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Wilsdruffer Tageblatt : 22.03.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-03-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192303229
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19230322
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19230322
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-03
- Tag 1923-03-22
-
Monat
1923-03
-
Jahr
1923
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 22.03.1923
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Chronik der Gewalttaten. — In München-Gladbach wurden ebenso wie in Rheydt bei der Auszahlstelle für die Erwerbslosenunter stützung die dort bereitgehaltenen Unterstützungsgelder in Höhe von 1v Millionen Mark durch mehrere belgische Kriminalbeamte beschlagnahmt. Bei der Neichsbankstelle M.-Gladbach sind im Zusammenhänge hiermit 68 Millio nen Mark beschlagnahmt worden. — In Essen wurden außer den bereits gemeldeten Bankdirektoren noch einige weitere Vankdirektoren als Geiseln verhaftet. Der Reichstagsabgeordnete Dr. Quaatz ist wieder freigelassen worden. — Zwischen Düsseldorf und Duisburg ist eine Schienensprengung erfolgt, die den Betrieb auf 3 bis 4 Tage stillgelegt hat. Die Belgier haben daraufhin drei Geiseln festgenommen und mit ihrer Erschießung gedroht, wenn derartige Fälle sich wiederholen sollten. — In Trier besetzten die Franzosen die DomSnenvcr- waltung. Lkonomierat Erhart wurde verhaftet. Das Per- sonal^ourde aus den Bureaus verjagt. Die Gelder der Verwaltung und die Einkünfte wurden gesperrt. TheaierbranS in Wiesbaden. Eines der schönsten Theater Deutschlands vernichtet. Das Wiesbadener Staatstheater ist in der Nacht vom 18. zum 19. März fast vollständig niederge brannt. Das Feuer begann kurz nach der Beendigung der Vorstellung. Aus verschiedenen Fenstern des Hauses schlugen sofort turmhohe Flammen zum Nachthimmel auf, und die Feuerwehr stand dem verheerenden Element gegen über so gut wie machtlos da. Mehrere Kompagnien fran zösischer Soldaten sperrten die Brandstätte in weitem Um kreise ab. Innerhalb unglaublich kurzer Zeit hatten die Flammen den ganzen Zuschauerraum sowie dis Bühne und das Kulissenhaus ergriffen, und mit ungeheurem Ge töse stürzte die große Kuppel über dem Zuschauerraum tn sich zusammen. Verluste an Menschenleben sind nicht zu beklagen. poliilsche Rundschau. Deutsches Reich Eine Flugschrift der Regierung. Nach einer nichtamtlichen Blättermeldung verlautet, daß die Neichsregierung demnächst eine Flugschrift zur Aufklärung der öffentlichen Meinung des Auslandes ver öffentlichen will. Diese enthält Tatsachen und Zahlen zur Beurteilung der Leistungs- und Zahlungsfähigkeit Deutsch lands. Ferner werden die Wirkungen der Gebietsabtretun gen, der Sach- und Barleistungen auf die deutsche Volks wirtschaft dargelegt. Die im Ausland vielfach verbreitete Meinung, daß in Deutschland immer noch Luxus und Wohlhabenheit herrsche, wird in erschütternden Angaben über die Not des größten Teiles der Bevölkerung lands. Ferner werden die Wirkungen der Gebietsabtretun- widerlegt. Die Denkschrift bringt den Nachweis, daß so wohl für Deutschland wie für die Weltwirtschaft eine end gültige und vernünftige Lösung des Neparationsproblems eine Notwendigkeit ist. Ermäßigungen der Eisenbahnfrachten für Holz. Der