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Wilsdruffer Tageblatt : 14.05.1936
- Erscheinungsdatum
- 1936-05-14
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193605142
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19360514
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19360514
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1936
-
Monat
1936-05
- Tag 1936-05-14
-
Monat
1936-05
-
Jahr
1936
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 14.05.1936
- Autor
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v«»k«^»u>isr »v«or Ein Nachtstück von Otto Boris. Schwer hängt der Himmel über der Heide. Er ist düster Ane ein Lied vom Scheiden und Meiden. Leere liegt über dem sandigen Wege. Und wie es anfängt zu nebeln, ergehen die Wacholder sich in einem Mummenschanz. Ernsthaft sehen die Föhren zu. Eine Stille liegt über dem Lande, daß ich den Sand hören kann, wie er von den Tritten rieselt. Sie zwingt zum Laufchen. Nur die hohen Gräser, die nebelnaß um die Beine schlagen, halten einen leisen Unmut wach. Sonst wäre die Wanderung rin Traum, in den das Hünengrab sein unirdisches Eins? hin- «inschreibt. Heftiges Zappeln und Rascheln reißt mich aus dem Dahin- aleiten durch die Dämmerung. Ein Kaninchen hat sich in einem Retz verfangen. Das ist kunstvoll gestrickt. Die Knoten ver daten Frauenhände. Jetzt ruht das kleine Langohr in meinem !Arm. Angst hat es, und da klemmt es das Köpfchen zwischen Arm und Brust, um seinen eigenen Untergang nicht zu sehen. „Zauf nur zu, Kleiner, aber zuvor mußt du mir sagen, wer dich auf verbotene Weise hat fangen wollen!" Es schweigt. Die wenigen Spuren schweigen. Die Um- gebung schweigt. Nur ein unvorsichtiger Stiefel hat sich an gemeldet und ein Paar Kratzer eines Hundes, — merkwürdig! Es ist ein milder, echt niedersächsischer Tag im Grau -es Nebels, im Braun des Heidekrautes und der Dürre der noch kahlen Bäume. Eiliger strebe ich dem Wirtshause zu. Licht fällt breitflächig aus den Fenstern über den Vorplatz. Wie allein die Nähe der Menschen warm macht! Die Welt blätter der Wintereichen lispeln heimlich. Es ist schöner hier draußen als in der verräucherten Wirtsstube. Tatja ist ein braunes Zigeunermädchen. Sie liest aus meiner Hand. Wagen stehen am Wege. Ein Feuer brennt auf dem Acker. Dunkle Gestalten bewegen sim in seinem Scheine. Tatja spricht von Ruhm, von Ehre, von Glück, von Geld. Drinnen klingt eine Harfe; zwei Wandermädels mit klugen Augen, solchen, die satt von Kultur, Landstraßenromantik fiuchen, sitzen bei warmer Milch und der häuslichen Spende ihrer Rucksäcke. „Geh, Tatja, sage ihnen wahr, daß hier draußen ihr Schicksal sitzt..." Das braune Mädel lächelt verschmitzt. Es geht hinein. Es wedel viel, weitaus mehr, als es für eine Mark nötig hätte. Die Wandermädels erröten. Das eine kriegt versonnene Augen Altd streicht verwirrt eine dunkle Locke aus der Stirne. Lauter klingt die Harfe. Ein paar struppige Kerle sitzen in einer Ecke und trinken Schnaps. Widerwillig hat ihnen der Wirt eine Flasche und ein Glas überlassen. Tatja gesellt sich zum Harfner und singt mit plärrender Stimme ein Lied. Neue Gäste kommen. Hunde, Büchsen und Rucksäcke weisen sie als Jäger aus. Ein struppiger Spaniel schnuppert