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Frankenberger Erzähler Unterhaltungsbeilage zum Frankenberger Tageblatt Nr. 7« Sonntag den 2. September 1884 Nachdruck verboten. ! 1. Auf den Steinstufen, die zur Küche des niederen Ll Ahauses führten, saß ein junges Mädchen und schu.te Erbsen aus. Ein Sonnenstreifen lag über dem blonden Haar, spielte über die blaue Küchenschürze und Lie derben Schuhe und einige Dutzend genäschiger Hüh ner und Tauben, die ihren Anteil an der Erbsenlese forderten. ! Erbsenpalen ist eine prosaische Beschäftigung, aber Anne von Falke sah dabei aus wie ein Bild aus einem Märchenbuchs. Jetzt knarrte das Gartengatter, eine Stimme ries verblüfft: , ,(Aschenbrödel! Wie es leibt und lebt!" Vor dem jungen Mädchen stand eine große Frauen- gestalt im Malerinnenkittel,' auf dem ergrauenden Haar trug sie eine Baskenmütze. In dem frischen, energischen Gesicht blitzten jugendliche Äugen, die vor Freude über Las entzückende Bild strahlten. „Guten Tag, Fräulein Bratt," grüßte Anne und ! wollte aufspringen. „Sitzenbleiben," rief die Malerin rasch. „Nehmen Sie sofort Ihre alte Stellung wieder ein, Anne. Halten Sie Len Kopf nach rechts, ich brauche den letzten Sonnen- schimmer auf Ihrem Blondhaar. Kind, es ist ein wah res Gottesgeschenk für mich, daß ich Sie hier in Ihrer ! Märchenpose treffe. Sie werden sofort skizziert!" Gehorsam hockte sich Anne wieder nieder, und die Malerin begann eifrig zu arbeiten. Ihr Stift flog so rasch über das Papier, daß man den Bewegungen der geübten Hand kaum folgen konnte. Ab und zu warf sie ! einen Blick auf das junge Mädchen. Vor Eifer brann ten zwei rote Flecke auf ihren Wangen. „Anne, Sie sehen einfach wundervoll aus! Zart, blond und jung. So habe ich mir mein Bild geträumt!" „Was für ein Bild, Fräulein Bratt?" „Na, mein Märchenbild. Ich habe nämlich von einer großen Verlagsfirma den Äuftrag bekommen, das Aschenbrödelmärchen neu zu illustrieren. Es soll zu Weihnachten in einer farbigen Prachtausgabe erschei- i neu. Verzweifelt habe ich nach einem passenden Modell gesucht. Aber wo nimmt man in der Zeit der Bubi köpfe ein Aschenbrödel her? Und heute wirft mir der Zufall ein leibhaftiges Aschenbrödel in den Schoß, samt Erbsenschüssel, Hühnern, Tauben und sonstigem Zu behör. Stillsitzen, Anne!" „Ich tu's ja, aber die gefiederten Modelle um mich herum sind unruhig!" „Macht nichts. Die zeichne ich zum Schluß ein. Sie find die Hauptperson!" „Das ist mir wirklich eine ganz ungewohnte Rolle." Die Malerin blickte auf. Sie sah die zarte Mädchengestalt in der groben Schürze, die feinen Füße in den dicken Schuhen und die schmalen Hände mit den zarten Knöcheln. Dahinter war die von wildem Wein überwucherte Hausmauer, eine offene Küchentür, und der Anblick von dem Kupfer geschirr auf den Borden! In der Küche hantierte eine ältliche Magd, und auf einem Stuhle saß eine Katze, die sich die Pfoten putzte. Es war die vollkommenste Märchenillustration, die sich ein Malcrauge wünschen konnte, und doch stockte die Hand der eifrigen Zeich- nerin. „Anne, die alte Ursel hat mir gesagt, daß Sie heute Geburtstag haben?" Anne vsn Falle errötete. „Einmal im Jahre hat das jeder Mensch, Fräulein Bratt." „Meinen Glückwunsch, Kind! Wie alt sind Sie eigentlich?" „Einundzwanzig Jahre." „Was? Ich habe Sie für siebzehn gehalten. Sie sehen unglaublich jung aus, und -- und —" „Sehr wenig festlich, wollen Sie sagen, nicht wahr?" Die Malerin kniff die Lippen zusammen und arbeitete schweigend weiter. Es war still in dem kleinen Garten. Man hörte nur das Gurren der Tauben und dir Melodie eines Volksliedes, das die alte Ursel in der Küche summte. Nun verschwand die Sonne hinter der Giebelwand; der Garten tauchte in Schatten. „Schade, nun geht die Sonne weg und nimmt den Goldreflex aus Ihrem Haar mit, aber den kann ich aus dem Gedächtnis nachholen. Noch ein paar Striche und die Skizze ist fertig. Sie werden in das Märchenbuch als leibhaftiges Aschenbrödel eingehen, Kind. Kommen Sie her und sehen Sie sich die Zeichnung an, Sie kleines Märchen." In diesem Augenblick wurde im oberen Stockwerk ein Fenster aufgerissen. Eine schrille Mädchenstimme schrie: „Anne, wo steckst du denn?! Es ist sieben Uhr und, du sollst mir beim Ankleiden helfen. Komm herauf, aber sofort!" Ueber „Aschenbrödels" Gesicht ging ein Schatten. „Ich kann mich jetzt nicht in Ihre Skizze vertiefen, liebes Fräulein Bratt. Vera wünscht mich, und da heißt's eilen." „Sind Sie nicht ein wenig zu nachgiebig, Anne?" „Ich habe Vera versprochen, sie zum Fest beim Kon« sul Eschental anzukleiden." „Das Garten- und Kostümfest, ich weiß. Ich habe auch eine Einladung erhalten." „Werden Sie hingehen?" Die Malerin sah dem jungen Mädchen mkt einem vergnügten Lächeln in die Augen. „Eigentlich sollte ich, denn ich kenne den Konsul von der Hauptstadt her. Ich werde aber zu Hause bleiben und mit Ihnen Geburtstag feiern." „Oh, Fräulein Bratt. Sie sollten meinetwegen nicht auf das Fest verzichten!" „Fällt mir durchaus nicht schwer. Mit fünfzig Jahren verliert man den Geschmack am Mummenschanz. Sie haben mir so brav gesessen, daß ich Ihnen eine kleine Freude schulde. Weun Ihre Mutter und Schwester fort sind, werden wir eine gemütliche Geburtstagsfeier machen. Gilt's?" Anne von Falke wurde rot vor Freude. „Ich bin Ihnen so dankbar!" „Anne, Anne, wo trödelst du herum? Komm sofort herauf!" Anne stürzte ins Haus. Im Laufen band sie die häß liche Küchenfchürze ab. Die Malerin sah ihr mitleidig nach. Anne hastete zum Zimmer der Schwester. Eine Tür wurde anfgerissen. Ein mageres, schwarz haariges Mädchen in einem fleckigen Kimono packte Anne an der Hand und zog sie in ein Gemach, das sich durch eine geradezu phantastische Unordnung aus- zeichnete. Ein gräßliches Durcheinander herrschte in dem Raum. Das Bett war zerwühlt. Auf dem abgeschabten Teppich lagen Schuhe, Strümpfe und Wäschestücke verstreut. Die Türen des Kleiderschrankes standen offen, Kleider, Mäntel, Röcke quollen heraus. Auf einem Sessel lag das Kostüm einer Pierrette. Anne von Falke schlug die Hände über dem Kopf zu sammen. „Vera, um Gottes willen, wie sieht eS denn hier aus!?" dA LekpMMLLM, Mt^LW vW,