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Wilsdruffer Tageblatt : 08.03.1923
- Erscheinungsdatum
- 1923-03-08
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192303085
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19230308
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19230308
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Saxonica
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1923
-
Monat
1923-03
- Tag 1923-03-08
-
Monat
1923-03
-
Jahr
1923
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 08.03.1923
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Die Rede des Reichskanzlers. Dr. Cunos Rede. Außerordentliche Sitzungdes Reichstages. 08. Berlin, 6. März. Die für heute anberaumte außerordentliche Sitzung begann wenige Minuten nach 5 Uhr. Die Abgeordneten waren zahlreich zur Stelle, die Tribünen waren, wie stets an solchen Tagen, überfüllt. Besonders starke Besetzung wiesen die Diplomatenloge und die sog. Hofloge auf. Die Minister waren fast vollzählig auf ihren Plätzen. Präsi dent Löbe eröffnete die Sitzung, indem er darauf hin wies, daß eine außerordentliche Sitzung notwendig ge worden sei durch die immer ungeheuerlicher werdenden Mißhandlungen, deren unsere Landsleute im Ruhrgebiet und in den angrenzenden Gebieten ausgesetzt seien. Der Präsident gedachte der zahllosen Körperverletzun gen und der vielen Morde, die sich die Franzosen bis her haben zuschulden kommen lassen, und er erwähnte auch, daß die Franzosen nicht davor zurückschrecken, Todes strafen und Zuchthausstrafen denjenigen anzukündigen, die dem Vaterlande die Treue wahren. Bevor der Präsident hierauf das Wort dem Reichskanzler erteilte, ge dachte er noch des in der letzten Nacht erfolgten Ablebens des Mitgliedes des Hauses und bisherigen deutschen Bot schafters in Paris Dr. Mayer. Dann nahm das Wort Reichskanzler Or. Cuno. Er gedachte der vor kurzem geschehenen Besetzung von Mann heim, Karlsruhe und Darmstadt und erklärte, wenn früher unter zivilisierten Staaten so etwas geschehen wäre, wie wäre der Entrüstung über einen solchen Friedensbruch Aus druck gegeben worden. Da es sich aber um Deutschland handelt, so erblickt man darin nur kleine Erweiterungen der französischen Ruhraktion, die keines besonderen Aussehens wert seien. Der Kanzler wies weiter daraus hin, daß das neue Ge biet besetzt worden sei, weil angeblich im Rhetn-Herne-Kanal Kähne versenkt sein sollen. Der neue Rechtsbruch reiht sich an die Besetzung der deutschen Städte an. Der wahre Grund sei, daß die Brückenköpfe den Franzosen nicht mehr genügten. Die deutschen Beamten seien mit der Todesstrafe bedroht wor den. Der wahre Zweck dieser Verordnung sei, Terror gegen die deutschen Eisenbahner auszuüben. Die Franzosen hätten sich mit allen» ihren Berechnungen bisher nur Enttäuschungen zugezogen. Sic seien c.^er konsequent auf dem Wege der Gewalt geblieben. Es müße ein weithin sichtbares Warnungssignal aufgerichtet Werden, denn die letzten Wochen seien an der deutschen Bevölkerung nicht spurlos vorübergegangen. Der Friede wird von Frankreich mit Füßen getreten, ohne daß eine der anderen Mächte einen Finger rührt. Da her habe» wir erneut die Pflicht, das Unrecht fcstzustcllen, und mit einer Note ist das nicht getan. Der Kanzler will mit voller Offenheit sprechen, denn unser Schild sei blank, und wir hätten nichts zu verbergen. (Hier kamen Zurufe von den Kommunisten, die mit lebhaftem „Pfui" aus dem ganzen Hause beantwortet wurden.) Der Reichskanzler