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Wilsdruffer Tageblatt : 01.08.1936
- Erscheinungsdatum
- 1936-08-01
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193608011
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19360801
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19360801
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1936
-
Monat
1936-08
- Tag 1936-08-01
-
Monat
1936-08
-
Jahr
1936
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 01.08.1936
- Autor
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Zporlkampf Nervenprobe Oi« Leistung unserer 2eit — Von ksurt Ooerry Oer Nitt. ein Jahr spater in Los Angeles olympischer Sieger im Weit sprung werden würde. Aber die Last der auf ihm ruhenden Verantwortung mag ihn erdrückt haben; er kam mit keinem seiner Sprünge über 7,45 Meter und wurde nur Dritter. Am Tage darauf sah ich ihn am Dreisprung teilnehmen. Hier sprang er unbeschwert, vielleicht mit einem Gefühl der „Wurschtigkeit", und — welches Wunder! — auf einmal hatte Nambu seine Nerven wieder, sprang, alle früheren Leistungen auf diesem Gebiet übertreffend, 15,72 Meter... Amor schießt mitten in ihnen seinen Pfeil in Sen blauen Sommerhimmel. Es ist Spätnachmittag und tiefe ländliche Stille ruht über allem . . . Das tägliche Training ist beendet. Nun hat das junge Mädchen in der weißen Uniform ein wenig Zeit um zu er zählen. Wir gehen durch den Gang, an dem die Schlaf zimmer liegen, zu dem Speiseraum. Kleine Fähnchen ihres Landes haben sich die Australierinnen au ihre Türen gesteckt. Im Speiseraum ist schon der Abendbrottisch gedeckt. Englische Küche. Glastüren öffnen sich von'dem Raum weit zu den grünen Flächen hin. Darüber steht hoch und hell der Him mel. Ein blasses Rosa hat sich in ihn hineingeschoben. Das junge Mädchen in der Weißen Uniform strahlt. „Es ist fabelhaft und macht furchtbar viel Spaß. Die Australierinnen sind reizend. Wenn alle Sportlerinnen so nett sind, können wir uns gratulieren. Wir haben sie vom Bahnhof abgeholt. Hier sind wir nun den ganzen Tag draußen. Um 8.30 Uhr treten wir an. Begleiten die Mann schaft zum Training Zweimal am Tage wird trainiert, morgens und nachmittags. Es ist sehr interessant für uns, das Training zu beobachten. Und es ist ausgezeichnet, daß wir besonders in den Sportausdrücken geschult worden sind. So können wir uns mit ihnen über alles unterhalten und sie fragen uns beim Training auch manchmal, ob sie dies oder das richtig machten. Wir springen bei, wo wir können. Harken die Löcher weg, die sie beim Ueben machen, und solche kleinen Dienste, die es ihnen erleichtern. Dafür sind sie sehr dankbar. Neulich waren wir mit ihnen ,shopping'. Das hat Spaß gemacht. Sie haben sehr viel gekauft. Kleider und Schuhe, Mäntel und Photoapparate. "Sst knipsen dauernd. Auch uns, jetzt schon. Damit sie ja genug Bilder von uns mit nehmen können. Sie finden alles billig und kaufen auf Qualität. Den ganzen Tag in einer fremden Sprache reden, ist natürlich erst mal etwas ermüdend. Manchmal fehlen uns auch noch einzelne Wörter. Dann fragen wir und lernen dazu. Die Australierinnen wollen auch Deutsch lernen. Sprechen uns die Worte nach mit ulkiger Aussprache. Sie interessieren sich für alles. Gestern waren wir mit zwei Autos in Potsdam. Da gab es viel, was sie interessierte..." Frisch und lebendig, ganz von der Aufgabe erfüllt, er zählt sie das alles. Und genau so eifrig werden zweifellos all die anderen Frauenmannschaften umsorgt, die Argen tinierinnen, die Japanerinnen . . . „Es macht so viel Freude. Wir haben uns schon angefreundet und sic haben ge sagt, wir sollten sie in Australien besuchen . . ." Ha, Jugend findet rasch und leicht zueinander. Das ist eins ihrer großen Vorrechte . . . und eine Hoffnung für dir Zukunft der Welt. Man kennt die Läufer und Springer, Speerwerfer und Kugelstoßer, die vor