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Linen Lommel lang.. Soläalenski;;« von Köberl Vkeikfer-Magcleburg. , Sehen Sie, ich habe mir das ganz genau gemerkt, es war 17, als ich auf Urlaub kam. Und zwar zur Frühjahrsbestellung ^konnte ich fahren. Das alte Fräulein da, wo Karl vorher in Pension war, die hatte mir doch immer Päckchen ins Feld geschickt, warme ^Strümpfe und so, und wollte nun alles genau von mir wissen. Viel wußte ich auch nicht... aber ich schrieb ihr gleich ivon Metz auf dem Bahnhof, wo ich lange liegen mußte, ich käme auf Urlaub, und ob ich sie einmal besuchen sollte am Sonntag. Und ich bekam gleich Antwort, ich sollte ja kommen, mnd jeder Tag wäre recht... Na, und Sie kennen das alte Fräulein ja auch! Sie war so eine Art Mutter zu ihm, zu Karl, wo er so lange da wohnte, wie er ans Schule war... Zum ersten, da machte sie mir gleich selber die Türe auf, als ich geklingelt hab. Und wußte gleich, wer ich war. An meiner Kluft sah sie das, obwohl ich die sehr gebügelt hatte zu Haus. Und dann ließ sie mich gar nicht zu Worte kommen. Ich mußte mich setzen und essen, sie waren gerade beim Mittag... Ich hatte zu Hause gegessen, aber ich mochte nichts sagen, es waren ein paar junge Mädels da, das wußte ich ja alles von Karle, aber ich war doch verlegen... Und dany brachte das Fräulein noch Kaffee und Kuchen.' Gefragt hsben sie gar nicht, aber gequält haben sie mich doch,! immer sollte ich nehmen und zulangen sollte ich, und hätte! doch lieber erst alles gesagt. Bis dann die Mädels untereinander erzählten, Anneliese! fehlte noch in dem Kreis... da platzte ich raus: ja, mit der hätte er sich soviel geschrieben. Und da sahen sich alle dumm! an, und die Tante, wie die Mädels sie nannten, die sagte:! »Auch das noch!" und dann konnte ich reden. " „Wir waren ja beide in einer Gruppe, und wie das so ist,, man sitzt und wartet, ob man heute dran kommt oder erst morgen. Ob man ins Lazarett kommt bei dieser Ablösung,' oder gleich unter die Erde. Und der Leutnant wirft dann die erste Schippe voll Erde aufs Grab." „Seh'n Sic" — hab' ich gesagt — „nicht etwa, daß man Viel redet. Wir sind sehr schweigsam, da draußen. Und doch, wenn man zu zweien im Unterstand hockt und weiß nicht, was wird in der nächsten Minute, und wenn man auch nichts sagen will, man denkt manchmal laut, das ist alles... Unt so hat er mir einiges anvertraut; und wie soll auch ein Mensch von neunzehn Jahren wie Karl alles für sich be halten, was ihn bewegt... Früher schon, wenn so ein Brief kam öfters, da sang er immer so vor sich hin: ,Süßes seliges Verstecken — einen Sommer lang.' Manche uzten ihn ja und sagten zu ihm ,langer Sommer', über mir sagte er, das Lied hätte ein Vetter von ihm kompo niert, er hätte es immer gesungen voriges Jahr, und Anneliese hätte Klavier gespielt. Ja, von ihr kämen die Briefe jetzt, aber im Herbst hätte er sich gar nicht mit ihr vertragen. Sie wäre Wohl ein guter Kamerad gewesen soweit, bloß dumm und rechthaberisch, wie die Mädels so sind... Ja, so sagte er... Aber auch erst, fügte er gleich hinzu, als er von dem Rekrutendepot zur Ersatz- lompanie wäre gekommen. Da hätte sie ihn gebeten, er sollte sich doch