gab Beispiele von dem Treiben der Franzosen im Ruhrgebiete und hielt dagegen die Versprechungen, die Herr Poincarö, als das Unternehmen ins Werk gesetzt wurde, gemacht hatte. Besonderen Nachdruck legte Dr. Cuno darauf, daß von französischer Seite versprochen wurde, es solle keine Störung im normalen Leben der Bevölkerung eintreten und Ruhe und Ordnung herrschen. Damit verglich der Redner das tatsächliche Auftreten der Franzosen und die jetzigen Zustände im Ruhrgebiets. Er gedachte auch des Ver- battcus der Franzosen gegen die Beamten und betonte dabei, Herr Poincarö rechnete nicht mit der alten deutschen Be lt m t e n t r e u e. Helles Licht wurde geworfen aus die Qualen in den- Gefängnissen, die den Beamten bereitet und die Strafen, die über sie verhängt werden^ die Roheit, mit der die Aus weisung von Beamten und ihren Familien ins Werk gesetzt wird. Es handelt sich hier um die Anwendung überlegter Grausamkeit und nicht zu über bietender Rücksichtslosigkeit. Schon während der Ansprache des Präsidenten Löbe waren aus ver Mitte der Abgeordneten wiederholt Entrüstungs-' rufe laut geworden: .Diese Halunken!" .Pfui!" usw. Wäh rend der Ausführungen des Reichskanzlers häuften sich diese Entrüstungsrufe, als die Schilderungen des Reichskanzlers immer greller wurden. Als der Reichskanzler erwähnte, daß die Franzosen Bürgern in Gelsenkirchen, die harmlos ihres Weges gingen, die Barschaft abgcnommen haben, wurden aus dem Hause Ruse: „Räuber!", Spitzbuben!" usw. laut. Der Kanzler führte dann einzelne Beispiele der Bluttaten der Franzosen aus Gelsenkirchen, Bochum und Ober hausen an und betonte, daß sich die französischen Unmeusch- lichkeiten auch gegen Kranke und gegen Kinder richten. Offenbar beabsichtigen die Franzosen damit, die Bevölkerung einzuschüchtern und unbequeme Beamte zu entfernen. Alles dies geschehe im Namen derjenigen Nationen, welche die be rühmte Formulierung der Menschenrechte vorgenommen haben. Mil lauter Stimme rief der Kanzler: „Wo ist hier die Ehre, bei den Mißhandelten oder bei der ritterlickfen Nation? Heraus mit den Tatsachen des Rcchtsbruches und der Greuel, heraus damit vor die Welt, ! damit sie sich ein unparteiisches Bild machen kann." In bezug auf die Reparationslieferungen haben s die Franzosen seft dem Einbruch anstatt der 2,1 Millionen Ton- ! nen Kohle, die sie von uns normalerweise Hüften erhalten kön nen, nur 74000 Tonnen und überhaupt kein Holz erhalten. Auch die großen Aufwendungen für die Truppen im Ruhrgebiet seien nur zum kleineren Teil durch die französischen Beschlag nahmen und sonstigen Räubereien gedeckt. Das sei die passive Seite des französischen Unternehmens. „Was haben die Franzosen -bisher mit ihrem Vorgehen im Ruhrgebietc er zielt? Un Produktivität aus der ganzen Linie, das ist das Kennzeichen des Ruhrunternchmens!" Die Aktionäre dieses Unternehmens werden daraus keine Dividenden beziehen, sie werden sich im Gegenteil zu große» Zuschüssen verstehen müssen. Die Rechnung wird dem französischen Steuerzahler schon in der nächst«: Zeit vorgelegt werden. Wenn Herr Pomcarö die Hand ergriffen hätte, die wir ihm noch vor einigen Wochen geb - lcn haben, so stünde es auch erheblich besser um Frank reich Herr Pomcarä wird sein wirtschaftliches Ziel nicht erreichen. Mit Gewalt, Tanks, Maschinengewehren und Bajonetten kann man allerlei Erfolge erzielen, aber kein Industriegebiet produk tiv machen. Das Vorgehen der Franzosen bekundet auch eine gröbliche Nichtachtung des Geistes. Wie kann