eifrig sn mir herum. Sicher wittert er, daß ich mit dem Kaninchen zu tun gehabt habe. Sein Herr wird aufmerksam. Er sieht mir scharf ins Gesicht. „Mir ist, als müßte ich Sie kennen?" sagte er. Als ich ihn zerstreut und fremd anlächle, wird er verlegen. Da gebe ich ihm das Kaninchennetz und erzähle khm, wie und Mo ich es gefunden habe. Sein Blick wird hart. Er tritt mit seinem Begleiter ins Dunkle. Dort besprechen sie sich eifrig. Der Mann mit dem Spaniel entfernt sich, und der andere, ein Graubart mit zivilem Jägerrock, tritt in die Gaststube. Er trinkt Grog und läßt den Zigeunern Bier geben. Da wird es lustig. Dje Harfe spielt einen ungarischen Tanz. Es klingt trostlos klapprig; denn der Resonanzboden ist geborsten. Trotzdem fangen ein paar Burschen an zu tanzen. Sie reißen halbwüchsige Mädels mit in den Trubel. Das Wandermädel mit den dunklen Locken erhebt sich. Es kommt heraus und sieht sich um. Als die Junge mich sieht, fragt sie, ob es morgen schönes Wetter gäbe; denn sie hätten sich seinen weiten Weg vorgenommen. Ich nicke ihr zu und meine, Las wäre mir recht. Da streicht sie Lie widerspenstige Locke aus der Stirn. Es ist eine gütige, versonnene Handbewegung. „Warum der j^rr da drinnen den Zigeunern so viel spendieren mag?" fragt sie. — Ich glaube es zu wissen, zucke aber nur die Achseln. Tatja kommt heraus. „He, du braunes, Kleines, möchtest du mir nicht mit deinen flinken Fingern die Schnur meines Rucksackes zusam»enknüpfen?" Sie tut es. Es wird derselbe lasche Knoten wie am Kaninchennetz. Nun steigt meine Span- mung. „Wohin so eilig Tatja?" — „Der Herr da drinnen hat viel Geld in der Lotterie gewonnen. Da will er uns armen Zigeunern einen schönen Abend machen. Ich soll alle holen." Ich sehe nach dem Wirt. Er hat sich steif in eine Ecke gefetzt. Sein sonnengefärbtes Heidjergesicht wird strenger. Er H nichts als Ablehnung. Die rundliche Wirtin mui, bedienen. Nun quillt es aus dem Dunkel herauf: Schmuddlige Weiber, halbverschlafen, zerzaust, in bunten, verschlissenen Röcken — Kinder, ungekämmt und ungewaschen, ein paar Jungens mit verwegenen Diebsgesichtern. Niemand will sich Len Genuß des Freibiers entgehen lassen. Sie verstehen nichts besser zu würdigen als den Zufall. Lotterie, Gewinn von Hunderttausenden, das reißt ihre romantische Stratzenseele hoch. Die Harfe schrillt. Ein wildes Lied erklingt. Dann ein Tanz. „Bleiben Sie, bitte, draußen", sage ich zu dem Wander- «Edcl, „drinnen wird es bald losgehen." Sie sieht mich verständnislos an: „Ich für meinen Teil finde die Zigeunerromantik schön!" erwidert sie betont und wirft mir damit Nüchternheit vor. „Mit einer solchen Alltagsseele soll ich morgen wandern?" — mag sie denken und geht hinein. Das Temperament der südländischen Seele bricht durch. Ein Paar verwegen dreinschauende Kerle tanzen die Kasatschka. Es ist ein Toben, Trampeln und Klatschen, daß die Wände schultern. Begeistert schauen die Wandermädel drein. Sie habe« das Erlebnis gefunden, das sie auf der Landstraße suchten. An mir schnuppert der Spaniel. Plötzlich steht, wie aus dem Boden gewachsen, sein Herr neben mir: „Darf ich Sie in Anspruch nehmen?" sagt er und wartet keine Antwort ab, sondern wirft mir ein paar Kaninchen und Hasen hin: „Die habe ich aus den Zigeunerwagen herausaeholt", schnauft er grimmig. „Jetzt haben wir die Bande endlich fest. Seit drei Tagen sind wir hinter ihnen her." , „Konnte es mir denken. Aber vorsichtig beim Festnehmen,! Herr Förster!" Er geht hinein. Das Gewehr im Anschlag steht er in der " Türe: „Hände hoch!" Die Lust ist jäh verstummt. Ein schriller Schreckensschrei der Weiber. Ein Erblassen der Männer. Doch nur ein kurzes Zögern, da greifen die wilden Burschen zu und schieben ihren graubärtigen Gastgeber gegen das Flintenrohr' als Deckung vor. Nun greift der Wirt ein. Seim barten Bauerniäuste! packen wuchtig in die schmierigen Zigeunerkittel. Weiber und Kinder stürzen durch die andern beiden Ausgänge. Die beiden Wandermädels werden bleich. Ich erhebe mich, um ins Haus zu gehen. Da kracht drinnen ein Schuß. Mit einem Male ist cs totenstill. Diebe sind feige. Der Mond bricht blaß und kränklich durch den Nebel. Ein weiches, wehmütiges Licht liegt über dem Lande. Nur das Feuer auf dem Acker glüht noch wie ein böses, gereiztes Auge. Auf der Weißen Chaussee, die matt durch die Nacht schimmert, treten sechs Zigeuner unter den drohenden Mündungen zweier Gewehre an. Wie Geisterspuk verschwinden sie in der Dunkel heit. — Ich sitze an dem Tisch der Wandermädels. Es riecht noch nach dem Schuß und nach schlechten Kleidern: „Das hatte ich hinter Ihren Worten nicht vermutet", sagt das schwarzlockige Mädel mit den sinnenden Augen. „Merkwürdig, wie Sie das wissen konnten!" „Morgen werden wir zusammen viel sehen. Es wird ein schöner Wandertag." Kriminalskizze von Peter Mattheus. Herr Willum hockte auf einem der hohen Barstühle des Automatenrestaurants. Sein rundlicher Bauch ruhte auf den emporgezogenen Knien, und sein breites Vollmondgesicht war über ein Glas Portwein geneigt. Die kleinen glitzernden Augen jedoch blickten unter der Hutkrempe unverwandt und mit einem eigentümlich wachsamen Ausdruck durch die Schau fensterscheibe, die sich unmittelbar neben der Bar befand. Plötz lich rutschte Herr Willum in beträchtlicher Eile vom Stuhl herab, lief auf seinen kurzen Beinen hastig quer durch den Raum und wirbelte durch die Drehtür auf die Straße hinaus. Dort stieß er unsanft mit einem jungen Mann zusammen, der es anscheinend ebenso eilig hatte wie er. „Oh... bitte tausendmal um Verzeihung", sagte Herr Willum höflich und lüftete den Hut. „Keine Ursache, es war meine Schuld... ganz allein meine Schuld!" sagte der junge Mann nicht minder höflich. Er musterte Herrn Willum rasch mit einem abschätzenden Blick. „Sie, hm...", fuhr er zögernd fort, „Sie wisfen wohl nicht zufällig, wo hier herum eine Pfandleihe ist?" „Eine Pfandleihe?" Herr Willum zog überrascht die Brauen hoch. „Bester Herr, selbst, wenn ich es wüßte..." Er schüttelte bedauernd den Kopf. „Es ist zehn Uhr vorbei, und ich fürchte, daß alle Pfandleihen längst geschlossen sind." Der junge Mann seufzte und machte ein Gesicht wie jemand, dessen letzte Hoffnung eben dahingeschwunden ist. „Pech!" murmelte er niedergeschlagen. „So ein Pech! Was soll ich nur tun?" Herr Willum sagte nichts. Er beschränkte sich darauf, den Kopf auf die Seite zu legen und sein Gegenüber freundlich und erwartungsvoll anzusehen. „Was soll ich nur