Suche löschen...
Wilsdruffer Tageblatt : 17.06.1939
- Erscheinungsdatum
- 1939-06-17
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193906171
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19390617
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19390617
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1939
-
Monat
1939-06
- Tag 1939-06-17
-
Monat
1939-06
-
Jahr
1939
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 17.06.1939
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
/Ms 5K' "LM-VS5 LI Der furchtbare Blutandrang, den die Hitze erzeugt dar, ist wieder vorüber, meine Augen vermögen wieder zu sehen. Ich blicke aus den Schnee hinaus. Er ist vollkommen rein, nirgends die Spur eines Fußtrittes. Ich stampfe um das ganze Haus herum, achte nicht darauf, daß ich bis über die Knie in den Schnee einsinke. Um das ganze Haus herum ist nicht eine einzige Fußspur. In dieser Nacht muß es wieder geschneit haben, jedenfalls ist cs vollkommen sicher, daß seit diesem letzten Schneefall kein lebendes Wesen das Haus betreten oder verlassen hat. Ich ftapsc nach der Grotte hinüber. Auch in ihr ist neu gefallener Schnee. Ich weiß nicht, was mich dazu bewegt, Weitz nicht, warum ich es tue, aber ich beginne mit d-m Spa ten den Schnee aus der Grotte zu schaufeln. Ich tIll den Leichnam noch einmal sehen. Auch hier liegt der Schnee hoch, aber natürlich nicht ganz so hoch als im Freien. Er ist nur von der Seite hiueingewebt. Zuerst streife ich ganz vorsichtig die oberste Schicht ab, dann fühle ich mit dem Spaten an verschiedenen Stellen tiefer. Ich erschrecke schon wieder, ich fange an, fieberhaft zu arbeiten, ich schaufele den Schnee in großen Stücken hinaus. Ich arbeite eine ganze Stunde, dann liegt der Boden der Grotte vollständig frei, es ist ein aus steinernen Platten zu- sammcngefügtcr Boden. Die kleine Grotte ist leer. Vollkommen leer. Der Leichnam ist fort. Es ist merkwürdig, seitdem ich hier draußen in der klaren Winterlnft bin, sind Herz und Hirn ganz klar. Ich erschrecke nicht einmal allzusehr. Was ich hier sehe, ist ja eigentlich nichts, als ein weiteres Glied in meinen Beobach tungen. Der Leichnam ist fort. Daß der Mann, den ich hier Hinaus krug, etwa nicht tot war, wieder erwacht ist und sich aus eigener Kraft fortbegcbcn hat, ist ausgeschlossen. Er wäre schon in jener ersten Nacht sicher erfroren, und dann hatte ich ihn ja nicht nur in die Decke, sondern außerdem in den Tep pich gerollt und den Teppich wie ein Paket verschnürt. Es ist ganz unmöglich, daß ein Mensch dieses Paket etwa von innen geöffnet hätte. Auch war ja alles verschwunden, der Tote, Decke und Teppich sowie die Stricke. Ehe ich daran gehe, den Entschluß aus meinen Beobach tungen zu ziehen, umkreise ich noch einmal das Haus. Es ist nur dieser einzige Schuppen und diese einzige Grotte vorhanden. Ich kann den Toten also nicht etwa in eine andere Grotte gelegt haben. Ich untersuche den Schuppen, an den die Grotte sich lehnt. Auch dieser Schuppen ist aus dichten Stämmen gefügt, aus aufrecht stehenden Stämmen, die von der Erde bis zur Decke gehen. Er hat zwei vergitterte Fenster und eine große Bohlen lür. Diese aber ist ganz unmöglich zu öffnen, denn der Wind bat den Schnee hier meterboch zusammcngcweht, und dieser Schnee ist zu einer festen Masse gefroren. Ich stoße mit dem Spaten hinein, er ist hart wie Felsen. Es ist also auch ganz unmöglich, daß jemand diesen Schup pen betreten hat. Ich gehe noch einmal zur Grotte zurück. Ich untersuche 'genau Boden und Wände, ob von hier aus vielleicht ein Zugang ist. Ich finde nichts und kehre wieder in