man annehmen, daß mit solchem Vorgehen wirtschaftliche Erfolge erzielt -wer den! Die deutsche Wehr im Kampfe gege »dieses Unrecht ist stark. In dem Widerstande gegen diese Gewalt wird Deutschland nicht müde werden. Wie konnte man daran glauben, daß ein solcher Kampf, wie ihn Deutschland jetzt führt, unter dem Zwange einer Regierung geschehe. Der Widerstand wäre längst zusammeiMbrochen, wenn ihn die Re gierung befohlen hätte. Der Widerstand war da, ist da und wird da sein bis zum Tage der Befreiung. Darin sind alle einig. Dr. Cuno sprach in warm empfundenen Worten den Dank der Regierung an die Männer und Frauen aus, die im Ruhrgebiet den Abwehrkampf führen und drückte das Gemeinschaftsgefühl aus, welches zwischen ihnen und der gan zen Nation besteht. Wirtschaft und Politik müßten sich jetzt ganz aus diesen Abwehrkamps einstellcn. Die Regierung kenne kein anderes Ziel, und alle Kräfte des Staates müßten jetzt zur Verteidigung und zur Selbsterhaltung herangezögen wer den Die Regierung werde trotz großer Schwierigkeiten die Stützungsaktion für die Mark weiter durchführen. An die besitzenden Klaffen richtete der Kanzler die nachdrückliche Aufforderung, sich bei der bevorstehenden Zeichnung der Gold an lei he nicht zurückznhalten. Dann sprach er den Wunsch ans, daß der Geist, der in den Grenzmarken herrscht, auch im übrigen Lande maßgebend sein möge. Denn die Ge schichte werde uns einst danach beurteilen, wie wir diesen Ab wehrkamps geführt haben. Der Redner kam daun auf die deutschen Leistungen und betonte, daß wir niemals Verhandlungen nbgelehnt haben, vielmehr habe Deutschland vom Waffenstillstand an trotz sei ner großen Schwäche und Zerrissenheit ungeheure Werte seiner Wirtschaft an die Verfasser des Versailler Friedens abgegeben, deren Gesamtbetrag bis jetzt eine Höhe von über 45!4 Goldmilliarden erreicht hat. Diese ungeheuerlichen Leistungen sind nicht von einem Lande mit blühender Volkswirtschaft gemacht worden, sondern von einem vanoe, ras -durch einen Krieg von noch nicht vage- wefencm Umfange aufs tiefste erschöpft war. Unsere Leistungen werden auch dadurch nicht verringert, daß die Franzosen von ihnen nur einen Teil erhalten haben. Die jetzige Reichsregic- rnng hat bei ihrem Amtsantritt gelobt, bis zur Grenze unserer Leistungsfähigkeit erfüllen zu wo>- l e n und nach dem Vorbilde eines ehrlichen Kaufmannes den Verpflichtungen gegen die Gläubiger nachgukommen. Bei An nahme der Vorschläge, die Deutschland der französischen Re gierung gemacht hat, würde es heute auch mit Frankreich anders sieben. Aber Frankreich hat alle diese Vorschläge abgelehnt, Weik die Ruhrbesetzung schon vorher be schlossen war. Kein Vorschlag war geeignet, diese Be setzung abzuwendeu. Wir wollen durch Festigkeit unseres Zu sammenschlusses, durch einmütiges Handeln alle Welt von der Gerechtigkeit unserer Sache überzeugen. Frankreich wird Un heil und Friedlosigkeit über ganz Europa bringen. Es hat die deutsche Verhandlungsbereitschaft mehr als einmal zurückge- w'iescn. Jetzt muß -der Rus nach Verhandlungen an die fran zösische Adresse gerichtet werden. Wir können keine Angebote machen, solange wir nicht das Ruhrgebiet wieder haben. Wir werden keiner Regelung zustimmcn, die nicht die Gefangenen befreit und die uns nicht das widerrechtlich besetzte Rheinland und das Ruhr gebiet wiedcrgibt. Ich klage nicht an, sondern ich stelle nur fest, daß das Schicksal Deutschlands und das Schicksal eines ganzen Erdteiles von selbst Anklage erhebt. Deutschland