Anzeiger: „Das ist als das geschichtliche Faktum dieses Tages festzustellen: Herr Strese mann hat diesem Parlament der Willenlosigkeit das Gesetz der Handlung diktiert." Der Tag: „Der erste Kanzler seit Bethmann Hollweg, der eine Persönlichkeit war, ist zurückgetreten, in offener Feld schlacht, die er gesucht, als erster der Kanzler des Reiches ge stürzt. Gefallen als der Vertreter einer Politik, die zwischen den beiden Weltanschauungen links und rechts die Wage halten wollte." Deutsche Zeitung: .„Heute, bei seinem Abgang, nimmt Stresemann für sich in Anspruch, gehandelt zu haben, während die Parteiführer sich in fruchtlosem Reden verzehrt hätten." Die Deutsche Tageszeitung ruft ihm nach, er sei ein Opfer seiner nach allen Seiten auf Illusionen eingestellten Politik geworden. Die Kreuzzeitung betont: Stresemann habe vom ersten Tage an auf verlorenem Posten gekämpft. Von den linksgerichteten Blättern äußern sich die folgen den, teilweise sich deckend mit den vorerwähnten Meinungen: Berliner Tageblatt: „Dr. Stresemann hat in der Außenpolitik eine Reihe von Möglichkeiten angesponnen, und wir glauben, daß er berufen sein sollte, das fortzusetzen, was er begonnen hat. Nicht zum geringsten aus dem persön lichen Kredit heraus, den- er sich dabei erworben hat." Vossische Zeitung: „Die Regierungskrise, in der wir uns befinden, ist herbeigefü-hrt worden, ohne daß die Par teien sich von vornherein darüber klar waren, was sie an die Stelle der Regierung setzen wollten, deren Rücktritt parlamen tarisch erzwungen- werden sollte." Der V o r w ärts : „Herr Stresemann ist daran geschei tert, daß seine staatsmännische Einsicht mit seiner großen Red nergabe nicht gleichen Schritt hielt. Zum mindesten war von ihm die Erkenntnis zu verlangen, -daß eine Partei, auf deren Unterstützung er angewiesen war, nicht mit immer neuen Herausforderungen bearbeitet werden- durfte." Auswärtige Blätter: Die Münchner Neuesten Nachrichten nennen es den schwersten Fehler Stresemanns, daß er sich nicht ge nügend von dem Einfluß- der Sozialdemokratie freizumachen wußte. Die Kölnische Zeitung urteilt: „Deutschnationale und Sozialdemokraten hatten den Sturz dieses Kanzlers ge wünscht. Zorn und Beschämung über den parlamentarischen Frevel gegen geistige und körperliche Gesundung -des eigenen Volkes lassen im Augenblick die Kritik noch nicht den richtigen Abstand zu den sachlichen und politischen Fragen der Krise gewinnen." Leigner, Leigner, - Lrigner! Die Verhaftung des Doktor juris Zeigner, Landgerichts direktor, Iustizminister und Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, höchster Obergenvsse der All-Sozialdemvkratia vom blaßesten rosa- bis zum knalligsten feuer-rot, wirbelt immer noch mehr des verpestenden Staubes auf. Langsam lösen sich nun auch die Zungen derer, die sich -dereinst in der Gnaden sonne des Gewaltigen sonnen durften. Sie lösen sich in ge wissen Erwartungen. „Haltet -den Dich- . . .?" — Wer ver- l mag es zu sagen, inwieweit das Leitmotiv hier zu suchen ist. » Genug: die Zungen lösen sich und es dürften noch recht erbau liche Düfte aus diesem Sodom und Gomorrha herausdampfen, s Was doch so ein bißchen „Amnestie" nicht olles vermag . . . l Doch lassen wir die Tatsachen reden, die sich aus den Mel dungen der letzten Tage ergeben. Auf die streng chronologische Folge kommt es dabei ja nicht so genau an: Alsberg-Berlin, Zeigners Verteidiger. Zu den Verteidigern- Zeigners gehört der Berliner Rechts anwalt Alsberg. Er geht nach Berliner Blättern davon aus, daß auf Aussagen des Möbius, eines berufslosen, mit Zucht haus vorbestraften Mannes, unmöglich so schwere Vorwürfe erhoben werden können. Alsberg versucht es, den Haupt belastungszeugen Karl Friedrich Möbius aus Leipzig in der Weise zu diskreditieren, daß er von ihm behauptet, er sei mit Zuchthaus -vorbestraft. Wie Möbius mitteilt, entbehrt diese Behauptung jeglicher Unterlage. Möbius ist im Alter von achtzehn Jahren wegen einer I-u-gendtorheit zu zwei Wochen Gefängnis verurteilt worden und hat sich dann bis zu seinem r jetzigen 43. Lebensjahre straffrei geführt. Das AnLlagemaLerial gegen Dr. Zeigner. Iustizminister Dr. Neu gewährte — so berichten die „L. N. N." — unserer Dresdner Schristleitung eine Unter redung, in der er, soweit das -schwebende Verfahren es zu- läßt, in bereitwilliger Weise auf eine Reihe mit dem Zelgner- Verfahren zusammenhängende Fragen Antwort gab. Im all gemeinen bestätigte er das in unserer Svnntagsausgabe ge brachte Anklagematerial gegen Dr. Zeigner. Vor Abschluß ! des Verfahrens sei es aber unmöglich, ein abschließendes Urteil l zu- sprechen. Das vorhandene Tatsachenmaterial reiche aller- E dings schon zu schwerer Belastung Dr. Zeigners aus. Die in j den „L. N. N." aufgedeckten Vorgänge, die sämtlich den i Gegenstand dec Anklage bilden, liegen rund zwei Jahre zurück s und fallen in den Beginn der justizministeriellen Tätigkeit Dr. Zeigners. Es soll sich zunächst um vier bis fünf Fälle handeln, in denen Dr. Zeigner 1. einen Sack Mehl, eine Gans und Geld, 2. ein Brillantkollier für seine Frau- und einen Siegel ring für sich, 3. Bargeld und 4. einen Pelz für sich selbst angenommen haben soll. Die Anzeige ist auf einen Rechtsanwalt in Leipzig zurück zuführen. Es fei aber falsch, hierbei von einem politischen Racheakt eines Rechtsstehenden oder ähnlich zu sprechen, -da es Staatsbürgerpflicht sei, solchen Dingen auf den Grund zu gehen. Das Justizministerium denke nicht daran, die Dinge irgendwie zu bemänteln, oder den Gang der Untersuchung zu beeinflussen. Unrechtmäßiger Ermerb vsn Devisen — Annahme russischer Zuwendungen. Die „Schlesische Zeitung" schreibt: „Die Untersuchung gegen den sozialistischen Ministerpräsidenten Dr. Zeigner, der sich in allen seinen zahlreichen Landtagsredcn als Vertreter der Enterbten und Rechtlosen bezeichnete, wächst sich zu einem der größten politisch-kriminellen Skandale der letzten Zeit aus. Gegen'Dr. Zeigner ist- von seinen kommunistischen Mimster- kollegcn nunmehr bei der Staatsanwaltschaft eine weitere Strafanzeige eingegangen, die Dr. Zeigner den unrechtmäßigen- Erwerb von Devisen zur Last legt, aus deren Mitteln Dr. Zeigner nach seiner Absetzung durch die Neichsexekutive seine kostspielige Schweizer Reise angetreten hatte. Es handelt sich- um Devisen im -Gegenwert von fast 3060 Billionen Mark. Eine weitere, aber noch nicht nachgeprüfte Anzeige aus Böh men, deren Urheber mutmaßlich der geflüchtete kommunistische Ministerialdirektor Brandler ist, beschuldigt ferner Dr. Zeigner der Annahme russischer Zuwendungen für den in Aussicht ge stellten Abschluß eines sächsisch-russischen Handelsvertrages." Dr. Wulffen beim Untersuchungsrichter. Am Sonnabend vormittag weilte ein Vertreter des säch sischen Justizministeriums, Ministerialrat Dr. Wulfsen, längere Zeit beim Untersuchungsrichter für den Fall Zeigner, Amts- gerichtsrat Dr. Mönnich-, um diesen über die Grundsätze zu unterrichten, nach denen die Begnadigung im sächsischen Mini sterium gehandhabt wirb. Eine genaue Kenntnis dieser Grund sätze ist für die Rechtsfindung an sich- unerläßlich, weil ja im Einzelfall auch eine bezahlte Begnadigung sachlich berechtigt sein könnte. War also -der Einzelfall so gelagert, daß- Be gnadigung erfolgen mußte, so ist die Zuwendung an Dr. Zeig ner nicht für eine pflichtwidrige Handlung erfolgt, Dr. Zeigner also nur mit Gefängnis -statt mit Zuchthaus zu bestrafen. —, Zur Entsendung Wulffens sagen die „L. N. N.": Dr. Wulffen- Hat seinerzeit im Landtag das Begnadigungssystem Dr. Zeig ners mit seiner Person und seiner Beamt-enstellung in einer Art vertreten, wie sie stellenweise Empörung oder Lachen her- vorgerusen hat. Er ist also mit -dem- während- der Amtstätig keit Zeigners geübten Gnadcnsystem aufs schwerste belastet, und es wäre -deshalb eine Frage mindestens des einfachen Taktes gewesen, wenn das Justizministerium diesen Mann von jeder Möglichkeit einer Beeinflussung des schwebenden Ver fahrens ferngehalten hätte. Dr. Neu macht so nicht m l! Herr Justizminister Neu hat während- seiner Amtstätigkeit noch keinerlei Anträge auf Amtsenthebung von Beamten auf Grund des Gesetzes üb-er die Pflichten der Beamten gestellt und gedenkt -das auch künftig nicht zu tun, wenn nicht besonders schwere -disziplinarische Verfehlungen- vorliegen. Ebenso sind während der Ministertätigkeit Dr. Neus im Justizministerium noch keinerlei Ernennungen oder Versetzungen aus politischen Gründen vorgenommen worden. Minister Neu gedenkt die Justiz von der Politik frei zu halten. — Dazu schreibt