Reichsverkchrsminister hat den Ausschuß des Reichseisenbahnrates und den Reichseisenbahnrat zu einer allgemeinen Besprechung über Tarifsragen einge laden. Es handelt sich im wesentlichen um eine Beratung über Vorlagen der Neichsbahnverwaltung über Fracht ermäßigungen für Schnittholz von Ostpreußen und Ober- schlesien und über die Einführung von Wasserumschlag- tarifen. Mordanschlag auf Smeets. Der berüchtigte rheinische Sonderbündler Smeets ist in Köln durch einen Kopfschuß schwer verletzt wor den, sein Sekretär ist tot. Eine bisher unbekannte Person hat die Schüsse in Smeets' Bureau abgefeuert. Die Ärzte hoffen, Smeets am Leben zu erhalten. Auf die Ermittelung und Ergreifung des Täters hat der Kölner Regierungs präsident eine Belohnung von einer Million Mark ausge setzt. Als Täter kommt ein junger Mensch in Betracht, der einen heruntergekommenen Eindruck machte und etwa 27 Jahre alt ist. Abg. Hoellcin in Paris verhaftet. Der kommunistische Reichstagsabgeorduete Hoei- leiu, der sich ohne Paß nach Paris begeben hatte, um dort an einer Pr o testku n d g eö u ng der Pariser Kom munisten gegen die Ruhrbesetzung teilzunehmen, wurde von der Polizei fest g e n o m men. Er soll von den Franzosen wegen Vergehens gegen die Sicherheit des Staates angeklagt werden, und zwar, weil er in seiner Rede sagte, die Franzosen würden die Kosten des Nuhr- abenteuers bezahlen müssen. Deutscher Reichstag. (322. Sitzung.) 6S. Berlin. 20. März. Die Eröffnung der Sitzung war ungewöhnlich. Präsident Löbe hielt sofort nach Beginn eine von den Abgeordneten stehend angehörte Ansprache. Von den Franzosen verhaftete Abgeordnete. Präsident Löbe führte aus: In der Kette der Gewalt taten, die von den gewaltsam ins Ruhrgebiet eingedrungenen französischen und belgischen Militärs verübt werden, ist nach der Ausweisung des Abg. Korell wiederum rechtswidrig Hand an einen Abgeordneten gelegt worden. Der Abgeordnete Qua atz ist als Geisel verhaftet und ins Zuchthaus geschafft worden, wo noch 244 Deutsche unter den unwürdigsten, gesund heitsschädlichen Zuständen untergebracht sind. (Lebhafte Pfm- rufe.) Der Minister des Auswärtigen hat aus meinen Wunsch sofort einen energischen Protest an die französische Re gierung gerichtet und die sofortige Freilassung der Gefangenen verlangt. (Beifall.) Gestern abend ist der Abg. Qnaatz ent lassen worden, angeblich, weil er für die Geschäftsführung der Essener Handelskammer nicht verantwortlich war. Seine Lcidensgenossm sind noch festgehalten und der Protest ist für sie aufrecht erhalten worden. (Beifall.) Im anderen Zufammen- hange ist in Paris der Abg. Höll ein festgenommen worden. Das Auswärtige Amt hat den deutschen Geschäftsträger beauf tragt, an die französische Regierung eine Anfrage wegen dieser Verhaftung zu richten. Hoffentlich ist in Frankreich niemand, der sich einbildet, daß die Entschlüsse dieses Parlaments be einflußt werden könnten, wenn Abgeordnete dieses Hauses die selben Leiden erdulden wie unsere Volksgenossen an der Ruhr und am Rhein. (Beifall.) Unsere Abgeordneten werden solche Kränkungen und Mißhelligkeiten als eine Ehre, aber nicht als eine Schändung betrachten. (Lebhafter Beifall.) Heute sind zwei Jahre Vergnügen seit der Abstimmung in Oberschlcficn, die ein so kräftiges Bekenntnis zum deutschen Volke erbrachte. Dieses Bekenntnis