wichtigen Endkämpfen blaß, aufgeregt und ruhelos auf dem Rasen des Jnnenraums umherwandern, schließlich zitternd am Start erscheinen und — versagen. Sie können nichts dafür; sie hatten den festen Willen, alle Kräfte einzusetzen, aber im entscheidenden Augenblick waren sie nicht Herren ihrer Nerven. Vielleicht hatten sie ihre seelische Kraft in einem allzu harten Training verbraucht; nun, da es ums Ganze ging, war auf einmal der stählerne Wille dahin, und die Zehntausende von Augenpaaren, die von den Sitzreihen des Stadions aus auf die kleine Schar oer Kämpfer im Jnnenraum hinabsahen, erblickten einen Unentschlossenen und schon Unterlegenen, ehe der Kampf auch nur begonnen hatte. Große internationale Kämpfe, vielleicht gar um olympischen Lorbeer, erfordern ein starkes Herz und besondere Schulung. Wer diese nicht hat und mit der Atmosphäre der olympischen Arena nicht vertraut ist, erreicht selten seine beste Leistung. Auch Ernst Hirschfeld erreichte sie im Jahre 1928 in Amster dam nicht, obwohl er im Kugelstoßen vorher Leistungen voll bracht hatte, die zu Hoffnungen auf einen olympischen Sieg berechtigten. Und als er vier Jahre später in Los Angeles startete, kam er wiederum nur auf den dritten Platz. Er hielt damals mit einem Wurf von 16,04 Meter den Weltrekord, kam aber in dem Augenblick, in dem viele deutsche Hoffnungen auf ihn ruhten, mit keinem seiner Würfe über 15,56 Meter. Eine bewundernswürdige Leistung seelischer Konzentration vollbrachte dagegen der Ire vc O'Callaghan, der im Hammer werfen mit seinem letzten Wurf den olympischen Sieg errang. Wir brauchen harte, entschlossene, im Vollbesitz ihrer Nervenkraft kämpfende Männer — nicht nur im Sport. Die Vorbereitung der deutschen Sportjugend auf die Olympischen Spiele des Jahres 1936 zielte daher in erster Linie auf Härte, Ausdauer und seelische Widerstandskraft ab. brjäklung von frieä» Veli;. Graue Mauern und hohe Fenster, eines wie das andere, dicht nebeneinander... und im Innern ein Gewirr dunkler Fliesenoänge, in denen der Schritt sich verfängt. Die da vom Sonnenlicht hereinkommen, zaudern an der Tür. Wie ver flogene Schmetterlinge sind sie plötzlich, die haften bleiben, wo es am hellsten ist. Türen fallen wie tiefe Schatten in die Gänge, nnd der Schwestern Röcke rauschen wie die Schwingen großer Vögel... Das ist ein Wunder, wie diese Frauen gehen, ohne Füße, glaubt man, und muß lauschen und ihnen ms Gesicht Wen, das wie «Ster weißem Wachs lebt. Man sah sie nun schon oft im Stadtbild Berlins, die jungen Mädchen im weißen, flotten Leinenkostüm, in der weißen Hemdbluse mit blauem Schlips und mit dem weißen Käppi auf dem Kopf. Diese jungen Mädchen in weißer Uni form stehen unter dem Zeichen der fünf Ringe. Sie leisten Ehrendienst bei den weiblichen ausländischen Sport mannschaften . . . Fünfzig junge Mädchen sind es. Im Alter von achtzehn bis zwanzig Jahren. Zum größten Teil lunge Mitglieder von Berliner Sportvereinen und eine Gruppe von Schülerinnen. Man wählte junge Sportlerinnen, weil sie — sportlich ge schult — am besten auf die Gäste und ihre Wünsche emgchen können. Und manche zukünftige Teilnehmerin an den Spielen mag unter ihnen sein, die so Gelegenheit hat, mit Olhmpia- mitgliedern in Berührung zu kommen und sich anzufreunden. 'Zwei Jahre sind sie auf den Ehrendienst hin sprach lich geschult worden. Französisch und hauptsächlich Englisch. Den Unterricht haben sie aus eigener Tasche be zahlt. Einen Abend V^er Woche haben sie Schule gehabt. Sportausdrücke, Worte um Bahnhof und Haus herum — kurz alle Gebiete mit denen sie bei ihrem Dienst in Berüh rung kommen. Sie erhielten Vorträge vom Olhmpia- Derkehrsverein. Lernten eine Stadtführung. Und so fort. Neben den Sprachkenntnissen muß natürliche Gewandt heit vorhanden sein Die sich nicht eigneten, wurden im Laufe der Ausbildung zurückgestellt. Nun werden die