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Wilsdruffer Tageblatt : 30.12.1931
- Erscheinungsdatum
- 1931-12-30
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193112309
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19311230
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19311230
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1931
-
Monat
1931-12
- Tag 1931-12-30
-
Monat
1931-12
-
Jahr
1931
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 30.12.1931
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Gedanken um Silvester. Von Rudolf Presber. Bon jedem Kindlein, das in der Wiege liegt, erwarten die Eltern Besonderes. Wie sollte es da, wenn ein neues Jahr begrüßt wird, anders sein? In der nächtlichen Fest freude, die freilich von Sorgen, die wir von einem Jahr mit ins andere schleppen, nie ganz zu trennen ist, geht in Hoffenden und Jubelnden leicht — und sei's nur sür eine kleine Weile — das Gefühl dafür verloren, daß hier nicht, wie auf dem Theater, ein Vorhang niedergeht und nach einer Pause ein Vorhang wieder aufgezogen wird und daß zwischen den zwei Vorhängen, weil's der Dichter so will, ein kräftiger Sprung über Naum und Zeit in neuem Milieu zu neuen Wendungen und Ueberraschungen führt. Und man glaubte, zwang sich in einem Raufch traditionellen Uebermuts an das Wunder, an die Zauberkraft dieser Nacht zu glauben. Dieser einzigen, berühmten, mit allem Glanz der Hoffnung über goldeten Nacht. Wie lieb wir die Sonne haben, wie sehr wir seelisch und körperlich von ihr abhängen, das erkennen wir erst, wenn wir prüfen, wie die Nacht — so gemeinhin: die Nacht — von unserem Geschlecht gehaßt, gefürchtet, verleumdet wird. Häßlich ist die Nacht, sagen wir. Und: die Nacht ist keines Menschen Freund. Der Spruch — die meisten suchen ihn in der Bibel, in Wahrheit kommt er von Gryphius über Gellert in den Schatz der Sprichwörter — ist jedem geläufig. Aber die eine Nacht — zwischen den Jahren — strahlt von Licht and füllt sich mit unseren Freuden auf Kosten der Schwestern, die „häßlich" sind, „keines Menschen Freund" und im Dunkel bleiben. Wenn die Kinder sind im Dunkeln, wird beklommen ihr Gemüt... Nicht nur das Gemüt der Kinder. Es waren sicherlich keine Kinder mehr, die in alle Sprachen den Satz übernommen haben: Die Nacht ist keines Menschen Freund ... Warum ist sie's nicht? In erster Linie, weil sie die Tätigkeit anterbricht, zu der der Mensch geboren ist, die ihn kräftigt, :rhält, nährt. Das normale Leben sieht — oder sah, denn viel ist anders geworden in den Zeiten der Nachtschichten, der nächtlichen Straßcnreinigung und der ihr verwandten Nacht kritik — die Braven, Biederen, Normalen tagsüber im natür lichen Licht bei der Arbeit, nachts aber die Heimlichen, die sich über ihre Pläne zu verbergen haben, die Diebe, die Räuber, am davon zu Profitieren. Und dann die Schlemmer. Die die Mörder. Alle, die den Schlaf der andern brauchen, Schlemmer, die sich die dunkelsten Nächte taghell zu machen wußten, haben von je die hellste Nacht, zwischen den Jahren, jum Fest ihrer Feste gemacht. Erinnert man sich noch in unseren Tagen, wie so eine ilte Neujahrsnacht im kaiserlichen Berlin aussah? Von den Straßen, ihrem Lärm, ihrer Freude, ihrem aufblitzenden Licht, ihrer Gemeinheit um Mitternacht will ich nicht reden. Aber die Lokale — von den kleinsten Kaschemmen der winkligen Innenstadt, wo der Schnaps über Tische und Westen floß, bis zu den vornehmsten, prunkvollsten Lokalen, in denen die besten Kapellen aufspielten und der Sekt wirklich in Strömen floß — alles unter der großen, berühmten, hin reißenden