führt nicht nur sein« Sache allein, sondern die Sache der Freiheit und des Fortschrittes. Dennoch schweigen alle Mächte u n d w i r st e hen allein. Um so stärker geht der Ruf an das deutsche Volk, einig zusammcnzustehen. Wir werden den Weg bis zum Ende gehen, so lang und so schwer er auch sein mag. Wir wissen nicht, wann der Tag der Freiheit kommt, aber wir wissen, daß er kommen mutz. Die Rede des Kanzlers wurde im ganzen Hause mit über wältigendem Bestall ausgenommen. Unter diesem starken Ein druck vertagte sich das Haus. Ein sranzSWes „AnedsnMsgrWm". Verschärfung des Versailler Vertrages. In dem Pariser Blatt „Echo de Paris" wird gesagt, wie man sich in Paris das Programm sür die künftige Ncc lung mit Deutschland denkt. Die vier Hauptpunkte dieses Programms sind: 1. Die Annahme des Londoner Zahlungsplans vom 5. Mai 1S21 unter folgenden neuen Voraussetzungen: direkte und indirekte Einbeziehung der Gebiete Westfalens und des Rheinlandes in das Reparationsproblem; Verlängerung der Besetzung gemäß der bekannten Interpretation, daß die Besetzungsfrist von den deutschen Re parationsleistungen abhängig gemacht werden soll. 2. Die notwendige Ergänzung der Paragraphen 42, 43, 44 des Friedensvertrages über die Sicherheitszone. 3. Umänderung der Reglements sür das Saargebiet, über das nicht durch eine Volksabstimmung entschieden werden soll, wie das im Vertrage bestimmt ist. 4. Das Problem der Verbindungen zwischen dem loth- rinqischen Erz und der westfälischen Kohle; das Problem der Sachleistungen, das Problem der Handelsverträge Deutsch lands mit den Alliierten. Da es keinen Zweifel darüber gibt, daß England gegen den größten Teil dieser Forderungen Einspruch er heben wird, würde England an den Verhandlungen nicht teilnehmen. Was die deutsche Regierung dazu zu sagen hätte, bedarf keines Wortes. Brot- und Zuckerversorgung. Brotpreis einstweilen stabil, Zuckerpreis verdoppelt. Der Getreide-und Mehlabgabepreis soll nach den Beschlüssen der Reichsregierung einstweilen nicht erhöht werden, wenn auch die Geldentwertung, so weit man sie zur zeit in Betracht ziehen kann, die Erhöhung der Frachten und sonstigen Unkosten eine andere Berechnung erforderlich machen könnten. Man will mit allen Kräften verhindern, daß aber mals eine neue Teuerungs- und Geldentwcrtuugswelle über das Land braust, ganz gleich, ob sie größere oder geringere Berechtigung hat. Deshalb ist in der bestimmten Erwartung, daß die Landwirtschaft sich den grundsätzlichen Erwägungen der Regierung anschließt, nur der Preis für das fünfte Sechstel des Umlagegetretdes gemäß dem Mehr heitsbeschluß der Zwanzigerkommission auf 600000 Mark sür di« Tonn« Roggen festaefetzt worden, während der Preis für Das Heiraisjahr. Ein Lustspiel-Roman tu zwölf Kapiteln. Von Fedor o. Zabeltitz. (7. Fortsetzung) (Nachdruck verboten.) „Ich werde einmal mit ihm Rücksprache nehmen," antwortete Tübingen. „Ich möchte gern, daß er selber den Wunsch äußert, sich pensionieren zu lassen. Ein Glück noch, daß er keine Fa milie besitzt, für die er zu sorgen hat! Schwer genug wird es uns ankommen, uns erst wieder an einen neuen Pfarrer zu ge wöhnen. Aber es geht wirklich nicht länger; es muß sein." Ein schüchternes Räuspern auf der Veranda machte den Sprechenden darauf aufmerksam, daß draußen noch immer der Inspektor wartete. Tübingen erhob sich: das war das Zeichen, daß sich auch die Kinder entfernen durften. Die Jungen stürmten in den Garten. B-enedikte ging mit ihren Freundinnen auf den