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Wilsdruffer Tageblatt : 22.09.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-09-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192309222
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19230922
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19230922
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-09
- Tag 1923-09-22
-
Monat
1923-09
-
Jahr
1923
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 22.09.1923
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Stücke unter 30 Tagen Laufzeit zahlt die Reichsöanr dem »au» > 'r 45 für Termine von 30 bis 90 Tagen 48 Zinfen; der Suidesibeirag für die Abgabe der kurzen Sichten ist auf 500 ''S üouen Mark, für die mittleren Termine ans 250 Millionen Mar? und für die längeren Laufzeiten aus 400 Millionen Mart festgesetzt worden. 4- Goldzollaufgeld. Für Lie Zeit vom 22. bis 25. September l923 einschließlich beträgt das Goldzollausgeld 3359 999 900 ft Goldzollmark - 33 600 000 Papiermark). * Landabgabe. Der Umrechnungssatz sür Lie Abgabe der andwirtschaftlichen, forstwirtschaftlichen - und gärtnerischen Ve- ricbe (Laudabgabe) beträgt für die Zeit vom 22. bis 25. Scp- ember 1923 einschließlich 33 600 000 für je eine Goldmark. Nah und Zern. O Der Grzteindex. Die Honorarkommission der Ärzte kammer und des Groß-Berliner Ärztebundes hat den Leuerungsindex, nach dem die Gebühren in der Privat praxis berechnet werden, auf 18 Millionen festgesetzt. O Der Zarenmürder in Berlin. Der russische Techniker Jakowlew, der seinerzeit in Jckaterinoslaw die Ermor dung der Zarenfamilie veranlaßt haben soll, weilt seit einiger Zeit in Berlin. Er befindet sich in einer Klinik in ärztlicher Behandlung, da er seit der Morduacht an Wahn vorstellungen leidet. O Schweres Autounglück auf dem Brocken. Am Bahn hof Brocken ist ein mit fünf Personen besetzter vom Gra- fcn Schomberg geführter Kraftwagen verunglückt. Der Wagen wurde vollständig zertrümmert. Der Führer und zwei Personen blieben unverletzt, zwei andere Personen wurden getötet. O Die Feuersbrunst in Nordkalifornien. Nach einer Mel- dung aus San Franzisko stehen alle Wälder der Provinz Sonora in Flammen. Mehrere tausend Personen sind ob- oachlos. Die Feuersbrunst hat Lie Grenzen der Provinz Marin erreicht und mehrere hundert Häuser ergriffen. Die Städte Johannisburg und Bohespring sind den Flammen zum Opfer gefallen. Mehr als ein halbes Dutzend kleinerer Städte ist ebenfalls vernichtet. Tokios Ltniergang. Der erste Bericht eines Augenzeugen. Das in Paris erscheinende japanische Blatt „Mainitschi" veröffentlicht einen ausführlichen Bericht über die Erdbeben katastrophe in Tokio. Dieser erste ausführliche Bericht eines Augenzeugen gibt einen erschütternden Eindruck von der un geheuren Größe des Unglücks. „Der erste Stoß," so kabelt der Tokioter Berichterstatter, „erfolgte am Samstag wenige Minuten vor 12 Uhr mittags. Er war heftig genug, aber denen, die ihm folgten, nicht zu vergleichen. Das Zentrum des Bebens lang in der Nähe der Oshima-Insel, etwa fünfzig Seemeilen südwestlich von Tokio. Nach etwa zehn Stößen schien die Erde sich beruhigt zu haben. Es war leider nur eine Atempause, der