das Haus zurück. Die Arbeit im Freien hat mich erfrischt, auch im Hause ist es kühler geworden. Wahrscheinlich hat Evelyn die Heizung abgestellt. Ich klopfe den Schnee von meinen Anzug und gehe noch einmal in den Keller. Seine Wände sind ringsum gewachsener Fels. Auch von hier aus gibt es bestimmt keinen Gang zu dem Schuppen hinüber. Ich durchsuche nun auf das genaueste die unteren Räume des Hauses. Es ist nur die große Vordicle, das Wohnzimmer, das Bad und das Schlafzimmer. Sie sind so geordnet, daß sicher kein Verschlag, kein verborgener Raum mehr besteht. Ich gehe hinaus. Evelyn war jetzt unten bei der Bereitung unseres Mittag essens beschäftigt. Ich untersuche das Arbeitszimmer, öffne jeden Schrank, sehe hinter jeden Vorhang, dann gebe ich in die Sternwarte. Ich kann wiederum genau feststellen, daß das Haus hier oben nur diese beiden Räume enthält und daß über dem Arbeitszimmer ein flaches Wellblechdach liegt. Jetzt unter suche ich noch die Sternwarte selbst. Hier ist nur der Treppcn- bau mit dem Fernrohr und in der Ecke die aufrechtstehcnde Rakete. Ich sehe in die einzelnen Räume hinein, denn neben der Rakete, die einen Durchmesser von zwei Meter und eine Länge von zehn Meter besitzt, stehen Leitern. Ich Weitz aus der Schrift Benjamin Pitts, die ich gelesen habe, wie die Rakete eingerichtet ist und was ich zu tun habe, um sie von innen her zu erleuchten. Die Rakete ist vollkommen leer. Sie hat überhaupt nur einen einzigen Raum, in dem sich Menschen aushalten können, das ist die Führerkabine vorn an der Spitze. Die übrigen Teile sind ein Gewirr von Apparaten und Drähten. Also auch in der Rakete ist niemand verborgen. Ich tue das letzte und steige auf das Gerüst des Fernrohrs. Ich lasse den hydraulischen Druck spielen, und die Kuppel klappt auseinander. Ich steige bis zu der Ocffnung empor und blicke hinaus. Ich kann von hier aus das Dach des Hauses und auch des Schuppens übersehen. Beide sind von Weitzem Schnee bedeckt. Auch auf diesen Dächern ist nirgends die geringste Spur eines Fusstrittes. Ich steige wieder herab, schließe die Kuppel, gehe in das Arbeitszimmer und setze mich an den Schreibtisch. Ich muß jetzt einmal ganz genau Nachdenken. Ich habe festgestellt, daß in diesem Hause kein Mensch verborgen ist. Ich habe fest gestellt, daß kein Mensch das Haus betreten oder verlassen haben kann, denn es sind ja nirgends Fußspuren im Schnee, und seit an diesem Tage die Sonne aufging, ist kein Schnee mehr gefallen. Trotzdem weiß ich, daß ein Mensch hier im Hause gewesen ist, ich weiß es aus verschiedenen Gründen. Am ersten Abend stand eine Petroleumlampe im Wohn zimmer. Sie ist fort, ich habe sie im ganzen Hause gesucht. Gestern früh lag plötzlich der Kopfhörer auf dem Schreib tisch, heut morgen war er fort und jetzt ist er wieder da. Der Leichnam, den ich in die Grotte getragen habe, ist von dort verschwunden. Das sind alles Beweise, daß noch irgend jemand mit uns im Hause ist, selbst wenn ich den Menschen, den ich gestern oben auf dem Stuhl in der Sternwarte zu sehen geglaubt habe, nicht erwähnen will. Dieser Fremde ist sogar an diesem Vormittag, während ich tm Keller und Evelyn in der Sternwarte war, im Arbeits zimmer gewesen und hat den Kopfhörer, den er in der Nacht fortgenommen, wiedergebracht. Ich stehe auf. Ich bin also jetzt vollkommen davon überzeugt, daß ein fremder Mensch unser Haus mit uns teilt und kann eine Lösung nicht finden. Jetzt bemerke ich, daß es im Zimmer dunkel geworden ist, obgleich es erst Mittag ist. Ich trete an das Fenster. Es hat sich ganz plötzlich ein Wintcrgcwitter zusammengezogen. Der Himmel