tun?" wiederholte der junge Mann in einer Art Selbstgespräch. „Da hat man nun die große Chance und kann sie nicht wahrnehmen! Ich muß, ich mutz, ich mutz verreisen... und ich krieg das Fahrgeld nicht zu sammen. Jetzt habe ich mich schon entschlossen, die Steine zu versetzen, das letzte, was mir geblieben ist. Und jetzt sind die Pfandleihen zu!" Er schien Plötzlich wieder zur Wirklichkeit zu erwachen und blickte Herrn Willum forschend an. „Sie würden wohl keine Diamanten kaufen, wie?" fragte er geradezu. „Ich? Diamanten? Oh...!" stammelte Herr Willum verwirrt. „Um die Wahrheit zu sagen: eigentlich nein." „Sie würden sie billig bekommen — sehr billig", sagte der junge Mann drängend und hielt ihm auf der flachen Hand zwei funkelnde kleine Steine hin. „Du lieber Himmel", murmelte Herr Willum kopfschüt telnd, „ich Verstehe nichts von solchen Sachen. Und man hört so viel von... und man liest in den Zeitungen so viel von..." Er verstummte sichtlich verlegen. Der junge Mann musterte ihn mit einem beleidigten Stirnrunzeln. „Haben die Herren die Absicht, noch lange hier zu stehen? Ich möchte gerne mal vorbei", sagte in diesem Augenblick hinter ihnen eine Batzstimme. Der Sprecher, ein älterer, gut gekleideter Herr mit einem schmalen dunklen Bärtchen auf der Oberlippe, drängte sich zwischen ihnen und der Hauswand hindurch und trat in den Lichtschein der Lampen des Auto matenrestaurants. Sein Blick fiel auf die noch immer aus gestreckte Hand des jungen Mannes. „Hallo! Diamanten?" jagte er verwundert. „Sind sie echt? Lassen sie mal sehen!" Er zog eine Lupe aus der Tasche, nahm dem jungen Mann ohne weiteres die Steine aus der Hand und prüfte sie eine Weile sehr sorgfältig. „Echt!" sagte er dann. „Wollen Sie sie verkaufen?" „Allerdings", entgegnete der junge Mann vorsichtig. „Aber..." „Wieviel wollen Sie haben?" fragte der andere kurz. „Die beiden Steine", sagte der junge Mann etwas be klommen, „sind auf fünfhundert Mark geschätzt." „Das sind sie wert", sagte der Besitzer der Baßstimme und nickte. „Fünfhundert sind sie wert. Aber für mich ist das zu teuer. Ich zahle dreihundertfünfzig und nicht eine Mark mehr. Wollen Sie für dreihundertsünfzig verkaufen?" Der junge Mann zögerte einen Augenblick, dann zuckte er die Achseln und schlug mit einem Seufzer ein. „Gut", sagte er. „Mit dreihundertfünfzig bin ich aus dem Druck und kann meine Reise machen. Ich verkaufe." „In Ordnung." Der Mann mit dem Bärtchen holte seine Brieftasche hervor und öffnete sie. Im nächsten Augenblick biß er sich auf die Lippen. „Verflixt", murmelte er, „ich sehe, ich habe nur zweihundert Mark bei mir. Nun — wir machen es so: ich gebe Ihnen die zweihundert als Anzahlung, Sie hinterlegen die Steine hier drinnen an der Bar, und ich bringe Ihnen in einer Stunde den Rest. Einverstanden?" „Das geht nicht", sagte der junge Mann störrisch. „Eine Stunde kann ich nicht warten. Mein Zug geht bereits in einer halben Stunde." „Himmel... Sie sind aber ein schwieriger Kunde!" sagte der andere empört. Sein Blick fiel auf Herrn Willum, der die ganze Zeit schweigend zugehört hatte. „Oh, vielleicht kann uns dieser Herr helfen. Sagen Sie bitte: haben Sie hundertsünfzig Mark bei sich?" Herr Willum nickte. „Ausgezeichnet!" sagte der