ist zwar durch die spätere Entscheidung über Oberschlesien vergewaltigt worden. Aber gerade wegen unserer gegeirwärtigen Bedrängnis gedenken Wir heute mu Stolz dieser Bekundung der Treue zur deutschen Nation und senden den bedrängten Brüdern unsere Grüße. (Lebhafter Beifall.) Die ElbschifsahrtSaltc, der internationale Vertrag zwischen Deutschland, Frankreich, Belgien, Groß-Britannien, Italien und der Tschechoslowakei, stand zur ersten Beratung. Abg. Hergt (Deutschnatl.) erklärte, seine Freunde hielten es in der gegenwärtigen Lage nicht für angängig, diesen Ver- tragsabschluß mit Frankreich zu ratifizieren. Sie würden des- gunmen. Warauf wurde der Vertrag gegen die Rechte in 1. und 2. Lesung angenommen. Die sofortige Vor nahme der 3. Lesung scheiterte an dem Widerspruch der Rechten. Weiter wurde das Gesetz über die Erhöhung der Unterstützungen für Sozialrentner in 3. Lesung end gültig ohne Debatte angenommen, die Verlängerung der Gettungsvaner von Demovtlmachungsveroro- nungen bis zum 31. Oktober d. Js. in allen 3 Lesungen be schlossen. Nun kam man znr Fortsetzung der 2. Beratung des Reichshaushalts, und zwar begann man mit Lem Haushalt des Neichspostministerlutns. Im Bericht des Ausschusses stellte Abg. Dictrich-Badeu (Dem.) fest, daß die Reichspostverwaltung einen Zuschuß von 1524 Mil liarden erfordert. Der Ausschuß halte diesen Zustand für eine Katastrophe, der ein Ende gemacht weiden müsse. Reichspostminister Stingl würdigte zunächst die Verdienste seines Vorgängers Giesberts um den Wiederaufbau der durch den Krieg zerrütteten Postverwaltung. Dieser Dank ge bühre auch dem Personal der Verwaltung. Die Versuche der Franzosen und Belgier an der Ruhr und am Rhein, den Telegraphenverkehr in ihre Hand zu bekommen, seien an dem einmütigen, entschlossenen Widerstande der Beamten und Arbeiter gescheitert. (Beifall.) Für diese Bekundung vater ländischer Pflichttreue sind über 200 Beamte und Arbeiter bestraft, 131 ausgewiesen worden. (Hört, hört!) Wir danken allen unseren Beamten und Arbeitern im besetzten Gebiet für ihre vorbildliche Trene zum Vaterlande. (Beifall.) Das Er- gübnis des französisch-belgischen Vorgehens ist eine leichtfertige Störung und teilweise Unterbindung des Post-, Telegraphen- und Fernsprechverkehrs nicht nur nach dem Inlands, sondern auch nach dem Auslände. Wir bemühen uns, diese die ganze Kulturwelt schädigenden Folgen nach Möglichkeit durch Umleitung auszugleichen. Weiter sorgt die Verwaltung nach Möglichkeit dafür, daß den ausge wiesenen Beamten wenigstens wirtschaftliche Schädigungen er- spart werden. Zur Tarifpolitik, zu den Beamten- und Besol dungsfragen verwies der Minister auf seiue im Hauptausschuß abgegebenen Mitteilungen. Zum Schluß erklärte er, das Reichsflugwesen hat sich zu einer ^wertvollen Ergänzung beS Telezraphcnverkehrs entwickelt nnd bietet große Möglichkeiten sür den internationalen Verreür. , Abg. TauSadcl (Soz.) warnte vor einer Überspannung der Posttarife.' Zu hohe Portosätze würden am Ende auch das Zeitungsgewcrbe durch die Verteuerung des Zeitungsversandes gefährden. Eine üble Begleiterscheinung der Portoerhöhung sei die Tatsache, daß sogar viele Reichsverwaltungen ihren Verkehr unter Umgehung der Post abwickeln. Das aber sei ein unhaltbarer Zustand, wenn eine Verwaltung die andere boy-« kottiere. Schließlich wandte sich der Redner gegen die Ent lassung weiblicher Beamtinnen wegen unehelicher Mutterschaft. Abg. Allekofte (Zentr.) erklärte, eine Wiederherstellung der Ertragsfähigkeit der Post müsse sich in absehbarer Zeit erreichen lassen, wenn die geeigneten Mittel dazu angewandt werden. 