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Beilage zum Wilsdruffer Tageblatt Sonnabend/Sonntag den 29./30. September 1923 Nr. 114. 82. Jahrgang An das deutsche Volk! Aufruf derReichsregierung. Berlin, 26. September. Der Reichspräsident und das gesamte Kabinett haben ' beute aus Anlaß der Beendigung des passiven ; Widerstandes folgenden Aufruf erlassen: Am 11. Januar haben französische und belgische ; Truppen wider Recht und Vertrag das deutsche i Ruhrgebiet besetzt. Seit dieser Zeit hatten Ruhrgebiet und i Rheinland schwerste Bedrückungen zu erleiden. ; über 180 OVO deutsche Männer, Frauen, Greise und Kinder > sind von Haus und Hof vertrieben worden. Für Millionen ; Deutsche gibt es den Begriff der persönlichen Freiheit nicht j mehr. Gewalttaten ohne Zahl haben den Weg der j Okkupation begleitet. Mehr als hundert Volksgenossen j haben ihr Leben dahingeben müssen, Hunderte schmachten j noch in Gefängnissen. Gegen die Unrechtmäßigkeit des j Einbruchs erhoben sich Ncchtsgefühl und vaterländische , Gesinnung. Die Bevölkerung weigerte sich, unter f fremden Bajonetten zu arbeiten. Für diese, dem Deutschen ; Reiche in schwerster Zeit bewiesene Treue und Standhastig- ! leit dankt ihr das ganze deutsche Volk. Die Rekchsregicrung hatte es übernommen, nach ihren j Kräften für die leidenden Volksgenossen zu sorgen. In > immer steigendem Maße sind die Mittel des Reiches da- i durch in Anspruch genommen worden. In der abgelau- ; fenen Woche erreichten die Unterstützungen für j Rhein und Ruhr die Summe von 3500 Billionen Mark. In der laufenden Woche ist mindestens die Ver doppelung dieser Summe zu erwarten. Die einstige Produktion des Rheinlandes und des Ruhr- gcSietes hat aufgehört. Das Wirtschaftsleben im besetzten und »»besetzten Deutschland ist zerrüttet. Mit furcht barem Ernst droht die Gefahr, daß bei Festhalten an dem bisherigen Verfahren die Schaffung einer geordnete« Währung, die Aufrechterhaltung des Wirtschaftslebens und damit die Sicherung der nackten Existenz für unser Volk unmöglich wird. Diese Gefahr muß im Interesse der Zukunft Deutsch lands ebenso wie im Interesse von Rhein und Ruhr abge- wcndct werden. Um das Leben von Volk und Staat zu erhalten, stehen wir heute vor der b itt er en N o tw en - djgkeit, den Kamps abzubrechen. Wir wissen, ; daß wir damit von den Bewohnern der besetzten Gebiete i noch größere seelische Opfer als bisher verlangen. Heroisch s war ihr Kamps, beispiellos ihre Selbstbeherrschung. Wir werden niemals vergessen, was diejenigen erlitten, die im i besetzten Gebiet duldeten. Wir werden niemals vergesse», - was diejenigen aufgaben, die lieber die Heimat verließen, als dem Vaterlande die Treue zu brechen. Dafür zu sorgen, daß die Gefangenen sreigegeben werden, daß die Verstoßenen zurückkehren, bleibt die vor nehmste Aufgabe der Neichsregierung. Vor allen wirt schaftlichen und materiellen Sorgen steht der Kampf für diese elementaren Menschenrechte. Deutschland hat sich bereit erklärt, die schwersten materi ellen Opfer für die Freiheit deutscher Volksgenossen nnd'deutscher Erde auf sich zunehmen. Diese Freiheit ist uns aber kein Objekt für Verhandlungen oder für Tauschgeschäfte. ReichsprästdenLstmd Neichsregrsrung ver sichern hierdurch feierlich vor dem deutschen Volk und vor der Welt, das; sie sich zu Leiner i Abmachung verstehen werden, die auch nur s das kleinste Stück deutscher Erde vom Deutschen r Reiche loslöst. In der Hand der Einbruchsmächte und ihrer Verbünde ten liegt es, ob sie durch Anerkennung dieser Auffassung Deutschland den Frieden wicdergebcn oder mit der Verwei gerung dieses Friedens alle die Folgen hcrbeiführen wollen, die daraus für die Beziehungen der Völker entstehen müssen. Das deutsche Volk fordern wir aus, in den bevorstehenden Zeiten härtester seelischer Prüfung und materieller Not treu zus ammenzustehen. Nur so werden wie alle Absichten aus Zertrümmerung des Reiches zunichte machen, nur so werden wir der Nation Ehre und Leben erhalten, nur so ihr die Freiheit