nicht freiwillig ins Feld melden. .Robert', sagte er, ,von da war ich wütend und ließ sie stehn... Und einmal sagte sie gar, ich sollte warten und lieber zum Arzt gehen. Ich wäre zu jung und zu schwächlich dazu. Ich sollte erst mal die Männer rausgehen lassen. Da habe ich ,dumme Pute' zu ihr gesagt und ich wäre ein Mann. Siehst du, Robert, da hat sie kein Wort zu gesagt und hat auch zu Hause bei Tante Ottilie keine Spur merken lassen, daß wir verkracht sind. Am anderen Tage zu Mittag fragte sie mich, ob ich was zu rauchen hätte, und gab mir eine Schachtel mit fünfund zwanzig Stück: Männer, sagte sie, müßten doch was zu rauchen haben!' Das ist eigentlich alles, was ich darüber weiß... Nur an dem Unglückstäg, am Ende des Sommers, da hat er mir noch mal etwas gesagt: Wir sollten an dem Tage abgelöst werden. Und. wir waren recht froh, aber vorher, ehe wir in Stellung gingen, hatte er ihr wohl einen recht niedergeschlagenen Brief geschrieben..'. Ja, so ist es manchmal, daß man seine Ver zweiflung schreibt, die man nicht laut werden läßt. Aber sie hatte ermunternd geschrieben, es wäre ja bald aus, oder er käme nach Hause auf Urlaub... ,Wer weiß', sagte er, »wann... Weißt du', sagte er weiter, ,das ist was, das ich dir sagen will... Zu Weihnachten hatte sie mir Zigaretten geschenkt, recht viel... Und ein paar Tage später, wir waren schon eingekleidet — du weißt, wir kamen am dreißigsten raus — da holte sie mich von der neuen Kaserne ab. Es war schon Abend, und neblig war's auch. Vor dem Hause, in den Anlagen noch, machte sie halt. Sie sagte. Na, denn mach's gut, wenn du rauskommst und komme bald wieder — gesund!... oder so ähnlich, sagte sie und zog ihren Handschuh ab. Und, wenn du dich für mein Ge schenk noch bedanken willst, so tue es jetzt, wo uns niemand sieht... Ja, so war's, und ich drückte ihr nun die Hand, daß sie Au sagte, und bedankte mich. Und dann lächelte sie wieder so, daß ich mich ärgerte, und sagte: Männer sollten wissen, mit Frauen umzugehen! Vielleicht hat sie das gesagt, weil ich ihr Weh tat... Viel leicht aber, sagte er leise und sah ganz woanders hin, als zu mir, har sie von mir einen Kuß haben wollen?' Ich sagte: ,Ja, Karle, das scheint mir bald so'... Und wir sprachen davon nicht mehr. Wir wurden dann abgelöst... Wir waren schon fast aus den Laufgräben heraus. Nur noch ein Stück, ein paar hundert Meter Abstieg nach der großen TranchLe... da schlug noch ein großer Brocken ein... weit weg. Und Karl stolperte vor mir im Graben, wankte zur Seite und fiel hintenüber. Ich fing ihn im Fallen und rief ,Halt' und ,Sanitäter!' Doch eh die kamen, war er schon leer von Blut, das aus der Brust floß in einem Strome... von einem Splitter... Die ganze Seite war offen... ,Robert, du weißt, wem du zu schreiben hast', sagte er nur. Ich sagte: ,Sei doch nur ruhig, wir tragen dich raus!' >— Ich band das Loch zu und wir trugen ihn. Er war schon ganz bleich und still... Als wir zur Straße rauskrochen — es war schon dämmrig — stand da der Hauptmann bei seinen Pferden. Er wollte uns durchgehen sehen und dann runterreiten. Ein feiner Mann war das, Hauptmann von Hacke. Er kam sogleich näher und fragte, was wäre. Ich sagte nur