Suggestion des „Wunders" dieser Nacht, die sür sie taumelnd Hoffenden wie ein Wegweiser stand am Pfad in neues, noch mystisch verhülltes Glück. Und wenn am Morgen des ersten Tages im neuen Fahre die drei berühmten Standarten auf dem Schloßdach bochgingen, die kaiserliche und die königliche und die kur- brandenburgische, und wenn die ersten Staatskarossen leer sie Linden entlang fuhren, die Botschafter zum feierlichen Empfang zu holen, dann stolperten die letzten Genießer mit serschobener weißer Krawatte und eigenwillig kankanierenden Beinen hinter den Spielleuten der Garderegimenter zum „großen Wecken" und summten die sröhlichen Melodien mit in den klaren, kalten Wintermorgen. Es war immer das selbe. Und fast schien's, als stünden am Rand der Bürger steige auch die Ausländer mit ihren gezückten Kodaks noch som vorigen Jahr da ... Das „kaiserliche" Berlin!... Der Chor in der „Braut von Messina", dem nach hellenischem Vorbild die ewigen Wahrheiten mitten in zeitlich begrenzten Stürmen in den Mund gelegt sind, läßt über den Zwist des fürstlichen Hauses in Messina hinweg diesen Hymnus uns hören: „Völker ver rauschen, — Namen verklingen; — Finstere Vergessenheit — breitet die dunkclnächtigen Schwingen — über ganze Ge schlechter aus. — Aber der Fürsten — Einsame Häupter — glänzen erhellt; — und Aurora berührt sie — mit den ewigen Strahlen — als die ragenden Gipfel der Welt..." sind keine einseitige Geschichtsschreibung, kein Haß, der gegen die Macht in der Hand des Einzelnen, gegen das Erb- MkstcWttndienst im Schnee. Skizze von Herbert Grote. Als guter Kaufmann Pflegte Hans Nobelsdörfer einmal im Jahr Bilanz zu machen. In seinen Büchern und in seinem Herzen. Was den Abschluß im Herzen anbelangte, so hielt er Silvester für den besten Zeitpunkt hierzu. Denn dann hatte er am meisten Muße. Da konnte er schon früh am Nachmittag sein Geschäft schließen, denn später kam doch niemand mehr zu ihm. Dann räumte er in seinem Laden auf, weil im Dorf die Sage ging, böse Geister trieben in der Neujahrsnacht dort ihr Unwesen, wo sie Unordnung anträfen. Schon aus dem Grunde suchte er" auch in seinem Innern Ordnung zu schaffen. Er dachte über das eine oder andere nach, was er im vergangenen Jahr erlebt hatte. Da war die Freude über gute Geschäfte gewesen. Doch dann schlich sich das böse Gewissen ein oder zum mindesten das Bewußtsein, nicht ganz richtig gehandelt zu haben. Dort hätte er vielleicht einem Schuldner gegenüber ein wenig nachsichtiger sein können, und hier wäre es vielleicht nicht nötig gewesen, daß er die Not eines zum Verkaufen gezwungenen Bauern ausnutzte. Aber mit solchen Skrupeln räumte Hans Nobelsdörfer bald auf. Ein Geschäftsmann durfte sich eben nicht von Rück sichten leiten lassen, die ihm andere nur als Schwächen aus legen würden. Mit ihm hatte ja auch niemand Mitleid, wenn ihm eine Zahlung schwer fiel. Also war es auch ganz recht, daß er im vergangenen Jahr stets energisch — andere nannten es rücksichtslos — durchgegriffen hatte. Doch in diesem Jahr war cs Hans Nobelsdörfer bei seiner Gewisscnsbilanz nicht ganz Wohl zumute. Unsinn eigentlich! Kein Kaufmann ließ die Gelegenheit zu einem guten Geschäft ungenutzt vorübcrgehen. Und verschiedene Geschäfte im vorigen Jahr waren wirklich gut gewesen. Besonders vor kurzem die Versteigerung, bei der er den Hof des Oberholzer für ein Butterbrot erstand. Die anderen, die bei der Versteigerung gewesen waren, hatten finstere Gesichter gemacht, als er auf den Hof bot. Ja, er wußte, daß zwischen den Bauern eine stille Vereinbarung bestand, keiner solle ein Gebot machen, weil der