wiedergewinnen, die unser unveräußerliches Recht ist! poliiische Rundschau. Deutsches Reich. Die kommende Währungsreform. Die Neichsregierung hat den Entwurf zur Errichtung einer Währungsbank verabschiedet. Er ist dem Reichsrat j zugegangen. Der verabschiedete Plan sieht einen Verwal tungsrat vor, in dem die Wirtschaftsgruppen und auch die > Gewerkschaften vertreten sein sollen. Um eine größere Sicherheit der neuen Note zu erzielen, ist die Höchstgrenze i oer Notenausgabe von 23 Milliarden auf 1,2 Milliarden herabgesetzt und die hypothekarische Belastung von 3 auf i 1 A erhöht worden. Dis Belastung soll nicht mehr nach ! oem Wehrbeitrag, der die Neureichen nicht erfassen kann, sondern nach der Zwangsanleihe vorgenommen wer- den. Der alte Entwurf sah nur bankmäßige Geschäfte mit - dem Reiche vor. Der jetzige Entwurf gestattet auch Ge- i schäfte mit der Reichsbank. Die eigentliche Kreditgewäh- i rung bleibt ausschließlich der Neichsbank überlassen. Wieder Erhöhung der Pcrsonentarife. Die Schlüsselzahl für den Eisenbahngiitertarif bleibt einstweilen unverändert. Die Schlüsselzahl für den Per sonen- und Gepäcktaris wird vom Dienstag, den 2. Oktober, ab auf 30 Millionen, das ist um 50 A, erhöht. In der viertägigen Gültigkeit der Fahrkarten tritt eine Änderung nicht ein. Von Rhein und Ruhr. Die politischen Parteien des Rheinlandes planen am kommenden Sonntag eine große Massenkundgebung I im Gremberger Wäldchen bei Köln. Die Kundgebung werde ein Treuegelöbnis der Rheinländer gegen über den jüngsten Plänen der Sonderbündler darstellen. — Nach einer Brüsseler Meldung hat der König von Belgien eingewilligt, daß das auf Todesstrafe lautende Urteil im Prozeß Graff in lebenslängliche Zuchthaus strafe umgewandelt wird. — Der von den Franzosen zum Tode verurteilte Student Raabe aus Düsseldorf hat schon seit längerer Zeit Spuren geistiger Störung aufgewiesen. Aus diesem Grunde wurde das Todesurteil bisher nicht vollstreckt und Raabe einer Irrenanstalt zur Beobachtung überwiesen. Eine Kundgebung der Beamten. Eine von der Leitung des Deutschen Beamtenbundes einberufene Funktionärversammlung, an der auch alle in Berlin anwesenden Mitglieder des Bundesvorstandes teil nahmen, beriet eingehend die gegenwärtige politische Lage Deutschlands. Sie gab dem einhelligen Willen der Be amtenschaft Ausdruck, dieNeichsverfassung bis zum äußersten zu schützenin der Überzeugung, daß nur durch Auirecbterbaltuna von Rube und Ordnuna. Recht und Gesetz die Einheit und Freiheit des Reiches gesichert wer den kann. Griechenland. *X Die Räumung Korfus vollzogen. Die Räumung Korfus durch die Italiener ist vollzogen worden. Die Ein schiffung der italienischen Truppen ist beendet. Unter den Salven von drei Kriegsschiffen wurde die italienische Flagge ein gezogen und die Insel den Griechen zu- rückgegeben. Innerhalb drei Tagen sind etwa 10 000 Mann mit Artillerie und Materialien eingeschifft worden. Die Bevölkerung blieb ruhig. Aus In- und Ausland. Berlin. In den Räumen der ehemaligen Deutschvöl kischen Freihcitspartei zu Berlin nahm die Berliner poliiische Polizei eine Durchsuchung vor, da der dringende Verdacht des heimlichen Fortbestandes der Partei bestand. Belastendes Material ergab die Durchsuchung nicht. Berlin. Die in Berlin verhafteten Angehörigen einer rechtsgerichteten Organisation „Selbstschutz" sind wieder ent lassen worden. Hannover. Der „Deutsche Tag", der vom 6. bis 8. Oktober in Hameln stattfinden sollte, ist abgesagt worden. — Außerdem wird mitgeteilt, daß der preußische Minister des Innern Seve ring die „Deutschen Tage" in Prenßen allgemein ver boten hat. Memel. In Memel sowie im ganzen Gebiet dieses Namens hat eine aus Kowno hergereiste Kommission im Laufe der letzten Wochen sämtliche Straßen- und Ortsnamen ins Litauische übersetzt. Alle Firmen-, Orts- und Wegeaufschriften und -Be zeichnungen sind dann durch litauisch-deutschen Text ersetzt worden. Madrid. Die Presse versichert, daß das Militärdircktorium die Einberufung des neuen Parlaments innerhalb