Volltext Seite (XML)
Frankenberger Erzähler Unterhaltungsbeilage znm Frankenberger Tageblatt Nr. 7l Mittwoch de« 8. September 1M 1 Nachdruck verbot«. ' War Fräulein von Faire eine sogenannte „Haus tochter"? Nein, Anne nannte Frau Staniecki „Mutter". Senta Bratt war eine tüchtige Künstlerin, aber nicht Frei von weiblicher Neugier, und das schöne, stille MäLi chen interessierte sie. Allmählich gewann sie das Ver- trauen der alten Ursel und ersuhr, was sie wissen wollte Frau Staniecki war Operettensängerin gewesen. AuS ihrer Ehe mit Staniecki machte sie kein Geheimnis. Ja, sie renommierte gelegentlich mit den künstlerischen Er» Folgen des Seligen, der auf einer TournL bei einem Eisenbahnunglück ums Leben gekommen war. Dafür sprach sie niemals von ihrem ersten Gatten, Lem Freiherrn von Falke. Gab es da ein Geheimnis? Jedenfalls schien die Ehe kurz und unglücklich gewesen zu sein. Die Malerin betrat das Mansardenzimmer und machte Licht. Dann trat sie ans Fenster. Lau strömte die Luft des Spätsommerabends herein Und brachte Geigenklänge mit, Tanzmusik vom Eschen» talschen Fest. Senta Bratt lauschte. Plötzlich schnippte sie mit den Fingern und lachte. ,Hch werde der Dame Staniecki einen Streich spielen," murmelte sie und lief ins Schlafzimmer. Hier ritz sie einen Lederkoffer auf und wühlte darin. Plötzlich hielt sie ein schimmerndes Gewand in Len Händen. „Ich werbe „Aschenbrödel" auf den Ball schicken. Wie gut, datz ich das Kostüm mitgenommen habe." »Da bin ich," sagte eine leise Stimme. Anne stand im Zimmer und sah mit erstaunten Augen auf das glitzernde Gewand. „Was haben Sie denn da, Fräulein Bratt?" Statt aller Antwort wies die Malerin mit dem Kops zum Fenster. „Hören Sie, wie Lie Geigen locken, kleines Mädchen? Fährt Ihnen das nicht in die jungen Beine? Möchten Sie nicht auch einmal tanzen gehen?" Fast gegen ihren Willen nickte Anne. „Dann sollen Sie tanzen gehen, Kind! Das ist meine Geburtstagsüberraschung für Sie. Sie werden mit meiner Einladungskarte das Fest des Konsuls besuche und dazu dieses Kostüm anziehen." „Aber das geht doch nicht, Fräulein Bratt!" „Das gehl ausgezeichnet, meine Liebe! Wir werden Las Aschenbrödelmärchen einfach in die Tat umsetzen. Hier ist Ihr Prinzessinncngcwand.. Ich habe das Kostüm einmal für ein Modell angeschafft und dann nicht den richtigen Typ gefunden. Für Sie patzt es ausgezeichnet." „Oh, Fräulein Bratt, man wird mich erkennen!" „Niemand wird Sie erkennen, aus dem einfachen Grunde, weil Sie niemand kennt. Sie sind ja für Elmshorn das Veilchen, das im Verborgenen blüht. Außerdem ist es ein Fest in Maske und Mummen schanz. Rasch, Anne, ziehen Sie das Kleid an. Ich werde Ihr Haar lösen." Was in der nächsten halben Stunde geschah, blieb für Anne immer ein nebelhaftes Traumgebilde. Sie stand plötzlich vor dem Spiegel und sah sich in einem köstlichen, silbrig fließenden Gewände, das Arme und Schultern frei ließ. Die gelösten Haare flossen in gol- Ligem Blond über ihre Schultern und wurden von einem glitzernden Diadem gekrönt. Ihre Füße steckten sL SLioenlchnheu, und M Arme bärge» sich bis zum Ellenbögeis in einem Netzwerk von Handschuhen, ^aS mit funkelnden Steinen besetzt