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Vom hMiier, üer W fruer kstte Humoreske von Harry Prueh. Ms Bruno spätabends endlich sein Zimmer betrat, erblickte er auf dem Tisch ein Postpaket in der Größe — nun, etwa eines halben Kommißbrotes. Hiesiger Stempel, die Anschrift mit Schreibmaschine. Kein Absender. Leichtsinn! Don Gisela also. Als ob das zu raten ein Kunststück wäre! La können sie sich seiner reichlichen Arbeit zufolge acht Tage nicht sehen, schon schickt sie ihm — sicherlich Aepfel. Nein! Dazu wiegt es zu leicht. Wohl ein Frühjahrsselbstbinder oder dergleichen. Feierlich stellt er es wieder zurück: mit Andacht wird es geöffnet! Den Mantel erst aus. So. Und jetzt die Zigarre, die Freude vollkommen zu machen. Streichhölzer? Hoffentlich im Mantel. Er steht wieder auf. Was? Auch nicht? Das ewige Leiden. Er ist schon bekannt dafür. Wenn er tatsächlich einmal Streichhölzer hat, dann läßt er sie augen- blicks irgendwo liegen. Vielleicht in den anderen Anzügen? — Doch auch die Forschungsreise im Kleiderschrank durch die Jacken und Westen und Hosen bleibt ohne Erfolg. Nein... Hurra! in der brau nen Jacke steckt eines der flachen Päckchen. Aber nicht in der Tasche, leider unten im Futter. Daß er das gar nicht bemerkt hat neulich, als er das Loch in der Tasche vernähte! Was bleibt, als es aufzutrennen?... Schon fischt er im Futter das Päckchen und zerrt es ans Licht: es ist leer! Restlos leer... Nur die schäbige Reibfläche grinst ihm entgegen. Aergerlich wirft er sie in den Papierkorb. Und nun? Soll er Giselas Sendung kaltrauchend öffnen? Dann wird ihn vor Freude noch stärker nach Feuer verlangen. Also geht er doch lieber zuerst zu Frau Bock. Er klopft an der Wohnzimmertür seiner Wirtin. Ver gebens. Sie sitzt wieder drüben bei Horns, dann kommt sie vor anderthalb Stunden nicht los. Umso besser. Sie muß ja nicht jedesmal wissen, wenn er sich Zündhölzer borgt. Sie grinst ohnehin längst darüber. Er geht in die Küche. Auf dem Herd: alles mögliche, nur keine Zündhölzer... Im Küchenschrank auch keine... Aber sieh an, etwas anderes findet er dort: einen blumengerandeten Teller, von Gisela, auch ein Geschenk, das er unbewußt längst schon vermißte, an dem ihm der Sprung aber neu ist... Schon will er sich ärgern, da bietet sich rhm ein versöhnender Anblick: ein Gas anzünder! Er segnet das Gas... Nein, er flucht ihm... nachdem er sich zweimal die Finger geklemmt und fast eine Vergiftung geholt bat. aber kein Feuer, entfliebt er der Küche. Nanos' uns kummervoll sieht er zur Lampe hinauf. Da brennen nun Glühbirnen. Aber was nützt ihm ihr Feuer? Er denkt an ein Brennglas. Was nützt es ihm? Ist er nicht schlimmer daran als ein Urmensch? Der hätte doch wenig stens Feuerstein oder zwei Hölzer, um Feuer zu reiben. Und wenn er nun selber zu Horns hinübergeht, kommt er ebenfalls nicht unter anderthalb Stunden zuruck. Doch wenn er ins Gasthaus geht, Feuer zu holen, erst recht nicht. Erst recht nicht! Er kaut auf der kalten Zigarre herum. Halt! Er hat einen Einfall. Herr Horn kommt doch jetzt erst vom Dienst. Bruno sieht auf die Uhr. Ja, natürlich, er muß schon die Straße heraufkommen. Schnell vor die Tür! Herrn Horns Stumpen reicht immer genau voin Büro bis mm Laustor. Er springt wie ein Junge die Treppe hinunter, zwei Stufen auf einmal, schließt hastig die Tür auf und prallt auf Herrn Horn. „Stopp! So spät noch so eilig?" begrüßt ihn Herr Horn und erwischt ihn am Aermel: „Sie haben Wohl rasch etwas Feuer. Mein Stumpen will heute nicht brennen, meine sämtlichen Streichhölzer hat mich das Ding schon gekostet..." Bruno starrt auf Herrn Horn, auf den Stumpen, macht kehrt, rast die Treppe hoch, quetscht die Zigarre zu Trümmern und