ein Stoß von unerhörter Heftigkeit folgte. Die Häuser fielen wie Kartenhäuser zusammen^ und die Wolkenkratzer, die in den letzten Jahren nach amerikanischem Vorbild gebaut worden waren, bildeten nach wenigen Minuten nur noch einen Trüm merhaufen, aus dem die gellenden Schreie der Verschütteten herausklangen. Es war unmöglich, irgendwelche Anord nungen zu treffen, und die Panik nahm immer schrecklichere Formen an. Der kaiserliche Palast erlitt schwere Beschädi gungen, und- von den Geschäftshäusern der zahllosen Handelsgesellschaften, die zum größten Teil ihre Bureau- Häuser nach modernen Methoden hatten bauen lassen, blieben nur noch rauchende Trümmer übrig. Der Kronprinz, der sich im Augenblick der Katastrophe im kaiserlichen Palast befand, wandte sich zunächst zur Flucht, kehrte aber dann wieder um, um nach seinem Palast in Tokio zurückzukehren. Durch das Feuer an dieser Absicht gehindert, mußte er indessen erneut der Hauptstadt den Rücken kehren. Furchtbare Szenen spielten sich in den Staatsbetrieben ab. Hier wurden Hunderte von Arbeitern und Arbeiterin nen unter den Trümmern der Gebäude begraben, die, nach dem sie zusammengcstürzt waren, in Brand gerieten. In Fuji gingen auf diese Weise fünfhundert junge Mädchen unter entsetzlichen Qualen zugrunde. Niemals in meinem Leben werde ich den letzten Anblick vergessen, der sich meinen Anaeu in Tokio bot. Es war am Samstag gegen 3 Uhr nachmittags. Tausende von Personen rannten hin und her, , in oem vergeblichen Bemühen, etne Zuflucht zu finden; - andere suchten unter den Leichenhaufen einen Verwandten, s einen Freund, um dann ihrerseits zu Boden zu stürzen und < eine Beute der heranflutenden Feuerwelle zu werden. In jeder Straße sah man Haufen von Leichen mit verkrampften Händen und aufgedunsenen Gesichtern. Bei dem Fehlen offizieller Nachrichten schossen die unwahrscheinlichsten Be richte wie Pilze aus dem Boden. So verlautete, daß der Ministerpräsident von Koreanern ermordet worden sei. In Wahrheit handelte es sich um einen Unfall, der sich kurz vor Eintritt der Katastrophe ereignet hatte. Während Graf Vamamoto im Marineklub von Tokio weilte, war er von mehreren unbekannten Individuen angegriffen worden, die aber durch das Eingreifen der Begleiter des Grafen rasch überwältigt worden waren. Dagegen bestätigt sich, daß der Ministerpräsident gelegentlich des Deckeneinsturzes im Ver handlungssaal des Marineklubs an der Schulter verwundet worden war, gerade während der Verhandlungen, die der Bildung des neuen Kabinetts galten. Der Kaiser und die Kaiserin sind wie durch ein Wunder f dem Tode entgangen. Das Kaiserpaar befand sich in dem Landhause von Nikko, als der erste Erdstoß erfolgte. Die j Fürstlichkeiten hatten kaum die Schwelle des Haupttors über schritten, als hinter ihnen das Gebäude zusammenstürzte. Der Oberzeremonienmeister des kaiserlichen Haushalts erzählte mir von den Zwischenfällen, die er erlebte, als er sich auf der Suche nach dem Kronprinzen auf dem Wege nach Tokio be- . fand. Er ging zu Fuß und war angesichts der grauenhaften j Szenen, die ihm auf Schritt und Tritt vor Augen traten, r wiederholt nahe daran, wieder umzukehren. Des öfteren , mußte er über Leichenhaufen