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Wilsdruffer Tageblatt : 31.12.1931
- Erscheinungsdatum
- 1931-12-31
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193112317
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19311231
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19311231
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1931
-
Monat
1931-12
- Tag 1931-12-31
-
Monat
1931-12
-
Jahr
1931
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 31.12.1931
- Autor
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Dispensaires, dieser Sammel- und Beratungsstellen für Tuberkulosekranke ist mustergültig verwirklicht. Alles ist freilich auf diesem Gebiete noch n i ch t ge schehen und die schwere Wirtschaftskrise hemmt auch diese wichtige Arbeit an der Volksgesundheit in Deutschland für lange Jahre. Wir können schon aus wirtschaftlichen Gründen noch nicht dem Beispiel Norwegens folgen, wo alle „gefährlichen" Tuberkulosekranken auf Kosten des Staates in zahlreichen kleinen Sanatorien ausgenommen werden, wo sie unter ärztlicher Obsorge selbst Jahre ver bringen können. Was wir vermögen und tun müssen, ist die rastlose Aufklärung, die Erziehung der Kranken und ihrer Umgebung zur allgemeinen Bekämpfung der gefähr lichen Volksseuche, deren Opfer weit zahlreicher sind, als die sämtlicher anderer Infektionskrankheiten zusammen genommen. Ärztliche Kunst, Wissenschaft und Verwaltung haben sich in den Dienst der Tuberkulosefürsorge gestellt. Das Deutsche Zentralkomitee zur Bekämpfung der Tuberkulose, eine große Reihe von Heilstätten, Tuberkulosekranken häuser, Fürsorgestellen, Forschungsstätten, wie das Preu ßische Institut für Infektionskrankheiten „Robert Koch" Wirken im Sinne des großen deutschen Gelehrten Robert Koch, dessen Entdeckung des Tuberkuloseerregers im Jahre 1882 als die Grundlage feder modernen Tuber kulosebekämpfung angesehen werden muß. Wir feiern in diesem Jahre — 1»32 — die fünfzigste Wieder kehr dieser Entdeckung größter praktischer Tragweite. Die Abwehr der Tuberkulose geht zwei Wege: zunächst gilt es, die Quellen der Ansteckung zu verstopfen und dann neben dieser fortwährenden Arbeit der Vorbeugung und Aufklärung, heilend und helfend ein zugreifen und vor allem auch durch eine Reihe wichtiger Maßnahmen die Veranlagung (Disposition) zu vermin dern. Es mutz schon als beachtenswerter Fortschritt ge wertet werden, datz nach dem neuen preußischen Tuber kulosegesetz jeder Tuberkulosekranke, wenn er für seine Umgebung eine Ansteckungsgefahr bedeutet, anzeigepflichtig ist. Die Tuberkulosefürsorge kann dann wenigstens im Rahmen des Möglichen für Schutz der näheren Umgebung, der Familie sorgen und auch die Heilung irgendwie in die Wege leiten. Der Kranke mit seiner sogenannten offenen Tuberkulose muß durch fachärztliche Behandlung in das nicht ansteckende „geschlossene" Stadium übergeführt werden. .Hier ver- einigt sich die Llrbeit beider Richtungen: Heilung und Belehrung der Erkrankten und der Umgebung dient gleich zeitig der breiten Rüstung in diesem Kampfe. Bessere Er nährung, verbesserte Wohnungsverhältnisse, Entfernung gefährdeter Kinder aus tuberkulöser Umgebung, ihre Unterbringung in gesunden Kolonien, Luft, Wasser und Sonne in den Bergen oder an der See sind nicht nur Heilmittel, sondern zugleich neben der Ansteckungs verhütung der wirksamste Schutz. Es ist eine uralte Erfahrung, daß die Zahl der Tuber kulose-Erkrankungen zurückgeht, so wie sich die Lebens verhältnisse, die allgemeinen Lebensbedingungen der Massen des Polkes verbessern Diese eigenartige Er scheinung kann man bei der fortschreitenden Industriali sierung in den verschiedenen Ländern sehr gut erkennen: die Tuberkulose nimmt ab in den großen Städten, wo die Massen der Arbeiterschaft durch die gesetzlichen Bestim mungen der Gesundheitsfürsorge leichter und öfter mit dem Arzt in Berührung kommen