Geflügelhof-, das war ihr Bereich, und es gab dort viel zu tun. Ein paar Hühner brüteten; junge Enten wurden erwartet, und die «ine Pfauhenne war. krank. Tübingen hatte seine Uhr gezogen. „Mütze und Stock/Riedecke," befahl er. „Ich gehe nach Schlag vierzehn, Frauchen, bin aber um Zehn wieder hier. Sorge dafür, daß der Max ein ordentliches F- ühstück vorftndet Ein Glas Wein dazu; man niuß anstoßcn können. Bin nur neugierig, ob er sehr braungebrannt aussieht und sich einen Kolonialbart hat wachsen lassen. Na Wiedersehen!" Er ging und stieg in belehrendem Gespräch mit seinem In spektor die Verandatreppe hinab. Graf Teupen nahm seine beiden Zeitungen unter den Arm. „Hast du ein Mertelstündchen für mich übrig, Eleonore?" fragte er sein« Tochter, die schon nach ihrem Schlüsselkörbch-en gegriffen hatte, um sich an ihr Regiment zu begeben. „Selbstverständlich, Papa. Gibt's etwas Besonderes?" „Nun ja — gewissermaßen. Gehen wir in den Obstgarten; ich revidiere bei dieser Gelegenheit gleich meine Pfirsiche und die neuen Okulierungen." Der Obstgarten lag hinter dem Schlosse, dicht an den Park grenzend, in dessen Wiesen und Bosketts er sich in quadratischer Form hineinschob. Die Baumblütte war vorüber. Die Frucht setzte an oder reifte bereits. Zwischen den dichten Buschreihen der Himbeer-, Johannis- und Stachelbeersträucher erstreckten sich sauber geharkte Wege. Die Obstbäume standen in langen Fronten, wie zum Parademarsch aufmarschiert. Nur hie und da fielen Sonderexemplare auf, ein Pflaumenbaum, der wie ein Fragezeichen emporwuchs, ein Birnbaum, dessen Astwerk sich kugelförmig zusammenrankte, «in anderer, der so seltsam ge wachsen war, daß er wie eine riesige, zum Sprung ausholende Heuschrecke aussah. Das war die Züchtung des Grafen Teupen, der gern die Natur korrigierte und die jungen Bäume durch allerhand Fesselungsmittel zuweilen zu den widersinnigsten Formen und Auswüchsen zwang. Er „korrigierte" auch noch in anderer Weise, pfropfte zum Beispiel einen Apfelzweig auf einen Kirschbaum und einen Birnbaumast auf einen Weißdorn und was derlei Kuriosiiäten mehr waren. „Sieh da, Eleonore," sagte er beim Betreten des Gartens, „die Kirschen werden schon rot. Aber in den Erdbeeren hat wieder jemand herumgetrampelt. Da ist Dikte die Urheberin ge wesen- Uebrigens alle Achtung vor deinen Melonen! Es war gut, daß du sie so lange in den Warmbeeten ließest. Die rötlich genetzte da drüben ist die Cantaloupe Konsul Schiller, auf di« mich der Amtsrat Kielmann aufmerksam gemacht hat. Also nun höre, Eleonore: es ist Zeit, daß wir uns der Frau von Seesen wieder ein wenig mehr zu nähern versuchen." Frau von Tübingen nickte, mit dem alten Herrn den Mittel weg hinabfchreitend und dabei scharfäugig den Garten über schauend. „Ich konnte mir denken, daß das kommen würde, Papa," er widerte sie mit leichtem Lächeln. „Aber erst laß den Max nur erst wieder einmal festen Fuß fassen " „Kann er ja und soll er." fiel Teupen eifrig «in. „Indessen, liebes Kind, ich muß dich doch darauf aufmerksam machen, daß nicht viel Zeit zu verlieren ist- Wie lange wollt ihr den Jungen denn hier behalten?" „Er mag bleiben, so lang« er will. Sein Urlaub läuft erst im Herbst ab. Dann soll er auf das Auswärtige Amt zurück. Unter uns, Papa, von seiner Karriere halte ich nicht viel. Ich ängstige mich auch darum nicht; will er noch zu Lebzeiten Eberhards Hohen-Kraatz übernehmen — was schadet es? Wir ziehen uns dann nach Drake zurück." „Schön, schön; ich hätte nichts dagegen; ich fühle