das: .Karl Martin'... Er sagte: ,Was macht denn der noch für Geschichten jetzt noch?' — Er trat zu der Bahre und bieß einen sein Pferd halten. Er wollte mit Karl reden, aber der war schon weg. Da nahm er den Helm ab und drückte Karlen die Augen zu. Er trat dann beiseite und schneuzte sich so, daß sein Fuchs hoch den Kopf aufwarf... Und dann ging er zu Fuß hinter der Bahre her Lis nach Thillot und ließ den Burschen die Pferde heimreiten. Und rief mich an seine Seite: ,Gustav Müller', sagte er da, du warst doch sein Freund! Wie sang er denn immer, der arme Prophet: Einen Sommer nur lang!... So ähnlich war's doch?' Und bei den Worten da rasselte das in seiner Kehle, als ob er den Husten hätte, wer weiß wie sehr. Es ging ihm wohl nahe..." Oie Eesekiekte vom metit abgerissenen Knopf. Cin ferienerlebnis Die Großen Ferien! Wie klein erschienen sie mir damals, als ich sie das erste Mal erlebte. Wie schmerzlich war es mir, Laß ich Anfang August wieder heimfahren mußte, wo ich bis dahin doch immer den ganzen Sommer hindurch bei den Groß eltern in der schönen alten Ostseestadt gewesen war. Doch von einem anderen Erlebnis will ich ;a erzählen, daß sich ein paar Jahre später dort begab und das sehr schmerzlich, das mehr als Lose hätte werden können, wenn nicht Aber ich will nicht vorgreifen. Endlich saß ich im Zuge, mit vielen anderen lechzenden Menschen, die auch schon von Meer und Sonne träumten wie ich. Ich träumte vor allem vom Hafen und seinem Teergeruch. Ja, ich spürte ihn schon in der Nase; er galt mir mehr als die Schiffe, war gleichsam das Segel, mit dem ich hinausfuhr in die Weite der noch mächtig zauberhaften Welt. Wie schön, daß die Großeltern nahe dem Hafen wohnten. Gleich war es geschafft! Kaum hielt der Zug, sprang ich hin unter. Ich rannte Wohl fast durch den neueren Stadtteil; der gleichen hatte ich selber zu Hause. Es ging in die Altstadt, bergab durch die winkligen Gassen. „Bergab" hieß zum Hafen hinunter. Doch jetzt, !n die „Großelternstraße" hineinsteuernd, sah ich ganz unten, ganz fern schon die Masten der Segler. Der frische Wind brachte Teergeruch her. Die Stiege des kleinen alten Hauses war nur vom Hofe aus zugänglich. „Klas", ries ich voll Spannung, „Klas", kaum daß ich in den Torweg einbog. Und wirklich, er lebte noch immer da aus dem Hofe, der uralte Rabe, und hüpfte heran und schlug mit seinen erlahmten Flügeln. Ich meinte: aus Freude des Wiedersehens. Die ausgetretene steile Treppe zum zweiten, dem obersten Stocke hinauf, die Tür aufgellinkt, und ich stand in der Groß eltern Wohnstube. Vorn auf dem Tische am Fenster saß Groß vater Schneidermeister und legte die letzte Hand an den Rock des — ich weiß nicht mehr, wer auf dem Kanapee wartete. War es ein Jungbauer, der sich den Hochzeitsrock anpaffen ließ oder, der Herr Bürgermeister, der einen neuen Bratenrock brauchte?! Ich weiß nur noch: in den zwei Menschenaltern, die Großvater, werkte, hat er aus allen Ständen und Zünften so manchen« Meister und Doktor, so manchen Handwerksmann, manchen- Landwirt vom ersten „erwachsenen" Nock an zu treuen Kun-' den gehabt. , Und nun vom Tische herunterkletternd, besah er sein' Werk an dem Kunden von allen