Oberhofer ohne sein Verschulden ins Unalück aeraten war. recht des Blutes vlindwühlend anrennt, wird an der ewigen Wahrheit dieses klassischen Chors etwas ändern können. Völker des Ostens, aus dem unser Name sich über die Erde breitete, liegen vergessen unter den Trümmern ihrer Tempel und Wohnhäuser. Nur ihre Könige in ihren Jagden, ihren Festen und Versippungen reden aus geborstenen Steinen noch ihre stumme, eindringliche Sprache zu uns. Die Despotie, die alles auf den Ruhm des Einen bezog, die unbedenklich hunderttausend Menschen opferte, um seine Kriegsgröße zu mehren, seinem Zorn die Fackel anzuzünden, die für die zur Pyramide getürmte Gräbkammer eines Einzigen Hundert tausende Unterjochter in harter Fron zu Tode schinden durfte, ist nur noch ein Mythus in unserer Welt. Und wenn eben soviel Jahrhunderte, wie uns heute von Chefren und My- kerinos trennen, über unsere Gräber in Saat und Ernte hin geflutet sein werden, wird zwar — das liegt in erster Linie an den ganz anderen Möglichkeiten, uns mitzuteilen — das Leben der Völker und ihrer Prominenten Söhne sür den Forscher des achten nachchristlichen Jahrtausends überschaubar sein, die Geschichte, das Publikum, der Laie aber, wie sonst auch seine Neigungen und Interessen sich gewendet haben mögen, wird noch immer die Epochen sich merken an den Namen der Herrschenden, die damals, nicht mehr als all mächtige Herren, aber als Repräsentanten des Volkswillens die Krone trugen. Die drei Standarten aus dem Schloß der deutschen Reichs hauptstadt, die kaiserliche, die königliche und die kurbranden burgische, sind niedsrgegangen. Sie flattern nicht mehr in den Winterwind des Morgens nach Silvester. Ein ver lorener Krieg, ein jäher Umsturz — von dem die Nachwelt nicht wissen wird, wer ihn eigentlich gewollt, wer ihn eigentlich ausgeführt — hat uns „frei" gemacht und selb ständig und sür uns selber allein verantwortlich. Die erste Folge war — eine wahnsinnige Tanzwut, die jede Nacht „Silvester" feierte. „Wer von der Hoffnung lebt, tanzt ohne Fiedel", sagt der Engländer. Dann kam die Zeit der wachsenden Enttäuschung. Wir hielten uns an den uns aufgezwungcncn Vertrag, die andern nicht. Wir verarmten. Und da wir uns nichts anderes mehr zu geben hatten, gaben wir uns — immerzu — neue Gesetze und neue Notverordnungen. „Je mehr Gesetze, desto schlechter der Staat", hat Tacitus gewarnt... Und der Osmane, selbst gebeutelt und getreten vom Geschick, selbst in eine Form gezwungen, die dem Fez gewohnten so wenig paßt, wie der ihm bei Todesstrafe auf gedrückte Europäer-Hut, der Osmane, der Tacitus nicht kennt, strgt vielleicht, herüberschauend aus seiner östlichen Ecke, wäh rend er fatalistisch neben seinen Tschibuk spuckt, sein Sprüch lein, alt wie Muhamed: „Auch das vergeht!" Mitten in die unruhigste, armseligste Zeit eines Friedens, der endlich Ruhe und wachsenden Wohlstand bringen sollte, fällt diese Silvesternacht. Wollen wir sie bloß „sorgenlos" durchzechen, wie zu den Zeiten, da am andern Morgen die drei Standarten flatterten auf dem Schloß? Wollen wir sie bloß durchtanzen, wie nach der Revolution? Und „ohne Fiedel", wie der Engländer sagt... Wie wär's, wenn wir sie benutzten zur Einkehr in uns, zur Erwägung: wie jeder von uns, wenn auch sein Name verklingt, mitherangezogen wird von der Zukunft, von den Enkeln zur vollen Verantwortung für das, was sich jetzt aufbauen soll. Aufbauen in kommenden Jahren, wenn wir — auf Beschluß der wachsenden vernünftigen Mehrheit der Welt — die fluchwürdige Tributsklaverei zerbrechen und, ein blutarm gewordenes, aber seiner selbst und seiner Kraft be