jungen Mit glieder des Ehrendienstes ihren Fähigkeiten nach eingesetzt. Diejenigen, die schon im Büro tätig sind, kommen beispiels weise in das Postamt, das sich draußen beim Frauenheim — Wo die Frauenmannschaften wohnen — befindet. Die ausge sprochenen Sportlerinnen begleiten die Mannschaften zum Training. Die Mädchen springen überall ein. Sie stehen als Dol metscherinnen zur Verfügung. Sie holen' die Mannschaften vom Bahnhof ab. Helfen ihnen bei Gepäck und Zoll. Bei der Post. Machen sie mit dem Haus, in dem sie wohnen, vertraut. Begleiten sie in die Stadt zum shopping. Zu Be sichtigungen. In das Theater. —. Die erste Frauenmannschaft, die auf dem Reichssportfeld inngetroffen ist, die der Australierinnen, hat das ehemalige Frauenheim bezogen, in dem die Sportstudentinnen wohnten. Es liegt — ein kleiner Traum — inmitten der Hellen Weite des Reichssportfeldes. Aus seinen Fenstern sieht man auf der einen Seite die Weite des Svortaeländes hinein. Veber leuchtend grüne Flächen, in denen in farbigem Kontrast rote Klinkerbauten liegen. Nach der anderen Seite blickt man von der Höhe hinunter über Bäume hinweg, bis weit nach Spandau hinüber. Blumen Umstehen das Haus. Ein kleiner Die großen sportlichen Entscheidungen haben immer Wieder die Erfahrung bestätigt, daß meist nicht der stärkere Muskel, die größere Kraft, die bessere Technik oder — wenn es sich um ein Spiel wie Fußball oder Tennis handelt — die überlegene Taktik entscheidet. Je größer der Einsatz, je bedeu tender die Trophäe ist, die als Siegeslohn winkt, desto wich tiger ist die Rolle, die in diesen sportlichen Kämpfen den Nerven zugewiesen ist. Ja, man kann ohne Uebertreibnng behaupten, daß es in erster Linie die Nerven sind, die über Sieg und Niederlage entscheiden. * Dies beleuchtet besonders der Sieg, den Freiherr von Cramm einmal in der französischen Tennismeisterschaft in Paris gegen den besten Spieler der Welt, den Australier Craw ford, errang. Es war ein schwer errungener Sieg. Im elften Spiel des vierten Satzes stand es 40:15 für Crawford; der Australier brauchte nur einen Gewinnpunkt, um mit 6:5 zu führen. Aber er vermochte diesen einen Punkt nicht zu machen und hatte ihn auch vorher nicht machen können, obwohl er auch schon mit 5:3 geführt hatte. Bei 5:3 für Crawford gewann Cramm vier Spiele hintereinander. Er zeigte in dieser kritischen Phase des Kampfes die besseren Nerven und gewann schließlich auch den entscheidenden fünf ten Satz, trotz verzweifelten Widerstandes seines Gegners, mit 6:3. Gerade im Tennis, das höchste Konzentration und damit stärksten Einsatz auch der seelischen Kräfte erfordert, hat man es ost genug erlebt, daß der Spieler mit den stärksten Nerven die Oberhand behielt. Kämpft der Tennisspieler auf heimat lichem Boden, vor seinen Landsleuten, die ihn mit fanatischen Beifallskundgebungen zur Hergabe der letzten Kraft anspornen, o wächst er oft über sich selbst hinaus; spielt er in einer ihm remden Umwelt, in der die Sympathie der Zuschauer auf eiten seines Gegners ist, so erreicht er nur selten seine Höchst- orm. Ein anderes Beispiel hierfür war das sensationelle Versagen der früheren Weltmeisterin Suzanne Lenglen, als sie im Jahre 1921 in Forest Hill in den Vereinigten Staaten gegen Amerikas Meisterspielerin Molla Mallory antrat und zu Beginn des zweiten Satzes, nachdem Frau Mallory den ersten 6:3 gewonnen hatte, nach einigen Doppelfehlern völlig die Nerven verlor und weinend an der Seitenlinie zusammen brach. In Claude Anels Buch über die „göttliche Suzanne" wir- ihr versagen allerdings auf körperliche Indisposition zurückgeführt, aber es ist nicht anzunehmen, daß die Welt meisterin ihren Ruhm in Amerika aufs Spiel gesetzt hätte. Wenn sie nicht im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen wäre. Wahr scheinlicher ist schon, daß das leidenschaftliche Eintreten der ,'Amerikaner