und die allgemeinen ge sundheitlichen Einrichtungen wirksamere Bekämpfung der Ansteckungsherde ermöglichen Die Verbreitung der Tuber kulose auf dem Lande ist keineswegs geringer, eher größer als in den großen Industriezentren. Die Verbesserung der allgemeinen Lebenshaltung ist der entscheidende Faktor. Es ist selbstverständlich, daß man seit Jahrzehnten nach einer wirksamen Schutzimpfung sucht. Das Institut „Robert Koch" hat sich deshalb auch erst vor kurzem dafür eingesetzt, datz die Calmette-Schutzimpfung — neben allen bisher erwähnten Maßnahmen — auch in Deutschland im Tuberkulosemilieu erprobt wird, um ein Urteil darüber zu gewinnen, ob diese Schutzimpfung wirklich, wie das Calmette annimmt, einen Vorteil bedeutet im Sinne eines Rückganges der Tuberkulosesterblichkeil im Kindesalter. Durch das Unglück in Lübeck dürften diese Versuche vor läufig zum Stillstand kommen. Es mutz von vornherein gesagt werden, datz nach unserem heutigen Wissen von einer Schutzimpfung gegen Tuberkulose nur ein bescheidener Erfolg zu erwarten ist, daß aber nach den Versuchserfahrungen oer letzten Jahre neben der Fmpfmethode Calmette kein anderes Schutzimpfverfahren praktisch uns zur Ver fügung steht. Wenn mit der Schutzimpfung nach Calmette nichts erreicht wird, wird man wahrscheinlich darauf ver zichten müssen, auf dem Wege deraktivenJmmuni- siernag im Kampf gegen diese Volksseuche Erfolge zu erhoffen. SckicklalswrnLlr ?u Silvester. Historische Skizze von Hubert Südekum. Eisvorhänge machen die erleuchteten Fenster des Tau- roggener Gutshauses undurchsichtig. Um die Ecken Pfeif! schneidender Wind. Schneegestöber wirbelt um den Land wehrmann, der vor der Tür Schildwache steht und sein Ge sicht tief in den hochgeschlagenen Mantelkragen birgt. Es isi kein freundliches Los, in Kurland in eisiger Silvesternacht Posten zu stehen; aber sapperlot! — den alten bärtigen Preu ßen ficht es nicht an, denkt er doch an jene Armen, die der entsetzlichen Rückzug der napoleonischen Armee durch dn Eiswüsten Rußlands decken. Furchtbar muß das sein, vor erbarmungslosen Kosaken durch meterhohen Schnee gejagt zu werden, in Lumpen gehüllt, sressenden Frost in den Gliedern und endlose Weiten vor sich, in denen der Tod in hundert facher Gestalt auf seine Opfer lauert. Wie gut hat er's dock oagegcn: Er hält die Paar Stunden Schildwache vor den' Qnartier des Generals Jork, dann kommt die Ablösung, unl bald sitzt er wieder am warmen Feuer seines Quartiers und kann die steifgefrorenen Glieder auftauen. Da kann man wirk lich mit gutem Gewissen dem Herrgott danken, daß man iw Iorkschen Korps dient. Es sollte ja auch auf Befehl de- großen Korsen mit gegen Rußland gehen, aber nun hat diese: gefährliche Zug sein Ende. Gestern, am 30. Dezember 1812, hat Jork sein Korpi neutral erklärt; er kämpft nicht mehr für Napoleon, aber auch nicht für den Zaren. Die Kosaken des russischen General-: Diebitsch hatten Jorks kleines Korps gestellt, von den Regi mentern Macdonalds war es abgeschlossen, im Osten gähnten die gefräßigen Eiswüsten Rußlands, der Weg zurück in du Heimat war versperrt: jäh forderte das Schicksal von Iori die alles einsetzende Tat. Und das war die Neutralitäts erklärung. Aber das Schicksal fordert mehr... Drüben in den armseligen Katen von Tauroggen feiern die Iorkschen Offiziere bei flackernden Kerzen die letzte Nachi des Jahres. Sie singen vaterländische Lieder, sie rufen: „Hurrah, es lebe der König"! und „Es lebe der Zar!" Rus sische Offiziere sind ihre Gäste; sie feiern Bundesbrüderschaft. Der einsame Jork im leeren Stübchen des Herrenhauses Höri ihr frohes Rufen und Singen. In seinem Hirn jagen sich die Gedanken, ein Tumult von Gefühlen bedrückt ihn. Er sitzt, den Kopf in die Hände gestützt, vor dem leise lodernden Kaminfeuer. Wie sagte doch Oberst Röder, sein Stabschef, vor einigen Tagen? „Herr General, für das Vaterland kann