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^Ul <m,e7raatrezsten o^6,iba>-t <le^ einer Lleit «'n ii,rem illvllsian^. Im Herbst tagte in Wien ein internationaler Tanz- ^ongrrß, nicht zu verwechseln mit jenem „tanzenden Kongreß" von 1814/15, wie man die damalige Zu sammenkunft der europäischen Staatsmänner in den Mauern der Donaustadt wegen der vielen rauschenden Ballfeste nennt, die die politische Arbeit umrahmte. Nein, das diesjährige Treffen sah keine hohen Würden- , viele Jahrzehnte hindurch spiegeln sich in den beschwingten Melodien des Wiener Walzers gesteigerte Lebenslust und sorglose Fröhlichkeit wieder. Auge und Ohr sind auf Anmut und Wohlllang eingestellt. träger vereint, sondern Lehrer und berufene Freunde der Tanzkunst, die darüber berieten, welcher neuen Schöpfung die Ehre zugesprochen werden sollte, uns in diesem Winter zu beglücken. Schon lange vorher waren „sensa tionelle Gerüchte" im Umlauf, beifällig begrüßt von den einen, ablehnend ausgenommen von den andern. Sollte — aber das war ja kaum zu glauben — und dennoch — also sollte der alte, ehrliche Walzer wirklich wieder kommen? Die ältere Generation schwärmte bereits in Erinnerungen. Jetzt würde man wieder einmal sehen, was Tanz sei — herrliches Schweben im Dreivierteltakt, — vorbei die Zeit der wilden Gliederverrenkungen, vor bei Saxophongequäk und Urwaldrhythmen! Die Jugend xvar nicht in dem gleichen Maße begeistert. Nun ja, gewiß, so zur Abwechslung gelegentlich einen Walzer, warum nicht? Aber der Tanz der Saison? Der mußte Loch schließlich vom Ausland kommen . . . gewinnen vermögen? Indessen, bei vorurteilsfreier Prüfung der Dinge wird man sich nicht der Einsicht ver schließen können, daß neben vielem anderen, was uns aus unserer Jugend teuer war, auch der Walzer seine Herrschaft schließlich einmal abgeben mußte. Gewiß, man mag dies bedauern, man braucht auch durchaus nicht im Jazz oder Charleston Höhepunkte tänzerischen Geschmacks zu sehen, aber man muß begreifen lernen, daß auch der Tanz ebenso an seine Zeit gebunden ist wie andere Kulturerscheinungen: Kunst, Mode.Lebensstil. Wie es z.B. nicht möglich ist, die recht kleidsame Viedermeiertracht unverändert wieder aufstehen zu lassen, so wenig lassen sich die früheren Tanzformen in ursprünglicher Gestalt erwecken. Es leuchtet ein, daß in einer Welt der Großkrastmaschinen, der Hochhäuser und der Flugzeuge der Vallsaal nicht sein altes Gesicht behalten konnte. Oder läßt sich z. V. das graziöse, zierliche, figurenreiche, aber auch gekünstelte Menuett in einer anderen Zeit als der des galanten Rokoko mit seinen Perücken und Reifenröcken entstanden denken? Wie ernst man damals noch die Tanzkunst nahm, kann man daran er messen, daß man mindestens drei Monate für die Erlernung des Menuetts verwandte. Das schloß natürlich von vornherein die Erlernung dieser Kenntnisse durch breitere Volksschichten aus und wirklich blieb dieser Tanz lange ein Privileg der höfischen Kreise und des Adels. Mit dem Beginn des neunzehnten Jahrhun derts, dem Anbruch des bürgerlichen Zeit nische Mazurka seine Herrschaft ernsthaft gefährdeten, so waren doch seine Tage gezählt, als die fortschreitende In dustrialisierung eine Wandlung der Anschauungen aus allen Gebieten mit sich brachte und der Ausbau der Ver kehrsmittel eine viel größere gegenseitige Beeinflussung und Durchdringung der vorher strenger geschiedenen nationalen Kulturen im Gefolge hatte. Der Lebens rhythmus wurde gestraffter, Behaglichkeit und Gemäch lichkeit entschwanden. Der Mensch der Jahrhundert wende, gehetzt vom gesteigerten Arbeitstempo, konnte in den naiven Vergnügungen vergangener Zeiten keine Ent spannung mehr finden. Die Washington-Post, mit dey Amerika den bis heute andauernden Export seiner Tanzsitten eröffnete, war noch verhältnismäßig harmlos. Aber immer deutlicher zeigte es sich, daß eine „Revolution im Ballsaal" dicht bevorstand. Es kam die exotische Welle. Cakewalk und Machiche blieben zwar auf die Lebewelt beschränkt, bereiteten aber die Stimmung für den Tango vor. Dieser letztere Tanz, der seinen Weg nach Europa von den argentinischen Hafenschänken aus angetreten hatte, wurde von großen Teilen der Bevölke rung wie eine ungeheuerliche Herausforderung emp funden. Trotzdem setzte er sich schnell durch und breitete sich mit der Schnelligkeit einer geistigen Epidemie aus. Es läßt sich nicht leugnen, daß er im Laufe der Jahre eine gewisse Veredelung erfuhr. — Die Entwicklung des Tanzes erlitt eine jähe Unterbrechung durch den Welt krieg, der die Ballsäle vielfach in Lazarette umwandelte. Als die Waffen wieder.schwiegen, erlebten wir das be fremdlich aninutende Schauspiel einer wahren Tanzwuk. Es war, als ob der Zusammenbruch und das allgemeine Chaos jener Tage auch auf diesem Gebiete alle Grenzen gesprengt hätte. Willkür des einzelnen zer