70 A der Hilfskräfte könnten entlassen und wieder in die Berufe zurückgeschickt werden, aus denen sie seinerzeit geholt wurden, vor allem in die Landwirtschaft. Auf diese Weise könnten jähr lich 316 Milliarden erspart werden. Dann verlangte der Redner eine Neureglung der Beförderungsverhältnisse, die bei der Post weit ungünstiger als bei anderen Verwaltungen seien. Abg. Bruhn (Deutschnatl.) warnte ebenfalls vor sprung haften Tariferhöhungen. Im übrigen könne man gegenwärtig von der Post nicht verlangen, daß sie das einbringe, was sie koste. Abg. Morath (D. Volksp.) beschäftigte sich eingehend mit Beamtenkraaen. Neueste Meldungen. Lk. EUNV an vte Oberschlesier. Berlin. Reichskanzler Dr. Cuno empfing bei -er Wiederkehr des oberschlesischen Abstimmungstages vor zwei Jahren den oberschlesischen Hilssbund. Der Vorsitzende, Neichstagsabgeordneter Ulitzka, versicherte in einer An sprache dem Kanzler der unentwegten Treue Oberschlesiens zum deutschen Vaterlande. Der Reichskanzler antwortete, daß der ganze deutsche Osten in dem Emvkana ein Zeichen oes Geoemens und der unverändertenFür sorge der Reichsregierung erblicken möge. Der Reichs kanzler gedachte dabei insbesondere auch der deutschen Be völkerung in Ostpreußen und im Memelland. Das HeiraLsjahf. W^LustspiesMoman U zwölf Kapiteln. 'Von F e d o r o. Z o L e l t i tz. (14 Fortsetzung) (Nachdruck verboten.) Freese suchte seine Bücher hervor; er wollte arbeiten. Doch die sorgenden Gedanken waren stärker als seine Arbeitskraft. Die griechischen Buchstaben begannen vor seinen Augen zu tanzen, sich in Reigen zu schlingen und dann in tollem Cancan über die Seite zu springen, herauf und hinab, querüber und wieder zurück. Nein — es war unmöglich; mit ruheloser Seele läßt sich nicht studieren! Der junge Mann schleuderte das Büch ärgerlich vom Tische. Verdammte Bücher — verdammte Gelehrsamkeit! Warum war er nicht Tischler geworden, Maurer, Dachdecker, Schuster? D i e Leute brauchten wenigstens nickst zu verhungern — und bei Gott, i h m drohte der Hunger! Natürlich — wenn seine letzten paar Mark aufgezehrt waren, dann kam der Hunger an die Reihe! Er streckte sich der Länge nach auf dem Sofa aus und zog den Schlafrock über die Beine. Das war die Stellung, in der er zu überlegen pflegte. Zum Teufel — war das denn nicht alles Unsinn? Am Ausgang des neunzehnten Jahr hunderts verhungert man nicht mehr. Man mußte ihm Helsen. Aber wer? — Frau Möhring hatte sich dazu erboten. Nein — lieber schon hungern, als zum Almofenempfänger herabzu- sinken! Gab es denn nichts mehr zum Versetzen? Ja — ein Wettobjekt, das schon längst auf die Pfandleihe wartete, besaß er noch: seine silberne Taschenuhr. Er hatte sie zur Konfir mation bekommen; der Vater mochte lange genug gespart und gedarbt haben, ehe er sie hatte bezahlen können. Dieser un glückselige, liebe, gute, närrische Väter! Er war Kantor in Nieder-Dittersdorf gewesen, einem Dorfe im Kreise Belzig. Soin liebendes Vaterherz wollte den einzigen Sohn aus der tristen Einförmigkeit des Dorslebens, in