nichts heilvoller sein, als wenn Sie mit den Russen ab schließen; für Sie persönlich aber ist dabei alles gewagt!" — Jork, der Alte, erhebt sich plötzlich. Nachdenklich durchmißt er die Stube. Himmel, Röder hat recht! Aber was steht aus dem Spiele? Jäh sieht Jork das Schicksal vor sich, riesengroß, fragend, rüttelnd, aufbegehrend. Noch nie stand er vor so schwerer Entscheidung, noch nie war für ihn die Schicksals frage so schwer zu beantworten. Er denkt an seine braven Truppen, an den König, an sein geliebtes Preußenland. Sein Volk sieht er; er hört es stöhnen nnter der Korsenhand, er innert sich der furchtbaren Erniedrigungen, und dann denkt er an Napoleons Niederlage in Rußland, an den Brand Mos kaus, an die Beresinabrücke ... Vor dem eichenen Tische bleibt der General stehen und vertieft sich in das Studium der Karten, die dort ausgebrcitet liegen. In dem großen Zimmer jenseits des Flurs wird auch gefeiert. Stabsoffiziere sind es, frohe, frische Soldaten gestalten. Für sich haben sie die Zukunft schon entschieden. Jubelnd klingt es aus ihren Reden: Meine Leute sind be geistert, endlich vom französischen Bündnis loszukommen. Meine warten schon lange auf den Tag der Rache. Sie wollen mit den Russen jetzt zusammengehen. Auf, gegen Na poleon! Auf nach Paris! Die Gläser klingen, Hurrahrufe dringen in die dunkle Nacht. Da ertönt der matte Hufschlag galoppierender Pferde durch die Schneegassen Tauröggens. Reiter preschen auf den Gutshof. Erschrocken reißt Jork das frostklirrende Fenster auf: „Wer ist da? Was wollt Ihr?" „Die Kosaken des Zaren huldigen in des Jahres letzter Stunde dem Manne der Tat. Es lebe General Jork!" Der Alte am Fenster zuckt zusammen. Mißmut ver finstert jäh sein Gesicht. Dann reißt er das Fenster zu und läuft zur Tür: „Oberst Röder!" „Herr General?" „Oberst Röder, sagen Sie den Leuten, daß ihr Tun... Gagen Gre oen Leuten, daß ihre gehetzten Pferde der Ruhe bedürfen!" „Zu Befehl, Herr General!" Die Kosaken murren, dann gehorchen sie und traben wortlos davon. Jork hat sich an den Tisch gesetzt; eilig kratzt die Feder über ein Blatt Papier: „Willig lege ich Eurer Majestät meinen Kopf zu Füßen, wenn ich gefehlt haben sollte..." Er schreibt an den König von Preußen. Er hält inne, schwer geht sein Atem. Da klopft es. „Was ist?" „Dragonerleutnant von Korff, zur Leibwache des Mar schalls Macdonald kommandiert, bittet Herrn General sprechen zu dürfen." „Korff? — Gut, soll eintreten!" Salutierend steht der junge Offizier vor dem General. „Letzte Anweisung von Marschall Macdonald. Gehen Sie mit Ihrem Kommando über die Memel zurück, wo Sie Ihr Korps, und Ihr Regiment wiederfinden! Leutnant Korff mit 32 Dragonern zur Stelle." Schicksalswende? Jetzt heischt die Tat ihren letzten Trumpf! Jorks Gesicht wird eisern. Furchtbar arbeitet es in seiner Brust. Dann reckt er sich. „Korff!" — schneidend gellt die Stimme durch den stillen Raum — „Den Trom peter!" Schon stiebt sporenklirrend der Befohlene ins Zimmer. „Blas' Er Alarm, Trompeter! Blase Er, daß die Toten er wachen! Blase Er Fansare!" Im Hause wird es lebendig. Hörner gellen auf dem Hofe, in den Schneegassen Tauroggens, Trommeln wirbeln, Hurrahrufe ertönen aus den Quartieren. Alarm! Alarm! Röder tritt marschbereit zu Jork: „Herr General?" „Wir marschieren Massenbach entgegen! In Tilsit feiern wir 1813. Aufgesessen nun und angetrabt!" Auf dem Hofe sammeln sich die Soldaten, Grenadiere, Husaren, Dragoner, Landwehrleute. Ihre Augen leuchten, einer singt: „Verzage nicht, du Häuflein klein —". Die andern fallen mit ein. Mächtig braust der Choral durch die dunkle Silvesternacht. Da schlägt dumpf und schwer die Kirchenglocke Tau roggens zwölf Uhr. Sie läutet das neue Jahr ein, die Freiheit... Jork schwingt sich in den Sattel. Was wird das neue Jahr bringen? Ein freies Vater land oder den Tod auf dem Schlachtfelde? „Aufgesessen!" Jork reitet in