ist schweflig gelb, dahinter eure ganz tiesschwarze Wand, und über diese zucken Blitze. Ganz fern rollt der Donner, ich höre ihn nur leise, aber in hundertfältigem Echo. Ich habe nie solch eine Färbung des Himmels gesehen. Solch ein Grau und Gelb. Hie und da schießen auch gewaltige Geiser empor. Auch sie habe ich bisher nicht gesehen. Das ist ganz natürlich, denn ich sehe ja jetzt von diesem hochgelegenen Zimmer aus nach der anderen Seite. Die Landschaft ist unwahrscheinlich großartig. Vulkanische, rauchende Bergkuppcn. Hoch empor schießende Geiser, 'n denen sich, wenn die Blitze auszucken, auf Sekunden Regenbogen von überirdischer Kraft bilden. Die Blitze zucken unaufhörlich, dabei höre ich jetzt keinen Donner mehr. Sehe nur dieses Feuerwerk über dem Wunder lande, diese aus dem Schnee emporsteigenden, sich in rauchen den Dampf verwandelnden Wasserstrahlen. Ueber dem gelben und schwarzen Himmel rasen in Fetzen weißliche Wolken. Bil den seltsame Figuren, bilden die ganze gespenstige wilde Jagd, die mit Reitern und Hunden und Teufeln daherstürmt. Mir ist seltsam zumute, ich kann den Blick nicht wenden, mir ist, als sei auch im Zimmer ein schwefliger Dunst. Aus Minuten wird es ganz glühend rot in der schwarzen Wand. Ein roter Punkt mit Strahlen herum, die Sonne, die mit dem Gewittergrau kämpft. Dann teilt sich ganz hoch oben, fast im Zenit, das Schwarz des Himmels. Ich sehe dort hoch oben ein zweites Schneefeld, als sei dort oben noch eine Bergwelt. Ein weißes Schneefeld, über das kein Gewitter ist, sondern das in hellster Sonncnglut glitzert. Ich weiß, es kann nur eine Fata Morgana sein, aber es ist unbeschreiblich schön, mitten in der Wut dieses Gewitters, da oben, wahrscheinlich Meilen entfernt, dieses sonncnüberglänzte Schneefeld zu sebcn. Und jetzt erblicke ich auf diesem Schneefeld eine herankom mende Gestalt. Einen Mann, der eilig schreitet, der in der einen Hand einen Bergstock hält. Er nähert sich so schnell, daß ich nicht Weitz, ob er geht oder ob er aus Skiern über den Schnee gleitet. Er kommt gerade auf mich zu, und seine Gestalt wächst ins Riesenhafte. Es ist eine überirdische, überwältigende Erscheinung. Das wilde Chaos des Gewitters um mich herum, der schwarze, von grellen gelben Streifen durchzogene Horizont und mitten darin dieser hell leuchtende Fleck, dieser übergrotze Mann, den die Sonne überstrahlt und der sieghaft heran schreitet. Ich fühle in diesem Augenblick: der Mann ist Benjamin Pftt. Hinter ihm ist eine breite Rille in den Schnee gezogen, hin terlassen von seinen Skiern. Und wer war der Tote? Oben der Lichtglanz der Fata Morgana wird trübe und ist plötzlich verschwunden. Auch die Blitze sind erloschen. Die Sonne dringt durch die schwarzen Woikenwändc, und ein ge waltiger Regenbogen steht wie ein Portal über der Landschaft. Ich weiß es in meinem Herzen: Durch dieses Portal wird Benjamin Pitt kommen. Ich gehe in das Wohnzimmer hinab. Mein Kopf ist mir wie benommen von dem Eindruck, den ich eben gehabt habe. Evelyn Pitt tritt mir entgegen. „War das Gewitter nicht herrlich?" Mein Auge ist noch in den Wunderbildern, die es erschaut. „Ueber alle Beschreibung herrlich." Sie sieht mich an. es muß etwas in meiner Stimme sein, das sie aufborchcn läßt. „Gut, daß das Wetter vorübergeht, heute abend kommt doch mein Vater." — „Ich weiß es." Ich habe es ganz fest ausgesprochen, ich habe dabet an den Mann gedacht, den ich dort oben einherschreiten sah, und wieder blickt Evelyn mir in die Augen. Es ist dämmerig im Zimmer. Eine unwirklich fahle Be leuchtung. Es ist mir wieder wie gestern, als mir das ganze Holz des