der gesetzlichen Frist, also innerhalb der drei Monate nach Auf lösung des alten Parlaments, beabsichtigt. Sofia. Die Aufständischen aus Südbulgarien mar schieren gegen die Hauptstadt. Zankoff soll seine Demission ein- gcreicht haben, die auch vom König angenommen worden wäre. Dieser habe sogleich die Sobranje aufgelöst. Oeutscher Reichstag. (383. Sitzung.) OS. Berlin, 27. September. Die außerordentlich gespannte politische Lage hatte bet einem Teil der Rcichstagsabgeordneten den Wunsch hervorge rufen, sofort beim Wiederbeginn der parlamentarischen Arbeit eine große politische Debatte herbeiznsührcn und von der Re gierung Aufschluß über ihre Schritte und ihre weiteren Ab sichten zu verlangen. Ei» anderer Teil des Reichstages jedoch war der Meinung, daß eine solche Aussprache im Augenblick nicht förderlich sei, sondern, daß man Ler Regierung gegen wärtig freie Hand lassen müsse. Der Ältestenrat, der nach mittags znsammcntrat, konnte über Lietze Frage nicht zu einer Einigung gelangen, und infolgedessen verschob sich der Beginn der Sitzung bis in die Abendstunden. Ansprache des Präsidenten Löbe. Präsident Löbe eröffnete die Beratungen mit einer kurzen Ansprache, in welcher er auf die Bedeutung der jetzt bevorstehen den Aufgabe hinwies und in welcher er der Hoffnung Ausdruck gab, daß es gelingen möge, mit Hilfe einer starken Reichsgewalt die Stürme zurückzuweisen, welche sich jetzt von allen Seiten her gegen die Einheit und den Fortbestand der Republik er heben. Nunmehr folgte eine lauge Geschäftsordnungsdcbattc. Der dcutschvölkische Abgeordnete v. Gräfe trat entschieden für eine sofortige Aussprache ein. Er beantragte, den Reichskanzler so fort herbeizurufen und ihn zur Auskunstserteilung aufzusordern. Wöchentliche Regelung -erSleuerabzüge Im Verhältnis'zur Index st eigerung. Nach einer Vorlage, die das Neichsfininzministerinm dem Reichsrat unterbreitet hat, werden die Veränderungen der Ermäßiaungssätze für den Steuerabzug der Flammen. Roman von Hans Schulze. Mit der Ungeniertheit junger Klosterfräuleins, die sich an dem einsamen See vollständig unbeobachtet wußten, lagen sie in ihren Badeanzügen oft ganze Vormittage in dem war men Ufersand oder fchwammen weit in den See hinaus, daß ihre Badekappen sich kaum noch als schwache rote Tupfen auf dem blauen Silber des Wassers abzcichneten. Dann wieder unternahmen sie in ihrem schmucken, klei nen Ruderboot geheimnisvolle Erkundnngsfahrten nach dem „Inselwerdet", einer langgestreckten, niedrigen Landerhebung, die sich wohl eine Viertelmeile weit als eine schilf- und rohr bewachsene Untiefe mitten durch den See erstreckte und an ihren höchsten Punkten in mehreren hintereinanderliegenden Inseln über den Wasserspiele emporragte. Dor allem die vorderste der Inseln, von ihnen, die Ro- binsoninsel genannt, reizte ihren Entdeckertrieb. Ein berüchtigter Wilddieb, der lange Zeit der Schrecken der ganzen Gegend gewessn war, hatte ein volles Jahr darauf gehaust, bis der Pahlowitzer Förster endlich durch einen glück- lichen Zufall sein Versteck aufgespürt hatte. Eine halbverfallene Fischerhütte, in deren Dachraum das °uf dem Jnselwcrder gewonnene Heu aufbewahrt wurde, hatte dem verwegenen Gesellen als Schlupfwinkel gedient und verbreitete einen geheimnisvollen Schimmer von Roman ik um das verlassene Eiland. Eines Morgens waren Herta und Trude schon in aller Frühe zum Baden gegangen. Es war ein wunderschöner Tag in der ganzen Pracht aines sonnenhellen Iunimorgens. . Die Luft war kristallklar, weich und lind mit Lerchen- jubel und weißen Sommerwolken. Der See dehnte sich wie ein blauer Traum; das Morgen fonnenlicht blitzte auf den schimmernden Wellenspitzen. Wie ein roter Mantel zog sich ein breiter Kleeschlag un fern des Ufers entlang und sandte eine Wolke süßen Duftes aber das niedrige Vorland der einsamen Bucht. Jetzt öffnete sich die linnenbeschlagene Tür des Bade- Nuschens und der dunkle Kopf Trudes ward sichtbar. Im nächsten Augenblick traten die beiden jungen Mäd- t chen in ihren