für ihre Meiflersptelerin in einer so betonten sWeste geschah, daß die Französin seelisch zermürbt wurde. i * Die Nervenprobe ist im sportlichen Kampf häufig beson ders stärk, wenn dieser Kampf eine vollendete Technik erfor- 'oert. Sonst sichere Hürdenläufer reißen Hürden herunter, !wenn es um olympische Ehren geht. Dem Weit- und Höch st ringer mißlingt der entscheidende Sprung, den er sonst k-ühelos zu bewältigen Pflegte. Es gibt Springer, bei denen fjeder Sprung über eine bestimmte Weite geht. Andere voll bringen einmal eine überragende Leistung, aber dann niemals swieder. Sie haben ihre Nerven nicht völlig in der Gewalt nnd vermögen sich nicht zu konzentrieren. Japans größter Athlet, Chuhei Nambu, hatte im Jahre 1931 einen Weitsprung von 7,98 Meier vollbracht, und niemand zweifelte daran, daß er fMMen in welker Uniform Eine vom 0lympia-6krenäie«f1 erzähl« ... — Von Irmgarcl Johannes. Eine unter ihnen heißt VerottM. Mnmal stand sie an den» selben Pforte, und duckte sich wie die anderen,.und lauschte, ehe sie ihr Herz verpfändete... Aber das menschliche Herz ist ein gar eigeu Ding. Wenn der Garten hinter dem Hause nicht gewesen wäre. Jedes Jahr trieben die Linden die duftquirlend°n Blüten, die Vögel kamen wieder und das Blumenmeer spülte von den Rabatten her zu den Mauern und offenen Fenstern hin und floß über in die breiten Gänge. Wie eine Schar Sperlinge zwitscherten die Schwestern an solchen Tagen, und ihre Gesichter glühten vor Frühlingseifer. Nur jedes Mal, wenn die Pfortenglocke vom Hause herüber schellte, erstarrten sie im Lauschen einen Augenblick -— wie unter jähem Wind... Schwester Veronika aber saß mit Nadel und Faden unter der Linde, in deren Krone Jahr um Jahr ein Finkenpaar sein Nest baute. Dem sah sie zu. Ihr Herz flog mit und kehrte mit Halmen und kleinen Federn wieder und duckte sich mit dem Vogelweibchen über das fertige Nest... und wenn gar die ersten, fern schilpenden Töne hörbar wurden, waren Schwester Veronikas qualvoll mütterliche Gedanken Tag und Nacht mit all ihrer Liebe, die sie nicht verscheuchen konnte, um die nackten Vogelkinder — bis sie zum ersten Mal durch den Garten und bald daraus daoonfliegen konnten. Dann wurde die graue Schwester langsam wieder still... Das neue Frühjahr geht hart. Viele kranke Kinder gibt es in der Stadt. Darüber sprechen die Schwestern heute und tauschen ihre Erfahrungen. Schwester Veronika sitzt vor der Linde, hebt unermüdlich die Nadel mit dem Faden und gönnt es sich kaum, den Blick zu dem grünenden Baum zu heben und ihrem Geheimnis nach zuspähen. Sie ist die nächste in d^r Pflege — und wartet. Als die Pfortenglocke herüberschlägt, ist sie schon über den Kiesweg und im Haus. Ihr kleiner Koffer steht bereit, und wenige Minuten später geht sie neben der blaßgewachten Mutter durch die Straßen. „Ich kann nicht mehr, Schwester", sagt die Frau und bleibt alle Weile stehen, „die vielen Nächte schon, und die Angst... und heute, sagt der Doktor, wird die Krisis kom men ..." DaS Wort scheint sie vollends zu verstören. Freilich, das ist ein schmales Jüngelchen mit seinen sechs Jahren, da in den Betten... und die Mutter fängt an zu weinen, als sie es so liegen sieht. Vor wenig Jahren ist ihr der Mann gestorben. Das wird plötzlich wieder schreckhaft wach. „Herbertchen... erkennst du mich noch?" fragt sie. Der Junge, der beharrlich auf die weinende Mutter sieht, nickt. „Natürlich kennt er die Mutter , sagt die Schwester. Sie fühlt, dies-s Kind braucht vor allem Ruhe. „Legen Sie sich jetzt", redet sie r Mutter zu, „Herbert wird auch schlafen..." Der Junge ist der Mutter mit den Augen gefolgt, und nun die Tür sich zögernd hinter ihr geschlossen hat, lauscht er... Weint seine Mutter?... Nein, es ist alles still. Da wird das versorgte, kleine .Gesicht wieder kindlich- Doch das bleibt nicht lange so. Der Junge fährt plötz