Hauses zu phosphoreszieren schien. Es ist mir auch, als sei ich selbst anders als sonst. Als fei ich gar kein lebender Mensch, als sei ich nichts wie die ahnende, verkörperte Er wartung von etwas Wunderbarem. Ich sehe Evelyn dicht vor mir, sehe ihr ins Gesicht. In dieses klare, liebliche Mädchcn- gestcht mit ihren großen unweigerlich glaubenden und ver trauenden Augen. Evelyn löst sich aus meinen Armen, in der Selbstverständ lichkeit, mit der sie an den Vater glaubt. In ihrem Gemisch von reiner Hingabe und wieder auch dem praktischen Sinn der Amerikanerin für das Leben fagt sie leise: „Wir müssen essen." Sie geht hinaus. Ich habe gar nicht darauf geantwortet, habe es gar nicht gehört, könnte es auch nicht begreifen, wie ein Mensch in diesem Augenblick an irdische Dinge denken kann und habe doch keinen Vorwurf an sie. Ich schalte kein Licht an, es ist jetzt ganz dunkel im Zimmer. Ich weiß, hier neben dem Fenster steht ein Lehnstuhl. Ich habe bisher ge glaubt, daß es ein ehemaliger Operationsstuhl eines Arztes ist, denn es sind allerhand seltsame Griffe an seinen Lehnen. Jetzt denke ich nur daran, daß ich ruhen möchte und daß es ein Stuhl ist. Ich setze mich in ihn hinein, lehne den Kopf weit zurück und schließe die Augen. Ich versuche zu denken: Der Unbekannte, den ich nicht kenne der Tote, von dem ich bisher geglaubt habe, daß es Benjamin Pitt war, und der nun verschwunden ist das Gewitter mit seinen lautlosen Blitzen —, das überirdische Farbenspiel der Regenbogen jn den sprudelnden Geisern — — der gewaltige Mann, der über das Schneefeld schreitet. Auch jetzt sehen meine Augen dieses gigantische Bild. Mir ist, als habe er die Skier nicht mehr an den Füßen, als stampfe er mit schweren, wuchtigen Schritten durch den Schnee. — Ich sehe diese tiefen, schwarzen Löcher, die seine Stiefel in den Boden drücken. Ich sehe den Schnee von diesen Füßen abfallen, und ich sehe die tiefen Spuren hinter ihm Zurückbleiben und sehe im Sonnenlicht seinen schwarzen, turm hohen Schatten im Schnee. Ich zwinge mich, an anderes zu denken. Ich liege ganz regungslos. Dieses schreckhafte Bild ist verschwunden, aber etwas anderes, Seltsames ist um mich. Mir scheint es, als seien meine Augenlider durchsichtig geworden, als sei vor diesen ein rötlich glänzender Lichtschein. Ich öffne die Augen. Ein leises Surren und Summen ist um mich her. Es scheint von einem Apparat zu kommen, der hinter mir ist. Meine Glie der sind schwer, als sei ich gelähmt. Meine Augen sehen und doch weiß ich, daß ich das doch gar nicht sehen kann, was ich zu sehen glaube. Mir gegenüber ist die Wand, an der der Divan steht. Hinter dieser Wand kommt das Badezimmer und dann die Außen wand des Hauses. Und jetzt scheint es mir, als seien alle diese Wände und die Gegenstände, die vor und hinter ihnen stehen, zu Schemen geworden, zu durchsichtigen Gebilden, die meinen Blick nicht hindern, und ich sehe durch sie hindurch das weite, unendlich weite, grauweiße Schneeseld und ganz, ganz hinten die schwarzen Felsen. Ich hebe die Augen empor, und mein Blick geht ebenso durch die Decke und den Fußboden der Stern warte. Es erscheint mir, als sei dieser wie durchsichtige Ge latine. Ich sehe das Eisengerippe der Sternwarte, sehe die Rakete, aber alles dieses ist unwirklich und gespenstig, hat alle Körperlichkeit verloren. Ich sehe noch etwas anderes, ich sehe ein Wesen mit mensch licher Figur, aber gleichfalls mit schemenhaft durchleuchtetem Körper, auf- und medergehen und an der Rakete und dein Fernrohr hantieren. Ich wage mich nicht zu rühren. Ich wage nicht, über mich selbst nachzudenken. Ist mein