weißen Bademänteln ins Freie und spazierten > Uber den weichen Ufersand, der sich feucht und warm um ihre Füße schmiegte. Ein Flug von Wildgänsen hob sich vor ihnen ans dem hohen Rohr des Borstrandes und stieß hellkreischend zum Inselwerder hinüber. Dann wieder Stille. Nur zuweilen sprang ein Fisch im See, langsam rundeten sich im Wasser weite Kreise. „Wer doch auch so fliegen könnte", sagte Trude, dem Zug der Gänse sehnsüchtig nachschauend, und reckte die schlanken Arme, das ihr die weiten Aermel des Bademantels bis zu den zierlich modellierten Ellenbogen zurückglitten. „Ich hab' heut solch eine Unternehmungslust. Weißt du, Herta, wir fahren wieder einmal nach der Robinsoninsel hinüber." Die kleine Baronin wehrte ängstlich ab. „Aber Trude, in unsern Badeanzügen". Doch da stand die Freundin schon in dem weißen Ruder boot, das sich an der Laufbrücke des Badehäuschens leise im Wasser schaukelte. „Kommst du mit?" fragte sie die Kette lösend. „Sonst fahre ich allein." Noch immer zögernd stieg Herta endlich nach und nahm am Steuer Platz. „Wenn uns jemand sieht . . ." Sie hatte ihren Bademantel abgeworfen und trieb das leichte Boot mit ein paar geschickten Stößen aus der Bucht. Allein die energifche Trude achtete nicht weiter auf ihren Widerspruch. Die Morgensonne rann weich im ihren schlanken, jungen Körper und die festen, runden Arme, die die Riemenstangen so leicht und sicher führten. Es war ganz still über dem See und der Takt der Ruder schläge teilte die tiefe Stille in gleichmäßige Pausen. Allmählich schwand auch Hertas ängstliche Besorgnis. Sie hatte die eine Hand in das blaue Wasser getaucht und schaute nachdenklich in die kleine Kielwelle zurück, die leise murmelnd hinter dem Boote herlief und ihre Gedanken wie in einem silbernen Netze fing. „Ist Fräulein Hansen eigentlich wieder außer Bett?" unterbrach Trude endlich das beschauliche Schweigen und strich sich eine widerspenstige Locke aus der heißen Stirn; sie hatte die Ruder eingezogen und ließ das Boot ein Weilchen mit der Strömung treiben. Herta zuckte die Achseln. „Ich weiß es nicht. Heut' morgen, als ich fortging, schlief sie noch. Vor zehn Uhr vormittags wird das gnädige Fräu lein ja überhaupt niemals sichbar. Bis dahin „macht sic Maske", wie es Dr. Reinwaldt nennt!" Trude lachte, daß ihre weißen Zähne blitzten. „Du wirst dich wohl nie mit Fräulein Hansen befreun den", sagte sie dann. „Und mir geht es ebenso. Zuerst fand ich sie freilich entzückend, wie wir übrigens alle. Und sie ist ja auch ganz gewiß eine ausgesprochene Beautee. Das muß ihr der Neid lassen. Ich werde wohl niemals eine so wunder volle Taille bekommen wie sie", schloß sie, an ihren kräftigen Hüsten betrübt herunterblickend. Mit einer empörten Bewegung richtete sich Herta höher empor, und das ganze Boot schwankte. „Du bist viel hübscher als diese Zigarettenplakatschönheit. Wenigstens nach meinem Geschmack", erwiderte Herta. „Und Dr. Reinwaldt findet das auch. Alles an ihr ist Unnatur. Ihren Toilettentisch solltest du einmal sehen. Wie bei Lohse in der Friedrichsstraße. Nichts als Puder und Schminke Schönheitswasser. Ich begreife nicht, daß meine Schwester das nicht durchschaut, aber sie ist ja ganz, vernarrt in diese Schlange. X Mit einem versonnenen Lächeln sah Trude den kleinen Federwölkchen nach, die wie lichte Gedanken durch das ferne Himmelsblau zogen. „Du hast ein Vorurteil gegen Fräulein Hansen", sagte sie endlich. „Dabei kommt sie dir doch gar nicht zu nahe und ist zu dir wie zu mir immer gleich liebenswürdig." Mit geballter Hand schlug Herta plötzlich auf die Steuer bank. Eine leidenschaftliche Kampfeslust blitzte aus ihren blauen Augen, die in seltsamem Gegensatz zu ihrem sonst so stillen, fast schüchternen Wesen stand. „Sie ist falsch, grundfalsch, und verdreht allen Männern den Kopf. Ich habe solche Angst, daß auch Heinz Jochen, wenn er sie hier einmal kennen lernt, in ihre Netze gerät." Ein schluchzender Laut erstickte ihre Stimme, daß Trud besänftigend einlenkte. (Fortsetzung folgt'