hinwegklettern, und nur die f Dringlichkeit seines Auftrages konnte ihn veranlassen, seinen - Weg fortZusetzen, ohne daß er Zeit gefunden hätte, sich der Unglücklichen anzunehmen, die ihn flehentlich um Hilfe baten. Eine furchtbare Tragödie spielte sich bei der Eisenbahn station Uyero ab, wo mehrere Tausende von Flüchtlingen ven vergeblichen Versuch machten, in das bis zum Dach ge füllte Stationsgebäude einzudringen. Als ihre verzweifelten Bemühungen ohne Erfolg geblieben, eilten sie in den Park von Uyerö und wurden abends durch die Explosion der Gas leitungen gezwungen, ihre Flucht fortzusetzen. Die Panik, die Ler Explosion folgte, nahm um so größeren Umfang an, als das Feuer auf das Bahnhofsgebäude übergesprungen war. Verzweifelt stoben die Flüchtlinge nach allen Richtun gen auseinander, um den Flammen zu entgehen. Bei dieser wilden Flucht stürzten Frauen und Kinder zu Boden, und bald türmten sich Berge menschlicher Körper auf. die die nach- z dringende Menge zu übersteigen versuchte, während gellende Schreie der zu Tode getrampelten Frauen und Kinder die Luft erfüllten. Unter den in Tokio vom Feuer zerstörten Gebäuden sind die Nationalbank, das Kaiserliche Museum, die Universität ! Meist, die Militärschule, ein Teil des Kriegsministeriums, die , Gebäude der Botschaften von Frankreich und Italien, dis i Theater Juroku Kaduki und Kwannon-Tempel, die Resi- j denzen der Prinzen Highashi und Fushimi zu erwähnen. Der j größte Teil dieser Gebäude lag im Herzen der Stadt, im j Kojumachi-Viertel. Das Erdbeben hat weiterhin alle Bahn- j Höfe mit Ausnahme des Zentralbahnhofs zerstört. Ver- ' schont blieb dagegen das Gebäude des Hauptpostamts, doch waren alle telegraphischen und telephonischen Leitungen unterbrochen. Die Ginzastraße, die für Tokio das ist, was Piccadilly für London, bildet nur noch einen Haufen rauchender Trümmer. Stark mitgenommen ist unter den Vierteln der Hauptstadt besonders der Kanota-Stadtteil im ! Nordosten der Stadt, der als Sitz der Universität und der i höheren Schulen als das lateinische Viertel von Tokio be- s zeichnet werden kann. W. I. Kirchennachrichten. — 17 Sonntag n. Tr. Predigttext: Apostelgesch. 17, 16—31. i Kollekte sür den Zentralausschuß für Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche. Wilsdruff. Vorm. 9 Uhr Predigtgottesdienst. — Uhr Thristen- i lehre für die konf. männl. Jugend. — Nachm. 2 Uhr Tauf gottesdienst. — Abends 6 Uhr Jungmännerverein (Jugendheim). Dienstag den 25. September, nachm. 5—6 Uhr Choral- ! singen (Konsirmandensaal). Mittwoch den 26. September, abends 6 Uhr Iungmänner- ' verein. 1 Grumbach. Vorm, tt-9 Uhr Predigt,gottesdiensf, — 16 Uhr Unter- i redung mit der konf. Jugend. Keffelsdorf. Vorm. 9 Uhr Predigtgottesdienst (Pf. Heber). — Nachm. 2 Uhr Taufen. Sora. Vorm, ft-9 Uhr Hauptgvttesdienst. — 10 Uhr Kindergotter- : dienst Klasse 2. Rvhrsdorf. Vorm. '/-9 Uhr Predigtgottesdienst. Limbach. Vorm. 0-9 Uhr Predigtgottesdienst, darnach Kindergotter- ! dienst (5. bis 8. Schuljahr). Blankenstein. Vorm? '/-9 Uhr Predigtgottesdienst. — 10 Uhr Kinder- § gottesdienst. MrllcksttslchliMel. 1 Goldmark nach Berliner Briefkurs . 43441667 Papürmmk nach Neuyoiker Markkurs 27 380 952 Papiermark ! Reichsbankdiskont monail. 