war. „Bin ich das wirklich?" murmelte das Mädchen und starrte das glänzende Spiegelbild an. „Natürlich," rief die Malerin begeistert. „Anne, Sie sind ja eine Schönheit und werden die Königin LeS Festes sein!" „Man wird mich hinauswerfenI" „Unsinn! Man wird Sie für die verwunschene Prin zessin in Person halten. Was haben Sie La für ein wundervolles Medaillon am Halse, Anne? DaS ist ja ein famoses, altes Stück. Echtes Empire. Ich habe eS noch nie bei Ihnen gesehen." „Ich trage es immer unter meinen Kleidern. CS ist ein Erbstück aus der Familie meines Vaters und ent hält sein Bild. Wollen Sie es sehen?" Senta Bratt- nickte eifrig und Anne drückte die Kapsel auf. Eine Miniatur, auf Elfenbein gemalt, zeigte sich. Es war der schöne Kopf eines Maunes, der Anne ähn lich sah. „Eine ausgezeichnete Arbeit," lobte die Malerim „Ihr Vater mutz ein schöner Manu gewesen sein, Anne." »Ich weiß es nicht. Ich kann mich nicht an ihn erinnern. Ich war sehr klein, als er — starb. Ach, Fräulein Bratt, ich habe doch keinen Mut, auf diesen Ball zu gehen. Die Idee ist zu abenteuerlich." Nun wurde die Malerin energisch. Sie packte daS junge Mädchen an Len Schultern und schüttelte eS. „Fort mit Ihnen, Anne! Glauben Sie, ich habe daS Aschenbrödelmärchen inszeniert, damit Sie im letzten Augenblick streiken? Sie werden jetzt gehen, bis -um Morgengrauen tanzen und Ihren Schuh verlieren, wie es sich für ein richtiges Aschenbrödel gehört. Ich werde indessen wachbleiben und auf Ihren Bericht über das Abenteuer mit dem Prinzen warten. Unter einem Prinzen darf's nicht sein, Anne. Verstanden?" Das Mädchen lachte, von der übermütigen Lärme der Malerin angesteckt. „Gut! Ich verspreche es. Aber ich habe ja keine Maske!" „Richtig! Wir brauchen eine MaSke." Senta Bratt griff in eine Lade und brachte ein Spitzentüchlein zum Vorschein. Im HanLumbrehen hatte sie Augenlöcher hineingeschnitten und daS Gewebe Anne umgeknüpft. „So, da haben Sie eine höchst aparte MaSke, Kink, Nun hinaus mit Ihnen! VeMssen Sie nicht, mir bei Ihrer Heimkehr zu beichten. Viel Vergnügen!" Damit schob Senta Bratt das junge Mädchen zur Tür hinaus. Annes Stöckelschuhe klapperten die Treppe hinab. Die Malerin lief ans Fenster und beugte sich hinaus. Sie sah eine silbern flimmernde Gestatt die Straße hinabeilen und lachte vergnüqt. „Das Mädchen wird Ballkönigin sein und die Eta- nieckis, Mutter und Tochter, werden sich nicht schlecht den Kopf über den glänzenden Schmetterling zer brechen. Ich habe wirklich eine famose Idee gehabt." In diesem Augenblick klopfte es. Die alte Ursel trat ins Zimmer. „Es ist eine Depesche für Sie gekommen, Fräulein Bratt." Hastig riß die Malerin das Telegramm auf und über- flog den Inhalt, indes sich die alte Dienerin suchend im Zimmer umblickte. Senta Bratt legte das Telegramm auf den Tisch. „Ich muß sofort abreisen, Ursel. Eine wichtige Nach richt ruft mich nach der Hauptstadt zurück. Wann geht Ler nächste Zug?" „Um zehn Uhr," sagte Ursel und guckte inS Schlaf zimmer. „Diesen Zug nehme ich. Ursel, seien Sie nett und helfen Sie mir beim Packen." „Natürlich, Fräulein Bratt. Schabe, Latz Sie fort müssen. Wo ist Fräulein Anne?" Die Walerin lackte.