die Neujahrsnacht hinaus. Ein einsamer Stern leuchtet am dunklen Firmament durch das Schnee gestöber. Die Freiheit! Die Freiheit! EiMr um die Jahreswende. Skizze von Werner Krueger-Hamburg. Von der Stadt her zogen sich die letzten hohen, stein grauen Mietskasernen wie ein Zug massiger Arbeitselefanten, die gleichsam erschreckt über die urplötzliche Stille und länd liche Schweigsamkeit dieses abgelegenen Winkels mit dem Fuß verharrten, Atem holten und zu Stein erstarrten. Von ihnen lref die bunte, in allen Farben schreiender Reklame prangende Bauplanke noch ein Stücklein vorwärts. Vor ihr glitzerten die Pfützen im Mondlichte, und jenseits des weit geöffneten Tores, hinter Zementbarren und Kalkgruben, schreiend und wutzelnd, gröhlend und quabbelnd, juchzend und quirlend, tobte der Lärm eines vom Fest her hier hängen gebliebenen Wanderrummels, drei grüne, wackelige Wagen, eine hals brecherische Luftschaukel, ein Karussel und ein riesiges Rad, mit vielen kleinen, bunten Birnen abenteuerlich gespickt, eine russische Schaukel. Dazwischen jener eigenartige halbflügge Großstadtmensch, der sich die Klappmütze auf das eine Ohr schob und grinsend spie auf das, wovor die Väter noch in stiller Scheu die abgegriffenen Hüte zogen. Diese Jungen der Nach kriegszeit, die reif und faul geworden waren, ehe noch sie zur Blüte gelangten, die keinen Glauben mehr hatten, kein Ideal. Arme, blutarme, zu bedauernde junge Burschen! Aber das Rad, das große Feuerrad, das sich unablässig in der Luft herumschwang, oas war schön . . . Der Kreisarzt Hans Schmidt sah aus dem Fenster, das hoch über dem Rummelvlab laa. auf das sckwinaende Rad herab. Es erhob sich langsam und beharrlich mit vielen rote» und gelben Kugeln hoch in der Nacht, ließ den graubraune« Großstadtnebel für einen Augenblick goldig erglänzen, Want sich juchzend um seine Achse und sauste herab, um wieder aufzusteigen. Der alte Schmidt legte das Urethrapräparat aus der Hand, warf das Skalpell in den Kasten, schob den Bakterien sucher weiter zurück und zog sich einen Stuhl zum Fenster. Die Menschlein dort unter ihm waren kleine, ineinander wurzelnde Punkte. Man sah sie kaum. Nur das Rad hakte Bestand, das kreisende Rad. Von der Wand her zitterte ein feines metallisches Klingen durch den Raum. Und dann Hub die große Uhr an, elf rollende, volle Töne durch das Zimmer zu kugeln. Ein« Stunde noch war es bis Mitternacht. Eine einzige Stunde noch, ehe das schwere neue Jahr begann. „Dieses Rad da unten", dachte der alte Arzt, „das ist das Rad der Zeit. Es dreht sich unablässig, und es schein^ daß keine Menschenhand es aufzuhalten vermag. Es glitzert in tausend Farben und verlockt immer wieder zu jauchzender Hingabe an die eine große Göttin, an die große Kirke, die Zeit! Aber es ist unerbittlich wie jedes Naturgesetz. Es dreht sich, weil die den Mittelpunkt fliehenden Kräfte den zum Mittelpunkt strebenden die Waage halten. Es dreht sich immerzu!" Und wie er von neuem hinuntersah, stand das Rad still. Es ächzte mißtönend, zitterte in seinen lampenübersäten Speichen und dann — plötzlich! — erlosch das Licht und das riesige Schattenbild des Radkranzes starrte in die Nacht. Gleich darauf erklang gell und schrill die Glocke an der Tür des Arztes. Draußen stand ein ältlicher Mann in der bunten Strickjacke der fahrenden Leute, eine Seemannsmütze aus dem Kopfe. „Verzeihen Sie, Herr Doktor! Dort unten an meinem Rade, da ist ein Unfall passiert. Der junge Mann, der mit einem anderen Burschen das Rad gedreht hat, dem ist es über die Brust gegangen Da — da — schon kommen sie mit ihm . . ." Und an dem Alten vorbei trug man einen verhüllten Körper herein. Der Kreisarzt nickte wortlos. „Ich werde ihn sofort untersuchen und unter Umständen die Ueber- führung in das Krankenhaus veranlassen." „Jawohl, Herr Doktor!" sagte der Alte höflich. „Ich danke Ihnen auch schön. Und hier sind seine