lich hoch. Er hört die Mutter weinen. Die Schwester steht auf und geht zu ihr hinein. „Das dürfen Sie nicht", sagt sie, „wenn Herbert wieder gesund werden soll." — „Wenn er nur nicht stirbt", jammert die Frau. „Das steht in Gottes Hand", ant wortet die Schwester, und als es still wird, kehrt sie zu dem Kinde zurück. Der Junge sitzt noch immer aufrecht. „Muß ich sterben?" fragt er nun auch. Die Pflegerin nimmt seine Hand und be gegnet ruhig und klar dem geweiteten Kinderblick. „Hast du Angst, Herbert?" Er nickt. „Wovor hast du Angst...? Er scheint nachzudenken, aber er weiß es nicht. „Siehst du", sagt die Schwester und lächelt. Da legt der Junge sich wieder. Es kann wirklich nicht schlimm sein... Wenn nur öi« Mutter zu weinen aufhören wollte. „Was willst du einmal werden?" fragt da die Schwester. „Ein Reiter..." „Soso, — ein Reiter..." Das ist ein starkes Wort, »nd dis Schwester hält es fest. „Kannst du schon reiten?" fragt sie. „Roch nicht", zögert der Junge und verfolgt, wie die Schwester eine lange Schnur aus rhrer Tasche nimmt und sie an das Fußstück seines Bettes bindet. „Nimm das mal", sagt sie, „du kannst rechts und links dara« ziehen. Das sind Zügel. Wenn du ein Reiter werden willst, mußt du zuerst dein Pferdchen lenken lernen..." Als sie Schwester aufsieht, sitzt der Junge schon wieder aufrecht und lauscht. „Aber wenn ich nun sterben muß?" fragt er. „Dann mußt du erst recht reiten können, denn im Himmel sind viele Pferde... und denk mal! wenn du da nicht reite« könntest..." Herbert bekommt ein Helles Gesicht. „Weißt du das ge wiß, daß im Himmel viele Pferde sind...?" „Wo sollten sie sonst sein?... Im Himmel ist alles, was wir uns sehr wünschen, das ist gewiß", fügt sie hinzu. Schwester Veronika lügt nicht, denkt das Kind und greift nach der Schnur. Zügel sind das?... Es faßt sie prüfend fester... und zieht, und lenkt... und Schwester Veronika klopft leise mit dem Fuß dazu. Das ist wirklich, wie wenn ein kleines Pferd trabt. Herbert lächelt. „Ein Fuchs ist es", sagt er. „Ja, ein Fuchs", meint auch die Schwester. In Ser Nacht steigt das Fieber noch, und es kommen böse Stunden. Jetzt entscheidet es sich, weiß die Schwester. Ruhe — um Gotteswillen, Ruhe! Ruhe vor der Mutter Hin und Her, vor ihrem verzweifelten Weinen!... Also: Weiterreiten! Und die graue Schwester reitet mit dem Kinde, die ganze Nacht. Da hat es keine Zeit für den Tod, der seine Schalmei ansetzt. Der Junge lockt sein Pferd... und hört es nicht... und als der Tod seine Mähre am Zügel faßt, stellt sich das rote Pferdchen zum Rennen daneben, und der Junge reitet durch Himmel und Erde... Gegen Morgen legt er die Zügel in Schwester Veronikas Hände und atmet tief. ,„Jetzt kann ich es", sagte er, und sein Lächeln ist wunderbar. Das war der Augenblick, da sich in chm das Geheimnis ent schied: Tod — oder Leben. In diesem Augenblick bekannte sich das Kinderherz mit aller Leidenschaft zu seinem Pferd und zu einer Welt, die es mit ihm zusammen erobern will, und der Tod senkte die Peitsche. Er hat das Rennen verloren. Der glücklichen Mutter Dankesworte sind so reich, wie eS ihre Tränen waren, als die Schwester geht. Herbert reicht ihr fest die kleine Hand. Ich werde reiten! heißt das. Dies Versprechen nimmt die graue Schwester mit. Es ist ein Geheimnis zwischen ihnen beiden. Noch immer sitzt Schwester Veronika vor demselben Linden baum, wenn es Frühling wird. Immer noch kommen die Vögel und bauen ihr Nest, und sie sieht ihnen zu. Aber sie wird nicht mehr traurig. Nicht, weil sie alt geworden ist, sondern weil sie alle Frühjahr den Jungen, den Herbert, reiten sieht. Ihren Jungen, dem sie ein zweites Leben gegeben hat. Was an Mütterlichem in ihr hat Wahrheit und Tat nnd Leben werden dürfen, das ist ihres armen, demütigen Lebens geheimnisvoller Frieden geworden.
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