7'/,»/o, fährt. 90°/» Reichsbanklombard ..... 10»/» jährlich Goldankanfspreis . . 640 Dollar p. Kllogr. Silderankansspreis ..... 5500000 Goldzollausgeld 2179999 900°/« Reichsindex 14244900 (Steigerung 182,0°/,) i Großhandelsindex . . 36000000 j (Steigerung 212.8°/,) Landabgabe ........ 21800000 Aerzteindex 6500000 Arzneitaxe .' . . . 183000 Bäder-Schlüssel 15000000 Buchhandels-Schlüssel 30000000 Eisenbahn-Personenverkehr . . 9000000 Grundzahl für 1 Kilometer in der l. Klasse 19,8, 2. Klasse 9,9, 3 Klasse 3,5, 4. Klasse 2,2 H ! Eisenbahn-Güterverkehr... 18 000 000 Fernsprechschlüfsel 500000 Dresdner Schlachtviehmarkt vom 20. Sept. Austrieb: 1. Rinder: — Ochsen, 1 Bulle, 3 Kolben und ' Kühe, 91 Kälber, — Schafe, 16 Schweine. Preise in Mark ! für hzkgfürLebend-u. (im Durchschn ) für Schlachtgewicht. Ochsen: , 1. vollfleischige, ausgemästete höchsten Schlachkwertes bis zu 6 Jahren 9,5 bis 9,5 Mill. (17272727), 2. junge fleischige, nicht aus gemästete, ältere ausgemästete 8 bis 8 Mill.(153^46l5), 3. mäßig genährte junge, gut genährte ältere 7 bis 7 (14893 617), 4. gering genährte jeden Alters 6 bis 6 (15 Millionen). Bullen: 1. vollfleischige, ausgewachsene höchsten Schlachtwertes 13 bis 13 (22413860), 2. vollfleischige jüngere 8 bis 8 (14545454), 3. mäßig genährte jüngere und gut genährte ältere 7 bis 7 (13461538). 4. gering genährte 6 bis 6 (13333 333). Kalben: und Kühe: 1. vollfleischige, ausgemästete Kalben höchsten Schlacht wertes — bis — ( ). 2., vollfleischige, ausgemästete Kühe höchsten Schiachtwertes . bis zu 7 Jahren 11 bis 11 (21113850). 3. ältere ausgemästete Kühe und gut entwickelte jüngere Kühe und Kalben 9,5 bis 9,5 (21111100) 4. gut genährte Kühe und mäßig genährte Kalben 6 bis 6 (15000000,), 5. mäßig und gering genährte Kühe und gering genährte Kalben — bis — — — — — Kälber: I, Doppellender —- bis — — ( ), 2. beste Mast- und Saugkälber 15 bis 15 Mill. (24195195), 3. mittlere Mast- und gute Saugkälber 13 bis 13 Mill. (20106000), 4. geringe Kälber 10 bis 10 Millionen (18181181). Schafe:!. Mastlämmer und jüngere Masthammei 9,5 bis 9,5 Mill. (19 Mill ), 2. ältere Masthammel 7,5 bis 7.5 Mill. (16666666), 3. mäßig genährte Hammel u. Schafe (Merz- schafe) 5 bis 5 Millionen (13157895). Schweine. 1. vollflehchige der feineren Rassen und deren Kreuzungen im Alter bis 1 Vs Jahr 25 bis 25 Mill. (34722222), 2. Fettschweine 28 bis 28 Mill. (35 Mill.), 3. fleischige 23 bis 23 Mill. (3:1666666), 4. gering ent wickelte b. .( ), 5. Sauen und Eber — bis — (—,— Mill.) Ausnahmepreise, über Notiz. Die Preise sind Markt preise für nüchternes Gewicht der Tiere und schließen sämtliche Spesen des Handels ab Stall, Frachteen Markl- und Verkaufs kosten, Umsatzsteuer sowie den natürlichen Gewichtsverlust ein, er heben sich allewesentlich über die Stallpreisc. Uebebstand: -- Ochsen ° Flammen. Roman von Hans Schulze. Dann aber knüllte sie das dumme Blatt auf einmal wie der krampfhaft zusammen und schaute sinnend auf die alter tümliche Porzellanuhr, die unter dem wimmelnden Völkchen der Meißener Schäferinnen auf dem obersten Absatz der Schreibtischetagere stand und jetzt mit zwölf kurzen, klingen den Schlägen die schwüle Luft des