andere und schlug ihm freund schaftlich auf die Schulter. „Sie haben doch alles gehört, nicht wahr? Ich zahle dem Herrn hier zweihundert Mark, und Sie geben ihm kundertfünfzig. Dafür erhalten Sie die Steine und fetzen sich für eine Stünde hier in die Bar. Und nach einer Stunde komme ich und löse die Steine bei Ihnen aus, gegen ein Aufgeld von — sagen wir — dreißig Mark. Ich denke, damit können Sie zufrieden sein. Leicht verdientes Geld, wie?" Herr Willum sagte noch, immer nichts. Er hob nur die Hand und deutete schweigend auf den Eingang zum Auto matenrestaurant ... Einige Minuten später saßen die drei an einem der kleinen Tische im Hintergrund des Lokals. Der junge Mann befand sich im glücklichen Besitz von dreihundertfünfzig Mark. Hundertsünfzig stammten von Herrn Willum. Herr Willum dagegen, vor dem wiederum ein Gläschen Portwein stand, hatte die beiden Diamanten in der Tasche. Der junge Mann stand auf. „Ich muß jetzt schleunigst fort, sonst erwische ich meinen Zug nicht mehr", sagte er. „Und ich mache mich auf die Beine und hole das Geld", sagte der Mann mit dem Bärtchen und stand ebenfalls auf. „Hm", sagte Herr Willum sanft, „ich fürchte, Sie werden es etwas schwierig finden, hier herauszukommen." Die beiden starrten ihn sprachlos an. „Tja...", fuhr Herr Willum bedächtig fort, „wir haben in letzter Zeit öfter von zwei Gaunern gehört, die falsche Dia manten an den Mann bringen. Mit einem ziemlich gemeinen Trick, muß ich schon sagen. Hinterher stellt sich natürlich her aus, daß die vermeintlichen Diamanten ganz gewöhnliche Glas splitter sind... Wir mußten natürlich etwas unternehmen, nicht wahr? Wir mutzten einfach." Der Mann mit dem Bärtchen fuhr herum und blickte zur Tür. Dort lehnten zwei sehr kräftig aussehende Herren in blauen Anzügen. Uno an der Bar standen zwei ähnlich aus sehende Herren. Der Mann drehte sich wieder zu Herrn Willum um. „Sie reden immer von ,wir'!" zischte er. „Was meinen Sie damit?" „Wir — von der Polizei!" sagte Herr Willum ruhig. „Uebrigens: wenn Sie still und vernünftig dort zur Tur hinausgehen, werden wir die Sache ohne viel Aufsehen regeln können." Skizze von Carl Heinz da Venza-Köln- Das Leben des Flötisten Fierling und seiner Familie war unbeirrbar wie der gute Glaube. Gleichsam von freie» Rhythmen bewegt, gehorchte es doch den strengen Gesetzen, die dem Klange zugrunde liegen. Weder Sorgen noch Küm mernisse, so aufdringlich sie waren, störten das Gleichgewicht. Man lebte gemeinsam hinauf, lebte dem Ruhme des Vaters entgegen... Man war noch weit vom Ziel entfernt. Aber man hatte den fernen beglückenden Ruhm, den Glauben daran. Nur Fierling ahnte die tiefere Wahrheit. Das lange Leben hatte ihm beigebracht, daß sein Talent nicht die Klangfarbe der echten Begabung besaß. Wie des tönenden Grundes eines Orchesters fürs Flötenspiel, so bedurste er der Stimme der ganzen Familie, um sein menschliches Solo zu Ende zu bringen. Kunst ist Ordnung, hat mal einer gesagt. Kunst ist Fleiß, hatte Fierling sich zurechtgelegt. Darauf stimmte er sich und die Seinen gewissenhaft ab. Was ihm natürlicherweise versagt war, wollte er sich mit Vernunft erwerben. Er lernte mit Fleiß, übte, obgleich er schon dreißig Jahre geübt und am vordersten Pult im