Seiten, zupste hier noch und' Sa. Der Kunde sah keinen Mangel mehr, aber der Großvater' fah noch die winzigste Unebenheit, stieg zurück auf den Tisch und' von Harry pru<ö. trennte die Naht wieder auf. Nie sah ich bei ihm eine Näh maschine. Er hatte so eine besondere Art, den Zwirn zu zwir beln, und zog ihn außerdem durch ein Stückchen Wachs. Jetzt saß der Rock. Und hielt! Und hielt! „Schlüter, was machen die Knöpfe", begrüßte er mich.! Ich hieß der „Schlüter". Denn Großmutter, die so manchen, „Schlag" an ihre acht Kinder verteilen zu müssen für richtig, befunden, sah auch den Lehrerberuf, für den ich damals schwärmte, etwas sehr vom „Hand"-Werklichen aus. Sie wußte das nicht so genau. Sie war noch von denen, die niemals lesen, und schreiben gelernt. Aber Flundern zu backen verstand sie. Es', duftete längst aus der Küche, und während sie uns nun mein Leibgericht auftrug, mußte ich Großvater eingestehen, daß ich auch diesmal die Wette verloren. Ich hatte es wiederum seit vergangenem Sommer nicht geschafft, die Knöpfe abzutragen!' Die Knöpfe, die Großvater annähte, rissen in aller Ewigkeit nicht Jetzt aber hinunter zum Hafen, die Schiffe bestaunen und Teergeruch atmen — und träumen! Zwar gab es auch in der Großeltern Wohnung etwas ganz Wunderschönes zum Träu men: im Schlafzimmer über den riesigen Betten das Oberlicht fenster, durch das man — im Bette liegend! — die Sterne sah... Aber noch lachte die Sonne! Es hielt mich nicht länger. Der Schlüter sprang also hinaus und gab sich am alten Ge länder den nötigen Schwung, um die Stiege Hinunterzutoden wie daheim die gewohnte Treppe. Doch hier auf den steileren, schmaleren Stufen verlor er das Uebergewicht, schoß übers Ge länder und sauste kopfüber zum Fenster hinaus, dessen lange Flügel zum Hof hin geöffnet standen. Der Kopf des Stürzenden kam knapp an dem eisernen Zapfen vorbei, der — für die Laterne an Winternachmittagen — unter dem Fenster zwei Hände breit aus dem Gemäuer Hervorstand... schon streifte der Buckel des Zapfens die Brust, fuhr hinter die Jacke, die zugeknöpft war, verfing sich am obersten Knopfe — ein Ruck — ein Schwung — und: trotz des Auswuchtens, Groß vaters Stoff riß nicht aus, des Großvaters Knopfloch hielt stand, des Großvaters Knopf riß nicht ab. Der Schlüter baumelte zwischen dem zweiten und ersten Stock. Hier wohnte der Meister Tischler und, ehe der Großvater recht begriffen, kam jener mit einer Leiter hinabgerast auf den Hof und befreite den aus der Betäubung erwachten schreienden Schlüter. Er war gerettet, ganz heil gerettet. Ohne Großvaters un verwüstliches Handwerk, ohne den nicht abgerissenen Knopf hätte ich damals den Sturz auf den Hof getan und könnte viel leicht heute des Großvaters nicht mehr gedenken, nicht mehr des Hafens mit seinem Teergeruch und der herrlichen großen Ferien. Erlebnis in ?elclgrau. Von Oläre Meit;«!. s Zwischen zwölf und zwei Uhr mittags rollt der gewaltige Transportzug in die Halle, schnaubendes vielfüßiges Riesentier, zum Bersten gefüllt mit Leben. Unter dem rauchgeschwärzten Glasdach brütet der Juli. Die Luft ist zum Schneiden dick in dieser Welt von Ruß, Eisen und Beton. Aus den Türen des Transportznges quellen graue