Zimmers durchschnitt. Leo von Alsleben! Warum war er nach Pahlowitz gekommen? Hatte er gewußt, daß er sie hier treffen würde, oder hatte ein tückischer Zufall diese Begegnung herbeigeführt? Ein harter Zug trat plötzlich in das Gesicht des schönen Mädchens. Unwillkürlich holte sie tief Atem. Ihr war's auf einmal, als fühle sie an ihrem Halse wie der die Faust eines sinnlos erregten Mannes, wie damals vor vier Jahren, als sie sich zum letzten Male gegenüber- gestanden hatten, Todfeindschaft im Blick. Die ganze Nacht hindurch hatten sie die Augen dieses Mannes verfolgt, von dem sie sich durch ein Weltmeer ge trennt glaubte, und der am vergangenen Abend rwe aus dem Boden gewachsen vor ihr gestanden hatt:. Diese Augen, die so kalt und erbarmungslos zu blicken wußten, in denen sie es auch gestern wieder erschauernd ge lesen hatte, daß es zwischen ihnen keinen Frieden mehr auf Erden geben konnte, daß einer von ihnen das Feld räumen mußte, wenn sie nicht beide zugrunde gehen sollten. Wer würde der Stärkere sein? Mit einer trotzigen Bewegung warf Hella den Kopf zu rück und reckte den gertenschlanken Körper, den der dünne blauseidene Kimono in fließenden Linien nachzeichnete. Dann sprang sie auf einmal auf und eilte wieder vor den Toilettenspiegel ihres Schlafzimmers, als ob ihr der Anblick ihres eigenen Selbst Mut und Vertrauen zurückgcben könnte. In vollendeter Harmonie klang der Gesamteindruck ihrer berückenden Erscheinung zusammen. Das zarte Oval des feinen Gesichtes, von der Erregung des Augenblicks rosig getönt, das leuchtende Gold des Haares, das so wundersam zusammenklang mit dem schimmernden Türkisblau der Augen, und dann der Mund in seiner üppig geschwungenen Linie, wie ein Kindermund, süß und weich, und doch so heiß vom Kuß der Männer. Ihre sieghafte Schönheit, das war das einzige, was sie in die Wägschale der Entscheidung zu werfen hatte. Sie hatte schon so viele Herzen bezwungen. Vielleicht, daß sie mit ihr auch in diesem letzten Kampfe Sieger blieb. Als Hella in der fünften Stunde aus ihrem Schlafzim mer endlich wieder nach dem Speisesaal herabkam, hatten sich die Kaffeegäste des Nachmittags an der großen Tafel unter den Blutbuchen bereits vollzählig eingefunden. Als erste waren mit gewohnter Pünktlichkeit Pastor Hagedorns erschienen, die von altersher an jedem zweiten Sonntag im Monat zum Kaffee ins Schloß geladen waren und während der langen Abwesenheit der Baronin „ihren" Sonntag mit dem ausgezeichneten Kaffee und Kuchen schon längst schmerzlich vermißt hatten. Herr Pastor Hagedorn, ein wohlkonservierter Fünfziger in einem ungemein sorgfältig gebürsteten Bratenrock, galt als ein tüchtiger Kanzelredner, den nur seine leidenschaftliche Liebe für die Bienenzucht in die Einsamkeit der abgelegenen Dorfgemeinde bannte, während seine schöngeistig angelegte Gattin mit unverstandener Seele in die Weite der großen Welt strebte, die sie auf häufigen Reisen nach dem nahen Frankfurt an der Oder vorzutüuschen suchte. Sie war bei dem einzigen Buchhändler des Städtchens Wartenberg auf dessen verstaubte Leihbibliothek und einen Zirkel guter Familienblätter abonniert, versuchte sich selbst gelegentlich in gefühlvollen Gedichten für die Wartenberger