wirft sie durchs Flurfenster. Dann also nicht!! Er schmet tert die Wohnungstür zu. Das hat Gisela nicht verdient, daß ihr Gruß s^ vernachlässigt wird. Abbittend gleichsam knüpft er voll Andacht den Bindfaden auf, biegt das Einschlagpapier auseinander und hält eine Schachtel in Händen, die aber mals kreuzweis verschnürt ist. Mit geduldiger Liebe entwirrt er auch hier einen dreifachen Knoten und stellt danach fest, daß der Deckel zudem noch mit Klebstreifen festgemacht wurde... Etwas Wertvolles schickt ihm da Gisela, stürzt sich in riesige Unkosten, er aber barmt um ein lumpiges Streichholz! Er schämt sich. Mit zitterndem Messer zertrennt er so sauber wie möglich den Streifen und lüftet den Deckel... mit klopfen dem Herzen. Noch einmal: gclbseidenes Einschlagpapier. Bruno wickelt und wickelt, es nimmt schier kein Ende. Was hat ihm nur Gisela... Da fällt ein Kärtchen heraus, auf der Maschine geschrie ben: „Vergiß Deine Hölzchen! Vergiß aber nicht — Deine Freunde!" Aus dem gelben Papier aber leuchtet ein blaues Paket mit dem Aufdrucke: Sicherheitszündhölzer... Air ZtriclMtr Skizze von Albert Berlin. Mutter Lehnert — öder die „alte Lehnerten", Wie man sie auch nannte — saß daheim in ihrer kleinen Küche und strickte, wobei sie ab und zu einen Blick nach dem auf dem Herd nebenan stehenden Topfe warf. Aus dem Wohnzimmer heraus hörte man das Klappern des Webstuhls. Und an diesem saß der alte Lehnert und webte. Er saß noch genau so davor wie vor vierzig, fünfzig Jahren, als er noch ein junger Bursch gewesen. Und die Ärbeit, die er leistete, das Stück Leinen, das er webte, war auch heute noch das gleiche. Immer, wenn er wieder ein Stück fertig gewebt hatte, nahm er es vom Webstuhl, rollte es fein säuberlich zusammen und trug es nach der Fabrik, die zwei Stunden vom Ort entfernt lag. Und niemals hatte er irgendwelche Unannehmlichkeiten oder Auseinandersetzungen. Man wußte in der Fabrik: was der alte Lehnert ablieferte, war gute, einwandfreie Ware. Da war nichts dran auszusetzen. Drum auch gab man ihm immer wieder Arbeit nach Hause mit, obgleich nun fast alle Weber in die Fabrik kamen und an den mechanischen Webstühlen zu arbeiten gelernt hatten. Heute in acht Tagen beging der alte Lehnert seinen sieb zigsten Geburtstag. Da hatte er sich von der Frau etwas Warmes anzuziehen gewünscht, denn es ging ja wieder einmal auf den Winter zu, und seine alte Strickweste hatte nun schließ lich doch ausgedient. Darin konnte er nimmermehr warm werden. Nicht mal sehen mochte er sie noch. „In die Lum pen", hatte er Mutter Lehnert gesagt, als diese ihn frug, was mit der alten Strickweste werden solle. So saß denn Mutter Lehnert und strickte an einer neuen Weste für den Mann. Und damit er nicht sah, womit sie ihn an seinem siebzigsten Geburtstage erfreuen wollte, tat sie nur immer dann daran arbeiten, wenn der Mann sie in der Küche bei den Koch töpfen wußte. Solange der Webstuhl drinnen im Wohnzimmer klapperte, hatte sie nrcht zu befürchten, daß sie bei ihrer Arbeit überrascht wurde. Wie flink doch die durch all die viele körperliche Arbeit in langen Jahrzehnten krumm und knöcherig gewordenen Finger noch die Nadel führen konnten! Und wieviel freund- lrche Gedanken hatte Mutter Lehnert nicht schon mit hinein gearbeitet in dieses ihr Geburtstagsgeschenk für den Mann! Auch jetzt wieder war sie in Gedanken versunken, während sie auf die fleißigen Hände herabsah. Ein warmes Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Im Geiste durchwanderte sie noch einmal den Weg, den sie nun schon an die fünfzig Jahre gemeinsam zurückgelegt. Es war ein bescheidenes Erdenlos gewesen, das ihr an der Seite des Webers August Lehnert beschieden gewesen. Doch