Menschenbäche und überschwemmen weithin den Bahnsteig. Der Brunnen wird gestürmt, der Zeitungsstand, der Kiosk mit den Getränken. Alles raffen sie, was des Raffens wert ist und nach Heimat riecht. Jeder einen Fetzen, jeder einen Schluck... Marianne betrachtet von ihrem Fensterplatz aus daS Treiben. Sie sieht die stumpfe Hast der Gebärden, sie sieht ab getragene verblichene Uniformstücke um ausgemergelte Glieder hängen, viele dieser Uniformstücke schimmern gelb. Der Graben, denkt Marianne... Lehm... Aus welchem Winkel blutender gepeinigter Erde mögen sie kommen. Wohin gehen? Ach, nichts weiß man von ihnen. Nur das eine: Wir haben keine Zeit... Leute steigen zu Marianne ins Abteil. Drüben hat die ungeheuere Waqenschlange Mann um Mann aufgesogen; man hört das SchneÜfeuer der zukrachenden Türen, und dann schreit die Lokomotive. Durch den Schlangenleib geht klirrend ein Rütteln wie Getöse gigantischer Waffen... Eine ganze Weile später erst bemerkt Marianne, daß sie die Hände gefaltet hat. Sie bemerkt, daß ihr eigener Zug fährt, daß der Himmel blau und das oft geschaute Vorstadtbild dasselbe ist wie immer und daß ihr gegenüber ein junger blonder Offizier sitzt. Er hat ein braunes Gesicht, Haut und Knochen und sonst nichts, un» er blickt sie an mit den harten, unergründlichen Augen des Grabensoldaten. Du, denkt Marianne, und ihr Herz streichelt ihn, streichelt sein feldgraues Kleid. Wie jung er ist! Wie tief und reich der Bogen seines Mundes! Und wie den stählernen Kelch dieser Knabenaugen traumsüchtiges Sehnen füllt. Ein Stein aus der grauen Menschenmauer da draußen. Vielleicht ein Eckpfeiler, wer weiß. Unerhörtes wird von der Jugend in Feldgrau vollbracht. Dieser schmale junge Soldat ist wie eine gehärtete Klinge... Wind spielt sanft von Fenster zu Fenster. Inseln roter Geranien glühen in der kahlen Front rauchdunkler Gebäude auf den Bahnhöfen. Ein paarmal geht die Lür. Ein paarmal greift jemand nach dem Gepäck und taucht draußen ins blendend heiße Licht des Mittags. Zuletzt verläßt die Dame mit dem Kind das Abteil. „Erlauben Sie, bitte!" spricht der junge Offizier und löst eine Falte von Mariannes Sommerkleid aus der Türspalte. Seine Hand hängt an dem duftigen Stoff und kann sich nicht trennen. Ein Frauenkleid. Das Kleid einer jungen, über alle Maßen lieblichen Frau... Marianne gewahrt seine Erschütte rung. Ein wenig zittern ihre Lippen, während sie sich willig in die Gewalt dieses fremden Antlitzes gibt. Vor dem Fenster jagt die sommersatte Landschaft vorüber. Wind tummelt sich zwischen ihren Gesichtern, ist warmer goldener Schauer, Brücke, groß und schimmernd ins Unendliche gespannt... Marianne hat Obst in 'hrer Tasche, reife wundervolle Pfirsiche. Sie bietet ihm mit einer zarten Bewegung davon an. Er ist durstig, und er nimmt die Früchte gern. Ihre Finger berühren einander. Er kommt von einem mehrtägigen Urlaub, den er bei seinen Angehörigen verbracht hat. Der Urlaub ist morgen zu Ende. Nun geht er wieder nach vorn ... Die Worte fallen sparsam. Marianne gibt ihm alle Pfirsiche, die sie hat. Dann zieht sie ihren Weißen Hut aus dem Gepäcknetz und drückt ihn in das braune Haar. Die nächste Station ist ihre Station. Sie