Kreiszeitung und betonte ihre Beziehungen zur Moderne durch talarartige Eigenkleider in viel zu jugendlichen Far ben, die eine Frankfurter Schneiderin nach allerlei geheim nisvollen Maßanweisungen für sie anfertigen mußte. Herr von Alsleben, den sie instinktiv vom Hauch jener großen Welt umwittert fühlte, der ihre heimliche Sehnsucht gehörte, war denn auch sogleich ihrem Sensationsbedürfnis zum Opfer gefallen und zürn Gegenstand eines peinlich ge nauen Verhörs über Name und Art gemacht worden, bis ihm die Ankunft der Reckthinschen Herrschaften endlich die Möglichkeit bot, sich der Blockade, der „heiligen Familie", durch eine geschickte Schwenkung auf einen mehr neutralen Stuhl zu entziehen und seinen Eckplatz auf dem Ehrensofa der Freifrau von Reckenthin zu überlassen. Im Gegensatz zu der strichmagcren Pfarrersgattin, auf deren steilabfallenden Schultern sich ein neugieriger Vogels kopf in einer ständigen radförmigen Drehung befand, war Frau von Reckenthin eine hochbusige, umfangreiche Dame mit einem stattlichen Schnurrbart auf der gebieterisch aufgeworfe nen Oberlippe, „der alte Blücher", wie sie ihres derb zugrei fenden, energischen Wesens halber im Umkreis von zehn Meilen allgemein genannt wurde. Man erzählte sich, daß sie auf ihrem fast 6000 Morgen großen Dominium Schönwalde ein unumschränktes, selbst herrliches Regiment führe und das übrigens musterhaft ver waltete Gut von ihrem Gemahl bis zum kleinsten Hütejungen hinab gleichmäßig vor ihrem Kommando zittere. Besagter Gemahl, ein stelzbeiniger, kleiner Herr mit einer vergnügten Rotweinnase in dem verwitterten Lebe mannsgesicht, der in seiner Jugend als der größte Schürzen jäger des ganzen Kreises bekannt gewesen war und in dieser Beziehung von seiner majestätischen Ehehälfte auch jetzt noch mit einer gewissen mitleidigen Nachsicht behandelt wurde, saß zur Seite der Hausfrau und führte mit ihr ein anscheinend sehr interessantes Gespräch über den Stand der Winterung in Pahlowitz, während er mit seinen verkniffenen, wasser blauen Äugelchen heimlich zum Springbrunnenrondell des Parkes hinüberschielte, von wo sich Hellas weißes Kleid wie ein wandelnder Sonnenfleck langsam dem Schattendach der Rot buchen näherte. Die Kunde von der schönen Gesellschaftsdame, die sich die Baronin Löhna von ihrer italienischen Reise mitgebracht habe, war natürlich schon längst auch nach Schönwalde ge drungen und nur ein verspäteter Gichtanfall hatte den alten Herrn bisher verhindert, sich durch einen gelegentlichen Früh- stücksbesuch persönlich von der Wahrheit des angenehmen Ge rüchts zu überzeugen. So hatte er denn der Absicht seiner Gattin, am Nachmit tag zu einer Kaffeevisite nach Pahlowitz hinüberzufahren, mit unverhohlener Befriedigung zugestimmt und nur ein Wer mutstropfen war dadurch in den Becher seiner hochgespannten Erwartungeft gefallen, daß seine beiden Söhne am Morgen unvermutet aus ihrer Züllichauer Garnison zu einem kurzen Urlaub nach Hause gekommen waren. Vorläufig faßte er allerdings die Konkurrenz seiner blon den Enakskinder, die den Vater fast um anderthalb Hauptes längen überragten, nicht allzu tragisch auf. (Fortsetzung folgt.'
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