dem er selber ausgewachsen, herausheben; sein Franz sollte dermaleinst mehr erreichen als er. Und da der Junge fleißig war und ihm die verstorbene Mutter zudem noch ein kleines Kapital hinterlassen hatte, so schien sich auch olles von selbst machen zu wollen. Aber das Kapital war gering, und um es zu vergrößern, kam der Alte auf Anraten eines Bekannten, des dicken Neumüllers vom Wasserhof, auf die unglückselige Idee, sich Spekulationspapiere zu kaufen. Er verlor das Geld seines Sohnes, und eines Morgens fand man ihn tot im Bette. Die Gewissensbisse hat ten ihn in das Grab gebracht. In diesem Augenblick, da Freese so lebhaft an den Baier dachte, sah er ihn förmlich leibhaftig vor sich. In dem grau braunen, eingetrockneten, eigentümlich gestalteten Gesicht prägte -ich immer ein Zua leidensvoller Enffacmna aus. der sich in zwei tiefen Linien zwischen der knochigen Nase und dem Munde markierte. Man konnte sich fürchten vor diesem hageren Greise, der sich niemals in seinem langen Leben satt gegessen zu haben schien- Um seinem Jungen eine gute Erziehung zuteil werden lassen zu können, hatte er sich die Butter auf dem Brote versagt und zum Mittagessen dünnen Kaffee getrunken. Die Hoffnung, Franz einmal als „vr. xKU." und wohlbestallten Oberlehrer an seine Brust schließen zu dürfen, hatte ihm die Entsagung leicht werden lassen. Und Nun hatte der Moloch Spekulation mit einem Schlage alle seine Hoffnungen zertrüm mert; der Alte starb, weil er an die Grenze seiner Entsagungs kraft gelangt war. . . Höher und höher klomm die Sonne. Es wurde stickig heiß in der kleinen Mansarde. Franz war untätig auf dem Sofa liefen geblieben. Es war, als sei seine Arbeitsamkeit ganz plötzlich lahmgelegt worden. Die Sorgen hatten ihn in den letz ten Nächten schlecht schlafen lassen; nun plötzlich überkam ihn im heißen Sonnenschein und in der dumpfen Lust des Stüb chens eine unwiderstehliche Müdigkeit. Er schloß die Augen und schlummerte ein. Als er wieder erwachte, verspürte er einen grimmigen Hunger. Er sah auf die Uhr; es ging auf Eins. Seufzend erhob er sich, setzte sich aber sofort wieder, ganz be herrscht von seiner Unentschlossenheit, auf das Sofa zurück. „Mich hungert/ sagte er zu sich selbst. „Wenn ich nun tapfer wäre, würde ich dies ekelhafte Gefühl zu bekämpfen ver suchen. Ich könnte eine Probe machen, wie weit meine Courage reicht. Ich könnte wenigstens einmal einen Tag lang hungern- Aber Er sprang wieder aus- Was Teusel — dazu hotte er immer noch Zeit, wenn erst der letzte Groschen vertan war! Vielleicht kam ihm beim Glase Bier ein rettender Gedanke! Er wollte auch noch einmal auf der Expedition des Tageblattes Nach fragen, ob nicht doch noch ein Brief für ihn eingetroffen sei , . Als er über den Korridor schritt, sah er die Tür zu der gegen überliegenden Küche halb osten stehen. Dott stand die Möh ring, plättete ihre Hemdkragen und dachte dabei an den Undank der Welt. „Ich gehe zum Mittagessen, Frau Möhring," ries Freese in die Küche hinein, „bin aber gegen Drei wieder zurück, falls jemand nach mir fragen sollte!" „Es wird ja woll keiner," erwiderte die Möhring, und ihre Plätteisen klapperten heftig. Die Tür fiel zu. Franz stieg die Treppe hinab, von der längst der letzte Rest der Anstrichfarbe gewichen war. Eine. ewige leichte' Staubschicht rieselte durch