sie war es zufrieden. Kinder waren gekommen, waren groß geworden und wieder gegangen. Und auch dem Vaterland hatten sie, die Lehnerts, wie so viele andere ihr Opfer dargebracht: der eine der beiden Söhne war im Felde geblieben, nicht wieder heimgekehrt. Sein Name stand mit auf dem Gedenkstein mitten im Dorf. Wie so rasch doch das Alter herankommt! Ihr beider Erdenlauf war eigentlich nur ein kurzer Gang gewesen hinweg vom Brautaltar bis in die heutige Zeit. Nun wurde der Mann schon siebzig alt, und sie selber war auch nicht mehr allzu weit davon entfernt. Wie würde er sich freuen, wenn sie ihm am Morgen seines siebzigsten Geburtstages die neue Strickweste überreichen würde! Und gleich anziehen sollte er sie auch, wenn die Kinder kamen und die Nachbarn, um Glück zu wünschen. Und warm würde sie halten, anders als die verschlissene, die nun in die Lumpen kam... Als die Alte so in ihre Gedanken sich versponnen, erschrak sie. Drinnen im Wohnzimmer war der Webstuhl zum Still stehen gekommen, man hörte das Klappern nicht mehr... Beinahe hätte sie nicht darauf geachtet. Nun rasch die Arbeit verstecken, denn es war ja möglich, daß Lehnert gleich aus der Stube und in die Küche trat, um etwas von ihr zu wollen. Sie wandte sich dem Herdfeuer zu, schürte die Flamme an und hob den Deckel vom Topfe empor, um zu sehen, ob die Kartoffeln schon kochten« Aber der alte Lehnert trat nicht aus dem Wohnzimmer, obgleich der Webstuhl noch immer stillstand. War der Faden gerissen oder sonst etwas nicht in Ordnung? Vielleicht bedurfte er ihrer Hilse? So trat sie aus der Küche und ging ins Wohn zimmer hinüber. Da saß der alte Lehnert noch immer vor dem Webstuhl und hielt das Webeschiffchen in der Hand. Der Kopf aber war vornüber gesunken und lehnte an dem Gebälk. Er war über der Arbeit eingeschlafen. Als aber Mutter Lehnert auf ihn zuschritt und ihn aufmerksamer betrachtete, da sah sie, daß er in den Schlaf versunken war, aus dem ihn keiner mehr aufwecken konnte. Er hatte seinen Weg vollendet und war am Ziele angelangt. Da lief die Alte und rief die Nachbarn herbei. Sie kamen, und starke Männerhände hoben den Toten vom Schemel und trugen ihn hinüber ins Schlafgemach, wo sie ihn auf sein Bett legten. Am nächsten Tage aber saß Mutter Lehnert in der Küche neben dem Herdfeuer, das erkaltet war, und strickte das letzte Stück an die neue Strickweste. Konnte sie ihm die mich nicht mehr an seinem Geburtstage überreichen, so sollte er sie doch haben. Er sollte ste anlegen, wenn er seinen allerletzten Gang antrat. Besseres hatte Mutter Lehnert ihm nicht mitzugeben. jLränen rollten über die abgezehrten Wangen der Alten und fielen herab auf das neue Kleidungsstück. Und all ihr Herze leid um den so jäh von ihr Genommenen wob sie mit hinein in dieses ihr Geburtstagsgeschenk. ! Und da überkam sie eine stille, heilige Wehmut. Es war wie ein Aufleuchten in ihr, daß sie den Mann, mit dem sie ein ganzes Leben durchwandert, noch in der Stunde seines Todes beschenken durfte mit ihrer Hände Arbeit. AerWMliMÜ Skizze von Erich Klaila. Eigentlich wohnt der Kesselschmied Hans Heek in der Gcnerichstraße; in Untermiete beim Eisendreher Luschke. Er müßte sich also beim Heimgänge nach links halten, das wäre der kürzeste Weg. Aber seit einigen Wochen geht der Kessel schmied in die Lotzekstraße hinein; alle im Werk haben ihn schon wegen des Umwegs ausgelacht, er läßt sich nicht be lehren. Er läutet um sechs Uhr an einer Tür, von der weg ein Porzellanschild mit altmodischen Buchstaben sagt, daß hier der Schneidermeister Lorenz wohne. Das ist aber eigentlich schon lange nicht mehr wahr; hier wohnt nur noch die Witwe des Schneidermeisters Lorenz und ihre Tochter, die Lina. Es