großen Orchester saß. Die häusliche Ordnung war auf sein unermüd liches Schaffen abgestellt. Hatte ihm Hilde, die älteste Tochter, die Flöte vorgewärmt, stand er vom Frühstückstisch auf und blies, bis es dunkel wurde. Niemand durfte im Zimmer sein, aber alle belauschten ibn. Einmal schien es wirklich soweit zu jein. Der erste Flötist gab großspurig an und versprach, seinen Platz im Orchester zu räumen. Die Nebungsstunden im Hause Fierling wurden zu Andachtsstunden. Die Frauen bereiteten sich auf den Ruhm vor, und der Vater erfüllte sein Spiel mit dem klarsten Aus druck, den seine Menschlichkeit aufbringen konnte. Man um schmeichelte ihn, bettete seine ergiebige Stimmung wie eine zarte Frucht, die ihre köstlichsten Säfte ausreifen soll. Aber dann saß der Huber wieder einmal mißmutig im großen Orchester und spreizte das feiste Engelsgesicht. „Ich bleibe", sagte er einfach. Fierling verstand das. Es konnte ja keiner mehr, wie er wollte. Die Tanzkapellen waren gekommen, die Schallplatten mit ihrer quirlenden Mundfertigkeit. Die bauten den alten Geschmack und die zünftigen Gagen ab. Die Zeit war gegen die Musikanten. Sie brachte den Fierlingen Jahre des War tens, die mühevoller waren als das ganze bisherige Leben. Er ging in die Bars und Kaffees, um etwas dazu zuverdienen. Er gehorchte dem Zwange erst noch mit Humor und verstand es, den schäbigsten Tanzorchestern Stimme zu geben. Der witzigen Akrobatik ihrer Musik diente er mit Be rechnung. Er nutzte sie für seine technische Uebung aus. Aber allmählich zehrten die schlaflosen Nächte in trüben Kaffees den schwächlichen Fierling aus. Ein haarfeiner windiger Atem schien ihm die Brust zerstechen zu wollen. Das Tempo beim Neben zuhause verlangsamte sich, die Pausen wurden geräumig und trocken. Immer häufiger mußte Hilde mit Bier oder Kaffee kommen. „Du brauchst es nicht mehr zu üben, Vater. So schön hat der Huber das nie gespielt. Ruh dich aus!" Fierling sehnte sich sehr nach Ruhe. Wer er wagte es nicht. Es stand zu viel auf dem Spiel. Nicht nur das lewliche Wohl der Familie, ihr glücklicher Glaube, sein ganzes männ liches Solo. Er flötete, bis ihm das Fieber die Lippen aus dörrte. Dann lag er zu Bett und griff das Flötenkonzert mit flatternden Fingern auf der punktierten Decke herunter. Die Grippe war ihm in Lunge und Kopf gefahren. Als die Nach richt kam, daß Huber das große Orchester verlosten habe, lachte er bösartig aus. Nach Tagen kehrten ihm plötzlich die klaren Gedanken wieder. Er erlegte sich Pferdekuren von Spritzen und Pul vern auf. Als ob ihn die wirbelnden Flötenpartien des Meisterkonzerts leibhaftig besessen hätten, eilte er ins Orchester. Niemand durfte dabei fein, weder Frau noch Kinder. Es war das entscheidende Spiel seines Lebens... Am folgenden Tag stand eine Notiz in der Zeitung: „Das Konzert in der Philharmonie war' durch ein tragisches Er eignis gekennzeichnet. Der Flötist, Herr Fierling, der zum ersten Pult aufgerückt war und das berühmte Flötenkonzert mit ungekannter Meisterschaft vortrug, wurde während das Orchester die jubelnden Schlußtakte intonierte, vom Schlage gerührt und verschied auf der Stelle. Der Vorfall blieb zu nächst unbemerkt..«"
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