lächelt ihm zu. Rein mechanisch, mit seltsam Weichen Knien, steht sie uns, wie blind tastet sie nach dem Fensterriemen. Er stellt sich neben sie. „Wenn ich Ihnen schreibe... irgend einmal... würden Sie mir ant worten?" Marianne bleibt stumm. Ihr Blick ist in die Landschaft vergraben. Ueberall arbeiten Leute auf den Feldern, sie schneiden das Korn. „Ich heirate nächste Woche", sagt Marianne. „Ich erwarte jeden Tag meinen Verlobten vom Lazarett zurück, er braucht nicht mehr hinaus ..." Sie lauscht nach dem fremden jungen Leben an ihrer Seite. Da nichts erfolgt, fährt sie fort: „Mein Verlobter ist zwanzig Jahre älter als ich. Ich kenne ihn schon lange, ich war noch ein Kind, er brachte mir oft Schokolade. Meine Mutter und ich haben ihm viel zu danken, dennoch erschien mir der Einsaü meiner Person immer zu hoch als Gegenwert. Dann kam der Krieg. Und für uns, die wir daheim geblieben, ein Rausch des Schenkens. In seinen feldgrauen Kleidern nahm er Abschied von mir — und da gab ich ihm als Legzehruna mein Wort!" Der Zug donnert über Weichen, aus der Landschaft schälen sich die Umrisse einer großen Stadt. Marianne reicht dem Fremdling in Feldgrau ihre Hand Der nimmt die Hand, halb Beutestück, halb Kostbarkeit, und umklammert sie eisern. So ist das draußen bei ihnen. So hält man do.t Errungenes! Auch Errungenes, bereits wieder Verlorenes. Manchmal wirst ein Stoß der Achse das Mädchen dem Mc nn an die Schulter. Dann treffen sich ihre Augen, feierlich, bebend, und Marianne sieht die Soldaten eilen und ihre Becher füllen, sieht sie rennen um einen Schluck Labe und dürstend trinke, ... „Treu... wir müssen treu sein..." Marianne kann sich nicht besinnen, hat sie es gesagt oöe^ nur gedacht. Die Räder verlangsamen ihre Umdrehungen. Zum Fenster herein rauscht der geschäftige Lärm einer riesigen Bahnhofs halle. Der junge Offizier hebt die Mädchenhand an seine Lippen. „Gott behüte Sie!" flüstert Marianne. Alles Leben ist in ihre Hand geronnen... Sie verlaßt das Abteil, anmutig flattert das lichte Sommerkleid um ihre Gelenke. Sie sieht sich nicht mehr um. Dann liegt der lange Durchgang hinter ihr. Verloren wirft sie einen Blick zurück. Die Stelle, wo der Zug gestanden hat, ist leer... Die letzte Kriegswitwe von 1812. Sie ist eine Deutsche, die letzte Kriegswitwe von 1812. Sie lebt allerdings in Buffalo, in den Vereinigten Staaten,' und ihr Mann, Darius King, hat sich in dem Kriege aus-! gezeichnet, den Amerikaner, Briten und Indianer vor fünf viertel Jahrhunderten um den Besitz von „Gottes eigenem Land" ausfochten. Der Mann gehörte zur Besatzung von Fort Niagara und soll den General Brock erschossen haben. Kein Wunder also, daß man einer Straße in dem Heimat- dörflein des verdienstvollen Kriegers seinen Namen verlieh. Inzwischen hat er das Zeitliche gesegnet. Seine Witwe aber steht nun als Einzige auf der Liste der Kriegswitwen von« 1812. Sie war erst vier Jahre alt, als sie mit ihren Eltern die deutsche Heimat verließ. Sechzehn Jahre später heiratete sie den Veteran von 1812. Der zählte bei der Eheschließung bereits 70 Lenze. Daher kommt es, daß die Witwe des Veteranen von 1812 heute noch so jung ist, nämlich „nur" 87 Jahre alt...