wird aufgemacht. Der Kesselschmied tritt ein und tut gleich sehr zuhause. Die Witwe Lorenz hat das bisher unter stützt, und ihrer Tochter war es recht... Heute haben die beiden Frauen eine Freude auszubreiten, aber Heek soll erst raten, was es ist. Der gutmutige Kerl geht darauf ein; natürlich sind alle seine Antworten falsch, die beiden Frauen lachen darüber. Dann erfährt er endlich den Grund: man hat heute endlich das Hintere Zimmer wieder vermieten können, der neue Mieter heißt Kurt Rewal und ist Student. Da freut sich der Kesselschmied, Lina muß in der nächsten Wirtschaft sogar Bier holen... Am nächsten Abend kommt der Kesselschmied wieder. Heute sind die beiden Frauen aber ein wenig anders. Lina tut sehr beschäftigt und sagt, als er seinen Arm um sie legen Will: „Du darfst mich jetzt nicht stören..." Im Flur acht eine Tür. „DaS ist Herr Rewal", sagt Frau Lorenz uns lauscht; Lina lauscht auch. Es ist, als ob die beiden Frauen rot werden. Sie haben ein seltsames Lachen in den Augen, eine komische Verliebtheit für den Laut, mit dem draußen im Flur eine Tür einaeklinkt ist. Da öffnet sich die Tür, ein blonder Haarschopf schaut herein und darunter ein vielleicht vierundzwanzigjährigcs Gesicht. Es ist Herr Rewal, der neue Mieter. Er will frisches Wasser haben. Die Witwe Lorenz sagt oft hintereinander: „Selbstverständlich, Herr Rewal! Selbstverständlich...." Lina steht auf und trmü das frische Wasser selbst in das Hintere Zimmer." So etwaK läßt sich schnell tun, deswegen braucht man nicht erst eine Tür hinter sich zuzumachen; der Kesselschmied hat recht, wenn er sich darüber wundert. Lina kommt wieder, aber sie bringt aus dem Hinteren Zimmer ein Lachen mit; so lacht ein Mäd chen, dem einer sagt, daß es schön ist... Der Kesselschmied kommt sich recht überflüssig vor und- geht. Erst sagt er das nur so. Er will nicht gehen; er will nur hören, daß ihn die Frauen aufhalten wollen. Es reut ihn aber, auf diese dumme List gekommen zu sein, denn die Frauen lassen ihn wirklich gehen. Lina begleitet ihn bis zum Flur, bis gestern trennten sie sich immer erst an der Haustüre... Es ist wieder Abend und sechs Uhr, und es wird bei der Witwe des Schneidermeisters Lorenz geläutet. Frau Lorenz öffnet, aber sie macht die Tür nicht so weit auf, daß der Kesselschmied eintreten kann. Sie sagt nur: „Lina ist weg gegangen..." Der Kesselschmied nickt und geht; er weiß Bescheid. Aber das hilft nichts, daß er nun Bescheid weiß; das schüttelt nur und macht ganz wirr. Seine starken Fäuste können hier nicht zupacken, hier ist diese Kraft umsonst. Aber länger als eine halbe Stunde läßt er sich dieses Brüten nicht gefallen. Dann steht er auf und schlägt die Tür an die Pfosten, daß es kracht. Der Eisendreher Luschke kommt aus der Küche^ und sein Gesicht sagt: Das geht nun doch nicht, Heek... Es geht aber, es geht... Gegen alles wird der junge Kesselschmied jähzornig, hebt in Gedanken schwere Hämmer auf, schleudert Eisenteile herum und hämmert die Nieten am Kcsselrand mit der nackten Faust. Und plötzlich erwischt er einen blonden Haarbüschel, Menschen laufen zusammen und- schreien... Beinahe wäre Heek über die Lotzekstraße hinausgelaufen, er kehrt um und stellt sich in einen Hauseingang. Jähzornig lachend meint er, daß er warten kann; stundenlang. Das braucht er aber nicht. Schon nach einer halben Stunde kommen Lina und der Student Rewal. Lina ist erschrocken und nimmt den Arm ihres Begleiters. Der Kesselschmied lacht darüber, laut und bösartig. „Mein Herr!" fängt der Student an, so verunglückt redet er daher und braucht seinen ganzen Mnt dazu. Der Kessel schmied achtet gar nicht daraus; es fällt ihm ern, daß er schon sehr lange zn Lina gehört. In der