brach die überlieferten Regeln, die entfesselten Instinkte tobten sich im Foxtrott und Shimmy aus. Ainerika übernahm endgültig die Führung der tanzenden Welt und Char leston und Blackbottom, ursprünglich von Plantagenegern erfunden, wurden die Vor bilder. Es war, als ob die aufgepeitschten Nerven immer stärkerer, immer aufreizen derer Anregungen bedurften. Der Tan-! wurde zu einem Betäubungsmittel, in ' man Vergessen suchte. Allmählich ebbt die ungeheure Eri^ dieser Jahre ab. Mit der Rückkehr geord:.. Zustände macht sich auch beim Tanz wieder das Bestreben nach Anmut und Grazie geltend. Man hat die Negertänze satt, Europa besinnt sich auf sich selbst. Dieser Ursache ver dankt der englische Walzer seine Einführung, der zwar Formelemente des alten Walzers enthält, sich von diesem aber ebenso sehr unter scheidet wie der Mensch des zwanzigsten von seinen Vorfahren des neunzehnten Jahr hunderts. Zu viel Geschehen liegt zwischen Der internationale Tänzerkongreß hat eine wahrhaft salomonische Entscheidung gefällt. Ein Walzer aus dem Ausland wurde zum diesjährigen Modetanz erkürt, der „English Waltz". Er wird zwar nicht alleiniger Herrscher Ler Vallsäle sein, denn da ist noch der Tile-(Ziegel)Trot (den Bewegungen einer auf heißen Ziegelsteinen gehen den Kütze nachgeahmt) und ferner der „Tarragona", der so feurig wie der spanische Wein gleichen Namens ist, enthält er doch 70 Takte in der Minute. Immerhin — durch die ältere Generation ging es wie ein Aufatmen. Der Walzer kehrt ja wieder, wenn auch auf dem Umwege über die Fremde. Kehrt er Mirklich wieder? Um es gleich vorwegzunehmen: Der unter diesem Namen eingeführte Tanz hat mit seinem Bruder von einst nicht viel mehr als den Namen gemein sam. Es handelt sich um eine Abart des Boston, der schon ein bis zur Unkenntlichkeit entstellter langsamer Walzer war, mit den charakteristischen zwei Gehschritten nach je zwei Umdrehungen. Beim „Englischen Walzer" sind weitere Neuerungen eingeführt, z. B. vier größere /Gehschritte, dann vier Umdrehungen und das alles im 'Dreivierteltakt, aber unter noch stärkerer Hervorhebung des ersten Taktdrittels. Wir wollen uns im übrigen ent halten, an dieser Stelle den Tanzlehrern ins Handwerk zu pfuschen, denn wenn man auch in Amerika dazu über gegangen ist, mittlerweile Korrespondenzkurse für die neuesten Gesellschaftstänze einzuführen (um einem drin genden Bedürfnis abzuhelfen!), so dürfte der Wert eines so trockenen, theoretischen Unterrichts dach noch recht fraglich sein. Daß die Freunde des alten Walzers nach dieser Er klärung von der Entscheidung der obersten Tanzbehörde nicht sehr erbaut sein werden, wer wollte es ihnen ver denken? Ist es nicht menschlich verständlich, daß sie den Neuesten Tanzschöpfungen nur ein wenig Geschmack abzu 7n den ersten Nachkriegsjcihren sprengt auch ans dem Gebiet des Tanzes Hein- mungslosc Willkür alle überlieferten Formen. Ebenso wild wie die Rhythmen der exotischen Weisen sind die verkrampften Bewegungen der tanzenden Paare. alters, ging auch eine Wandlung der Tanz- sitten Hand in Hand. Damals schlug die Geburtsstunde des Walzers, der bei seinem ersten Erscheinen nicht weniger leidenschaftliche Meinungskämpfe auslcste als etwa hundert Jahre später der Tango. Die alten Herr- schäften sahen in ihm nicht nur den Verderber guter Sitten, sondern den „Alliierten der Schwindsucht und des Todes" und auf Hof- bällen erwarb er sich bis in die neueste Zeit hinein keine Heimatberechtigung. Und dach konnte dies alles seinen Siegeszug nicht auf- halten, weil er eben so ganz dem Charakter seiner Zeit entsprach. Der Walzer war leicht zu erlernen, war kein Schautanz, für den kost- bare Gewänder benötigt wurden, und seine prickelnde Lebendigkeit, strömend aus der ur gesunden Daseinsfreude des aufstrebenden Bürgertums, stand im bewußten Gegensatz zu der etikettestrengen Geziertheit der Zopfzeit. Daß be gnadete Musiker wie Lanner und Strauß sich dieses Tanzes annahmen und daß sie ihm schmel zende Melodien unterlegten, kam seiner Beliebtheit und Verbreitung natürlich zugute. Wenn Wien noch heute von seinem Ruhm als Walzcrstadt zehrt, obgleich auch dort die Jazzband schon lange ihren Einzug gehalten hat. ist es nicht zuletzt das Verdienst dieser Männer. Aber obgleich der Walzer sich ungewöhnlich lange hielt, obgleich weder die böhmische Polka noch die pol vie Nüdrkehr geordneter Zustände findet auch im Ballsaal ihre» Widerhall. Im neuen Mode- tanz, dem „Englischen Walzer", schwingt die Erregung vergan gener Tage nur mehr leise nach. einst und heute; die Vergangenheit mit ihren An schauungen, Sitten und Moden kehrt nicht wieder. Daruiq sollten auch alle, die gern vergangener Zeiten gedenken, sich bewußt sein, daß wir den« Rad der Geschichte nichk in die Speichen fallen können, nicht einmal auf Lenh Gebiete des Tanzes. Karl Kasper.