mich auf Drake ebenso wohl wie hier. Wenn ich nur meine paar Bücher und meine Bäume und Erdbeeren habe, dann bin ich schon zu frieden. Aber ich meine, die swsnts oorätals zwischen Hohen- Kraatz und Langenpfuhl muß angeknüpst werden, ehe uns der Max wieder nach Berlin entmischt. Herrgott, liebe Eleonore, die Sache ist doch von Wichtigkeit! Denke mal an: dieses prachtvolle Langenpfuhl! Und war zweihundert Jahre Tübingenscher Be sitz, bis das törichte Testament des alten Carlaugust dies Para dies an die Seesens brachte. Und dann Frau von Seesen selbst! Gibt es denn auf hundert Meilen im Umkreise ein weibliches Wesen, das besser zu Maxen paßt?" „Nun ja. null ja," erwiderte die Baronin kopfnickend, „ick hätte wahrlich nichts gegen eine solche Verbindung, - das weißt du ja auch. Frau von Seesen ist mir in hohem Grade sym pathisch, hübsch, vornehm, elegant, aus guter Familie —" „Aus erster. Sie ist eine Komtesse Pleydenwulff." „Gewiß, und die Pleydeuwulffs gehören, ich glaube, zum fränkischen Uradel. So sagtest du mir wohl einmal, also — ich bin durchaus f ü r diese Partie. Indessen — vorderhand macht mir Frau von Seesen nicht den Eindruck, als ob sie gewillt wäre, zum zweitenmal zu heiraten." Graf Teupen warf beftig den Kopf in den Nacken. „Aber, mein Herz, sie kann doch nicht ewig ledig bleiben! Eine blutjunge Frau — und kinderlos! Was soll denn aus Langenpfuhl werden? An irgend einen ihrer gleichgültigen Vettern fallen? Das kann sie selber nicht wünschen!" Man war am Ende des Gartenweges angelangt und machte nun kehrt. Zuweilen blieb die Baronin stehen, nm nachzuseben, ob die Artischocken reichlich angosetzt hätten oder wie die To maten trieben. „Lieber Papa," sagte sie, „Frau von Seesen hat, denke ich, nicht in allzu glücklicher Ehe gelebt. Seesen war, Gott hab' ihn selig, ein ziemlich roher Patron. Nun ja, das war er Ein Nimrod, ein arger Spieler und lief auch den Weibern nach. In der Kirche sah man ihn nie und auf der Synode machte er sein« Witzchen. Der Superintendent hat es mir erzählt. Dabei eifer süchtig wie ein Othello. Erst nach seinem Tode hat die arme Marinka ein bißchen aufatmen können." „Aber drei Jahre Freiheit sind genug." bemerkte der Graf. Frau Eleonore zog die Schultern hoch. „Das ist die Frage, Papa. Für Marinka vielleicht nicht. Max hat überdies doch auch mitzusprechen. Ich weiß zwar, daß er die Seesen sehr gern hat, aber es ist fraglich, ob er von seinem Liebesschmerz völlig kuriert ist, ob er nicht immer noch an die Warnow denkt." „Da sei Gott vor," entgegnet? der Graf erschrocken. „Er kennt unsern Willen. Nur der Warnow wegen haben wir ihn auf die Weide nach Afrika geschickt. Er hat sie nie wiedergesehen und er wird sie auch nie wiedersehen. Hast du je etwas von ihr ge hört?" „Nein — nichts. Frau von Seesen verschaffte ihr eine neue Stellung — irre ich nicht, in der Schweiz." „Die Schweiz ist weit." „Sie wird sicher ihr gutes Fortkommen finden. Ich habe ganz gewiß viel Sympathien für sie übrig gehabt, ihr auch ein glän zendes Zeugnis mit auf den Weg gegeben." „War nur recht von dir, Eleonore. Es g-ing mir wie dir. Ich hatte sie sehr gern. Sie erinnerte mich immer." Teupen strich mit der Rechten über seine Stirn, „ich weiß nicht an wen. Aber sie hätte Maxens Bewerbung mit größerer Energie ab weisen müssen — hätte ei'- hen müssen, von vornherein, eine Ehe mit ihm eine U' Utzftkeit ist!" „Du lieber Gott, Papa WS« geblendet —" (Fortsetzung folgt.)
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