Stube der Witwe Lorenz und im Werk, am Tag und in der Nacht... Da schreit jemand um Hilfe. Eine Mädchenstimme... Es ist aber gleich wieder still. Der Kesselschmied hält etwas in den Armen; ein blasses, weinendes Fräulein. Ein Schutzmann taucht auf, aber er fragt gar nicht erst, hier hat nur einer mit seiner Liebe einem Mädchen Weh getan. Wenn Lina das nicht wollte, dann würde sie ihm schon sagen, daß er ihr helfen soll. Sie sagt aber nichts. Sie will es also. Wer« fakiMg Skizze von Annie Peine-Leipzig. Bisweilen unterbricht die Mutter ihre Arbeit und tritt hinter den Vorhang. Unter dem offenen Fenste" spielen Ilse und ihre Freundin mit Marmeln. Ruhig und brav spielen sie. Die Mutter hat ihre Freude daran. Wieder ist ein Spiel zu Ende. Ilses Freundin stopft befriedigt die gewonnenen Kugeln in ihre« Marmelsack... Ilse ist an den Rand des Fußweges getreten. „Du, ob ich mal —?" hört die Mutter ihr Kind fragen. „Was denn?" fragt die Freundin. „Da hinüber?" Ilse deutet über den Fahrweg. Die Mutten erschrickt. Ihre Hand strebt nach dem Vorhang. Das Kind wird doch nicht... „Ich denke, du darfst nicht?" fragt das Nachbarkind. „Nein, ich darf nicht", erwidert Ilse bekümmert. Sie steht immer noch am Fahrweg und schaut hinüber. Jetzt tritt das eine Füßchen vom Fußweg hinunter. Angst packt die Mutter. Zorn ist auch dabei. Wo sie es« ausdrücklich verboten hat! Sie greift nach dem Vorhang, aber! sie läßt die Hand wieder sinken. Ganz plötzlich — als ob doch ein Vorhang vor ihren Augen beiseite wehe — sieht sie sich selbst darunter stehen, ein kleines, behütetes Mädchen an der großen Straße... So wie ihre Ilse dort hat sie gestanden, die Straße hinauf und hinunter gesehen und gedacht: Ob ich es wage? Die Straße' ist breit, aber ich kann doch so flink laufen, und die Straßenbahn - ist noch ganz weit weg, und kein Auto ist zu sehen, nicht einmal ein Radfahrer! Aber wenn es Mutter sieht? Und die Straße hat gelockt wie ein Abenteuer, das bestanden sein wollte... trotz der drohenden Strafe, die nur eine Gefahr mehr ist bei dem Wagnis. Jetzt sieht sich Ilse nach dem offenen Fenster um. Die Mutter steht unbeweglich hinter dem Vorhang. Soll sie ihr Kind rufen? Nein, sie ruft es nicht... Nun verläßt auch das andere Füßchen den sicheren Fußweg. Und jetzt — Mutters Herz fängt Plötzlich an, wie rasend zu klopfen —, jetzt lauft sie, läuft... ach, Mutter kann die Straße nicht übersehen, die Bäume versperren ihr den Blick, sie sieht nur eben das Stück, auf dem Ilse läuft... geradeaus lauft sie, sieht nicht mehr nach rechts, nicht mehr nach links, und nun ist sie drüben! Da steht sie auf der anderen Seite, eine kleine, verlorene Gestalt. Ach, wie klein ist sie noch! Die Straßenbahn kommt und verdeckt sie, Autos sausen vorüber, eine Schar Radfahrer klingelt vorder — wie fern, wie fern ist doch das Kind... Soll sie es holen? Nein, sie holt es nicht. Und nun kommt Ilse zurück, läuft, das Blondhaar W-Ht, das Kleidchen tanzt auf den kleinen Knien. Näher und näher kommt sie und erreicht den schützenden Fußweg. Einen Augenblick bleibt sie bei der Freundin stehen, dann läuft sie nach der Haustür. Es klingelt, und als die Mutter die Korridortür öffnet, stürzt ihr Ilse entgegen, umschlingt ste und jubelt, ihr heißes, strahlendes Gesicht zur Mutter emporgewandt: „Mutti, ich bin über den Fahrweg gelaufen! Ganz allein!" Soll die Mutter das Kind strafen? Nein, sie tut es nicht! Sie muß gar an sich halten, die kleine Person nicht rm sich zu reißen. Sie sagt nur — eindringlich sagt sie es: „Aber das nächste Mal mußt du fragen, hörst du?" Leibesübungen mit „Kraft durch Freude" beschreibt Heft 25 der Olympiaheftreihe und lostet 10 Psg. Ueberall kannst Du es kaufen!