diesen tiefen, durch schmal längliche Fenster erleuchteten Treppenschacht. Das Haus, in dem der Kandidat wohnte, zählte an sechzig Parteien, nur arme Leute, die ihrerseits dies oder jenes Zimmer wieder an Aster mieter vergaben oder als „Schlafstelle" ausnutzten, so daß das ganze Gebäude mit seinen Ouerslügeln und dem Hinterbau von fast zweihundert Menschen bewohnt wurde. Es glich einem kolossalen Ameisenbär: ftm, zumal am frühen Morgen, wenn die meisten der Insassen an ihre Arbeit gingen, oder in den Abend stunden, wenn sie noch vollbrachtem Tagewerk wieder heim kehrten. Und immer war der Hof von einem lärmenden Kinder schwarm erfüllt, der hinter dem Müllkasten Verstecken spielte und das zum Auskloofen der Teppiche errichtete Gerüst für seine Turnkunststückchen benützte. Franz bog in eine Seitenstraße ein, in welcher die kleine Gast wirtschaft lag, in der er gewöhnlich zu speisen pflegte. Cs war dies ein sehr sauber und freundlich gehaltenes Ksllerlokal. Der Fußboden war mit weißem Sande bestreut; auf jedem Tische lag statt des Tafeltuchs eine schwarz-weiß gemusterte Wachs- tuchdecke und auf den Tellern fah man Papierservietten mit einem Sülleben in einer Ecke und der Umschrift „Wilhelm Gruhle, Mittagstisch L 50 Pfennig. Elsasserstraße 102." Herr Gruhle selbst stand in respektgebietender Breite und Rundung hinter dem niedrigen Buffett mit seinen zahllosen Glasglocken, die belegte Butterbrote, Wiener Würstchen, Rollmöpse, Heringe und dergleichen mehr bedeckten. Freese schaute sich beim Eintritt um, ob er noch einen leeren Tisch finden könne; er war in seiner jetzigen bedrängten Lage ziemlich gesellschaftsscheu geworden. Das Lokal war aber fast bis aus den letzte,: Platz gefüllt und durchaus nicht mit schlechter Gesellschaft. Den Haupttsil der Besucher stellte, wie es schien, die kleinere Kaufmarmswett; die meisten der Anwesenden waren wohl Kommis aus den benachbarten Goschästen; auch einige arme Studenten, die der „billige Mittagstisch" anlockte, mochten darunter sein. Da Franz keinen gänzlich freien Tisch fand, so nahm er un weit des Vüffeits an dem am wenigsten besetzten Platz. Nur ein einziger Gast hatte sich dort niedergelassen, ein junger Mensch, dessen weltfveudigss Gesicht Freese schon öfters bei Vater Gruhle gesehen zu haben vermeinte. Es war in der Tat ein Ziemlich auffälliges Gesicht für unser pessimistisches Zeit- alter: rund und rosig, mit einer vergnüglich ausgestülpten, wahr haften Regennass, ohne erkennbares Nasenbein, über die ein paar eigentümlich ernste Augen unendlich verwundert über solche unpassende Nachbarschaft in die Wett schauten- Der fcinlippige, durch keinen Bart verdeckte Mund Wen den Augen recht zu geben, während das Kinn, rund wie eine Apfelsine und mit neckiWn Grübchen, sich mehr zu der Nase hielt- So kam es, daß jeder, der den jungen Mann mit dem unlogischen Gesicht iah, zuerst freundlich schmunzelte und dann säst erschreckt zuriickfuhr, wenn er den tiefernsten Blick aufgefangen hatte. Gewissermaßen als Ausgleich hatte der Besitzer dieses wider spruchsvollen Antlitzes es sich angewöhnt, möglichst freundlich mit seinen elegischen Augen zu zwinkern und dabei den Zeige finger wie dozierend und gleichsam die Nase verlängernd an diese zu leaen . . . (Fortsetzung folgt.)
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