die ge nannte Zeitung: „Wir begrüßen im Interesse der Reinhaltung der Justiz -die Stellungnahme des neuen Iustizministers zu parteipolitischen Beförderungen und Versetzungen-, die in ihrer Durchführung eine Abkehr von der üblen Perfonalpolitjk Dr. Zeigners bedeuten würde." „Was sagst'» du nu zu unserm Zeigner?" — so hörte ich u-beabsichtigt gestern einen Arbeitsmann in sauberem Sonn- tagsanzuge seinen ebensolchen Begleiter fragen. „N-a, mein Zeigner iff'r gewesen, ich mach' in der Gesellschaft nu aber nich mehr länger mit" — erhielt er zur Antwort. Und „Recht Haste!"' tönte es zurück. F. München - Augsburger Abendzeitung : „Die Liebesmühe des Reichskanzlers um die Gunst der So zialdemokratie ist also nun doch vergeblich gewesen. Die Sozia listen hatten- ihn vor seiner gestrigen Rede deutlich wissen lassen, was sie von ihm erwartetsn und er hatte ihren Wink verstanden." — Und an anderer Stelle: „Daß ein Politiker, -der ursprünglich selbst ein kluger Beurteiler wirtschaftlicher Zusammenhänge und -dazu in seinem Innersten Machtpolitiker ist, an dieser irrigen Einstellung der ihm gegenüberstehenden Kräfte zu Fall kommt, ist zum nicht -kleinen Teile zurückzu- juführen auf das Wesen des Parlamentarismus, der denen-, die sich in seinen engstirnigen Kuliffenkämpfen verbrauchen, nur zu seicht den Blick für die großen Linien des wirklichen Ge schehens raubt." Dresdner Nachrichten: „Dr. Stresemann ist ge scheitert an dem, was in seiner Vergangenheit, solange -er noch nicht auf verantwortlichem Posten- stand, seine Hauptstärke war, und was er mit Geist und Geschick zu verteidigen und zu begründen verstand: an seiner Neigung zur Kompromißpolitik, die sich zuletzt ganz in der Hinneigung zur -Koalition mit der Sozialdemokratie auswirkte." Einstweilen mag diese Auslese genügen. Ueber die Stim men der außerdeutschen Blätter, besonders derjenigen -der uns w>ch mehr oder weniger freundlich-gesinnten Staaten, liegt ein tusammenfassendes Urteil noch nicht vor. F. VerSsi dreier Parteien. Kommunisten, Nationalsozialisten, DeutschvZMche Neben- der Kabinettskrise im Reichstag brachte der Wochenschluß eine große Überraschung, das Verbot dreier politischer Parteien Lurch Verfügung des Ober befehlshabers. Aus Grund des 8 1 der Verordnung des Reichspräsi denten vom 26. September 1923 hat General v. Seeät als Inhaber der vollziehenden Gewalt sür das ganze Reichsgebiet aufgelöst und verboten: Sämt liche Organisationen und Einrichtungen der Komm», nistischen Partei Deutschlands, der Kommu nistischen Jugend und der Kommunistischen (Dritten) Internationale, ferner sämtliche Organisationen und Ein richtungen der Rationalsozialistischen Ar beiterpartei und derDeutschvülkischenFr^i- heitspartei. Das gesamte Vermögen der aufgelösten und verbotenen Vereinigungen und Einrichtungen wird beschlag nahmt. Ebenso unterliegen alle Gegenstände, die zur Förderung der Ziele und Zwecke der aufgelösten und ver botenen Vereinigungen bestimmt sind, der Beschlagnahme, und zwar ohne Unterschied, ob sie der Vereinigung ge bären oder nickt. Dsr Zwischenfall in Leipzig. Leipzig, 24. November. In die -bisher recht unklar gehaltenen Angaben über Angriffe aus französische oder belgische Offiziere im Hotel Astoria kommt jetzt etwas Licht. Bekanntlich haben die Vorfälle Anlaß zu diplomatischen Schritten und deutscheu Entschuldigungen an Paris und Brüssel gegeben. Der belgische Hauptmann Knepper, Mitglied der in Dresden stationierten Abteilung der Militärkontroll- kommission, hatte im Hotel Astoria Beratungen mit einem französischen Feldwebel gepflogen. In der Nacht vor der Abreise Kneppers wurden die Zugänge zum Hotel Astoria von der Reichswehr besetzt, während sich ein Reichswehr- offizier zum Hoteldirektor begab und ihn auffordcrte, ihm den französischen Hauptmann und den französischen Feld webel auszuliefern, da er Auftrag habe, beide zu verhaften. Hauptmann Knepper wurde darauf telephonisch in seinem Zimmer verständigt. Er weigerte sich aber, herunterzukommen. Im Zimmer des Offiziers soll es zu einer lebhaften Auseinandersetzung gekommen sein. Haupt mann Knepper und der französische Feldwebel wurden auf das Polizeiamt in der Wächterstraße gebracht, morgens aber wieder friegelassen. Bald darauf reisten beide von Leipzig ab.