Papiere." Er schob ein braunes, abgegriffenes Buch in die Hand des Arztes und stapfte schweren Schrittes die Treppen hinab. Der Kreisarzt trat an die Bahre und schlug das Tuch zurück. Ein schmales Gesicht lag in dem bunten Karussell kissen. Blondes Haar. Eine Nase mit eigenwilligem Knick in der Mitte. Der alte Schmidt stutzte. Fuhr zurück. Und wischte mit der Hand über die Augen. Dann griff er hastig nach dem zur Seite gelegten Arbeitsbuche. Die Buchstaben tanzten einen teuflichen Tanz vor seinen Augen. Werner Schmidt. Werner Schmidt. Werner Schmidt . . . Still war der alte Arzt einen Augenblick. Nur der Atem ging stoßweise aus seiner Brust. Die faltigen Hände rissen an dem kurzen, Weißen Bart. „Nein! Nein!" sagte er. „Nein! Das ist ja nicht wahr!" Und dann öffnete er mit vorsichtigen Händen das Hemd und tastete über die Brust des Jungen. Aber er zog sie bald wieder zurück. Eine Rippe hatte die Lunge durchbohrt. Ein gefallen. Vorbei. Vielleicht eine Stunde noch! „So kommst Du zu mir?" fragte er und strich mit den Händen über des anderen bleiche Stirn. „So kommst Du wieder zu mir, Du armer Junge?" Er ergriff des Jungen Hand, die schwachen Stöße des Pulses ausnehmend, und dazwischen glitten die Gedanken vor bei - winkende Schatten ein langer, langer Zug. Der Sommerabende gedachte er, da der Junge zu seinen Füßen gespielt. Eines Christfestes gedachte er, da der kleine Knabe nn hohen Fieber in seinem Bettchen lag und der Vater die Tür öffnete, um ihm den Christbaum zu zeigen . . . Tann starb sein Weib. Und der Junge ging bei Nacht und Nebel. Der Vater schrieb an Polizei und Landrat, er ließ suchen und sand ihn und — der Sohn ging nach einem Vierteljahr von neuem von ihm - . . Der alte Arzt beugte sich über ihn und tastete mit den Fingern über des Jungen Stirn. „Geistert sie hier herum, Deine arme, nimmermüde, eigensinnige kleine Seele? Will sie jetzt schlafen gehen, ja, mein Bub?" Da schlug der Junge die Augen auf. „Vater? Bist Du bei mir?" Seine Hand legte sich auf die verkrampfte Brust. Sein Gesicht zog sich schmerzlich zusammen. „Ich stand unten und drehte das Rad und sah zu Dir hinauf. Ich hatte so Heimweh Hunger hatte ich. Deshalb drehte ich das Rad . . . Aber der Hunger nach Liebe, Vater, der war viel größer." „Junge", sagte der Alte mit zitternder Stimme, „Du trotziger Bub'!" Der Husten riß dem Jungen die Brust auf. Des Arztes kunstreiche Finger drückten sanft auf den Brustkorb, um die Schmerzen zu lindern. „Das Rad ist mir über die Brust gegangen", flüsterte der Junge. „Immer habe ich schon gesagt, der Alte sollte einen Handgriff anbringen — für uns, einen Handgriff " „Das Rad der Zeit", murmelte der Alte, „es geht über uns hinweg ... Du hast recht, Junge, einen Handgriff — — muß man finden " Der schlug die Augen voll auf zu ihm. „Das ist die Liebe, Vater! Ich bin gewandert — Biele, viele Meilen und überall, überall, Vater, hatten die Menschen solchen Hunger nach Liebe, Vater!" „Die Liebe!" nickte der Alte, „Ja, Junge, nur die Liebe macht es uns überhaupt möglich, das schwere Rad der Zeit zu tragen." Von draußen drang der Lärm der Silvesternacht. „Vater!" flüsterte der Junge. „Die Mutter sang . . Der Alte fuhr mit den Händen unter den Bart, wo es irgendwo in der Kehle würgte. Dann summte er tapfer in seinen tiefen Baß: „Schlaf, Herzenssöhnchen, Mein Liebling bist Du " Der Kopf der Jungen sank in seinen Arm. Da rasselte cs in der Uhr, und zwölf rollende Schläge übertönten die Stimme des Alten. Vom Fenster aber schritt eine, die größer ist als allen Volkes Haß und Kummer und Not, vom Fenster her schritt die Liebe und küßte die beiden. Tagesspruch. Wer wollte sich beklagen, da stets uns überfällt ein inniges Behagen am Eitelsten der Welt! Wie manches ist vergangen! Wie manches wird vergehn! Wir mistens, wir verlangen kein ewiges Bestehn!
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