Verstand ver wirrt? Hat mein Auge die Kraft, durch steinerne Wände durch zudringen? Ist das alles Phantasiegebilde meiner zerrütteten Koma« vo« VMS vo« Aa/MZ« Urkederrecktssekutr ckurek Karl Köbler L Lo., Lettin-2eklenckork Nerven? Ich sehe, ganz langsam meinen Kops drehend, nach den Seiten. Hier sind, wie immer, die festen Wände. Liegt es an mir, bin ich verwirrt, oder phantasiere ich —? Warum dringt mein Auge nicht auch durch diese Wände? Wie kann ich krank sein, geisteskrank und doch klar über mich nachdenken? Aber dieser rötliche Glanz ist im Zimmer. Ich hebe wieder den Blick. Es ist dasselbe, die schemenhaften Um risse der Sternwarte, und jetzt sehe ich, wie dieser gespenstige Mensch — oder ist es ein wirkliches Gespenst in Menschen gestalt? — die Treppe hinaufschreitet, sich auf den Stuhl setzt und durch das Fernrohr blickt. Genau so, wie ich es gestern, gesehen habe. Die Tür geht auf, Evelyn erscheint und schaltet das elek trische Licht ein. Es wird hell, die Phantasiegebilde verschwin den vor meinen Augen. Ich springe auf, und in demselben Augenblick hort auch das surrende Geräusch hinter mir auf. Evelyn sieht mich an. „Um Himmelswillen, wie verstört siehst du aus?" „Ich weiß nicht, wie seltsam mir ist." Sie ist bei mir. „Du hast ja auf Vaters GammastuHl gesessen, hoffentlich hast du keine Hebel berührt." „Ich verstehe dich nicht." „Du hast doch oben in Vaters Zimmer die Schrift von de« Gammastrahlen, die Doktor Millikan entdeckt hat, gelesen. Von den allmächtigen Strahlen, die sogar Bleiwände von 2 Meter Dicke durchdringen und die aus ganz kurzen Aetherwellen des Weltalls bestehen." Ich starre sie an mit weit aufgerissencn Augen. , „Und dieser Stuhl?" „Ich habe Vaters Arbeit bis zu Ende gelesen. Dieser Stuhl birgt den Apparat, um die Gammastrahlen zu erzeugen, die sich in rötlichem Licht äußern sollen. Deswegen hat Vater auch sein Haus auf eine Drehscheibe gesetzt, um die Sonnen strahlen möglichst immer gleichmäßig zu seinen Versuchen be nutzen zu können." Ich höre ihr zu. Es bereitet ihr kindliche Freude, ihr junges Wissen auszuvlaudern. Sie weiß es nicht, welchen Dienst sie mir erweist. Mein Verstand ist nicht wirr, ich habe nur eine« Einblick in ein neues Wunder menschlichen Geistes geta». Jetzt denkt sie wieder an mich. „Du bist unwohl?" „Nein, nein." „Hast du etwas von der Wirkung der Strahlen gesehen?* Ich überlege. „Nein, nein. Aber es ist möglich, daß ich irgendeine Wirkung von ihnen verspürt habe. Mir war so benommen zu Mut, als ich in dem Stuhl saß, jetzt ist mir besser." „Du mußt wirklich jetzt etwas genießen." Ich folge ihr willenlos an den Tisch. Warum sage ich ihr nicht, was ich gesehen habe? Weil ich ihr nicht alles sage« kann! Weil ich sie jetzt nicht damit ängstigen möchte, daß ich es nun ganz gewiß Weitz, datz dort oben noch ein dritte? menschliches Wesen — seit ich weiß, welche Wirkung diese Gammastrahlen haben, Weitz ich ja auch, daß dort oben kein gespenstiges Gebilde meiner Phantasie, sondern ein Mensch wie wir einhergeht daß dieser Mensch wirklich da ist. Dieser Mensch, der andauernd um uns herum ist, dessen Handlungen ich kenne und dessen Gehen und Kommen ich mir nicht zu erklären vermag. Ick habe Evelyn von diesem Men schen noch nicht gesprochen. Sie glaubt noch immer, daß ich ihn mir gestern nur eingebildet habe. Soll ich jetzt von ihm sprechen? Soll ich sie jetzt mit ihm ängstigen? An diesem Abend, an dem doch ihr Vater kommt? Ich erschrecke schon wieder und ertappe mich dabei, datz ich jetzt ebenso fest an das Kommen dieses Vaters glaube wie sie. Hat nicht dieser Mann über uns dort oben Vorbereitungen zu seinem Empfang getroffen? Dieser Mann, der sich rätsel haft vor uns verbirgt und der doch nicht unser Feind sei« kann, denn er hat in diesen Tagen uns durchaus nichts zu leide getan. Und wir sind doch eigentlich in seiner Gewalt. „Aber du itzt ja gar nicht. Du siehst so erregt aus, ich hab« dir eine kühle Limonade gemacht." Wie lieb ist sie in ihrer Besorgtheit. Der eiskalte Trank tut mir wohl. Ich spüre Hunger, ich beginne zu essen, ich spüre, wie Evelyns gesunde, harmlose Zuversicht mich aus der Welt dieser Wundergebilde, die ich erschaut habe, aus meinen Sorgen und meiner Angst Wiedel in die Wirklichkeit zurückführt. Ich atme auf, ich werde ver gnügt. Der Mann dort oben ist ja nicht unfer Feind, er ist wahrscheinlich unser Beschützer. Die Nervenreaktion löst sich auf in ein Gefühl fast übermütigen Glückes. Ich schließe Evelyn in meine Arme, ich küsse sie, und auch sie ist glückselig, daß ich wieder der alte bin. Fünftes Kapitel Benjamin Pitt ist an diesem Abend nicht gekommen. Wir haben lange gesessen und gewartet. Evelyn in ihrem feste» kindlichen Vertrauen, ich in erwartender Erregung. Ich habe ihr an diesem Abend auch von dem fremden Mann gesprochen, der mit uns im Hause wohnen mutz. Sie hat es zuerst nicht geglaubt. Als ich aber von der verschwundenen Lampe und von dem Auftauchen und wieder Verschwinden der Kopfhörer sprach, wurde sie stutzig. Sie bat mich, sich aus den Stuhl, von dem aus ich die Wirkung der Gammastrahlen beobachtet hatte, setzen zu lassen. Ich habe sie angefleht, es zu lassen. Ich schiebe ja diese seltsame Erregung in meinen Nerven auf die Wirkung dieser Strahlen. Auch sind so viele Hebel an den Lehnen dieses Stuhles. Ich habe keine Ahnung, welchen von diesen Hebel« ich zufällig berührt habe. Vielleicht könnte ich Evelyn in Lebens gefahr bringen, ich weiß, wieviele Opfer die Röntgenstrahlen in den ersten Jahren gefordert haben. Ich bat sie zu warten, bis ihr Vater kommen würde. Der fremde rätselhafte Mann ängstigt Evelyn nicht. „Er hat uns bisher nichts getan, also ist er auch nicht unser Feind. Wahrscheinlich ist er Vaters Diener und hat seine Weisung." Sie ist eigentlich gar kein Kind, sondern eine Heldin, di« kleine Evelyn. Eine Heldin in ihrem grenzenlosen Vertrauen zu ihrem Vater. Eine Heldin in der Art, wte sie hier lebt, wie sie stillschweigend die Pflichten der Hausfrau übt, wie sie voll kommen ruhig ist und gleichmäßig und so gar nicht nervöS. Ich schäme mich oft vor ihr, datz ich innerlich so erregt bin. Freilich, auf mir lastet das Gefühl der Verantwortung für unser beider Leben und der Gedanke an jenen, nun wieder verschwun denen Toten. Ich bin jetzt doch wieder überzeugt, daß jener Tote Benjamin Pitt war. Wer weiß, welchen unendlich weit entfernten Wanderer mir die Fata Morgana gezeigt hat. Ich sehe Evelyn prüfend an. „Dein Vater ist heut nicht ge kommen." „Er wird morgen kommen, das Gewitter hat ihn zurückge halten." _ Was tue ich, wenn er auch morgen nicht kommt? Wie soll ich ihr dann beibringen, datz er überhaupt nicht mehr kommt? Wie soll ich ihr sagen, daß er tot ist? Wie soll ich sie von de« Schrecklichen überzeugen, nachdem die Leiche verschwunden. Und wir dürfen auch nicht mehr lange zögern. Jetzt ist No" vember. Wir können unmöglich den ganzen Winter mit seine» Schrecknissen hier oben verbringen. Wir haben auch gar mw» so viel Lebensmittel. All dies schwirrt mir durch meinen Kops, während Evelyn hausfraulich das Etzgeschirr forträumt lM» abwäscht. (Fortsetzung foW-k
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)
Nächste Seite
10 Seiten weiter
Letzte Seite