wußtes Volk, nicht gleich an Macht noch, aber gleich an Rechten und wahrlich nicht ungleich an Möglichkeiten unter den andern Kulturnationen stehen. Ohne kleinliche Egoisten zu sein, wollen wir — statt großspurig und der Arbeit der Jahrhunderte dilettantisch vorgreifend, immer von der „Menschheit" zu reden — zunächst einmal in unseren Wünschen, Hoffnungen und Forderungen dieser Nacht und des Jahres, das sie einleitet, an den Teil der Menschheit denken und von dem Teil der Menschheit reden, der das deutsche Volk heißt und der sein Lebensrecht unter den anderen Völkern durch reiche Geschenke seiner Arbeit und seines Geistes im Laufe der Zeiten tausendfach be wiesen hat. Und wir wollen, bescheiden erwägend, daß das Volk Wohl nicht immer die letzte Politische Ansicht, aber meist ein richtiges Politisches Gefühl hat, gesunder Zukunft wartend, die großen Bewegungen der Gegenwart nicht verkennen und uns aus Schillers „Teil" die den rechten Weg weisende Ansicht holen: „Das Volk versteht sich besser auf sein Glück, Kein Schein verführt sein sicheres Gefühl!" Doch Was ging ihn, den Nobelsdörfer, so eine Verein barung an? Jetzt war es ihm allerdings nicht so recht geheuer zumute. Wenn man sich die Sache ganz unparteiisch betrachtete, war es doch Wohl eine Niedertracht, daß der Oberholzer so von Haus und Hof mußte. Würde keiner geboten haben, so hätten sie ihn nicht verjagt, sondern ihn auf dem Besitz seiner Väter sitzen lassen müssen. Und nun sahen ihn, den Nobelsdörfer, alle Leute von der Seite an, weil sie ihn einen Verräter nannten. Deshalb wurde Hans Nobelsdörfer mit der Bilanz in seinem Herzen heute nicht so recht fertig. Er sah ein, daß ihm jemand dabei helfen mußte, und plötzlich dachte er an den Silvestergottesdienst, den er vor zehn oder gar zwölf Jahren zum letzten Mal besucht hatte. Ja, es war Wohl besser, er ging einmal dorthin und entlastete so ein für alle Mal sein Ge wissen von dieser dummen Geschichte. So stapfte der Nobelsdörfer von seinem Haus, das oben am Paß günstig zwischen drei Dörfern lag, durch den Schnee hinunter der Kirche zu. Es war stockfinster, und der scharfe Ostwind trieb ihn: Schneeflocken ins Gesicht. Als Hans Nobelsdörfer eine Viertel stunde weit gegangen war, bereute er schon seinen Entschluß, denn der Sturm wurde immer stärker und das Laufen icbwerer. Und dann hatte der Nobelsdörfer plötzlich keinen Weg mehr unter den Füßen. Er stolperte ratlos durch den Schnee, geriet einmal in eine tiefe Verwehung hinein und schlug sich dann wieder die Stirn an einem Felsen wund, der Plötzlich vor ihm stand. Er biß ein paar Mal vor Wut die Zähne zu sammen, daß ihm die Backenmuskeln schmerzten. Es nützte aber nichts, denn der Nobelsdörfer sah ein, daß er sich hoff nungslos verirrt hatte. Er hätte in einer Richtung weiterlaufen können, bis er ins Tal kam oder den Bergkamm erreichte, der ihm Anhalts punkte bieten mußte. Doch der Nobelsdörfer fürchtete sich vor jedem Schritt. Denn hier irgendwo links von der Straße, die er verloren hatte, brach die Wand steil ins Tal ab, und ein Sturz dort hinunter bedeutete den Tod. So kauerte sich Hans Nobelsdörfer ratlos neben einem Bäumchen nieder, gegen das er angerannt war. Er schrie um Httfe, uno er hatte doch keine Hoffnung, daß ihn jemand höre» könnte. Denn der Sturm mußte jeden Laut verschlingen. Er schrie, und plötzlich kam ihm die Silvesterbilanz wieder in den Sinn. Sollte er nun deshalb zugrunde gehen, weil er nicht richtig handelte, als er einen Menschen von Haus und Hof trieb? Ach, er wollte ja alles rückgängig machen, wenn er nur einen Ausweg aus dieser Not hier fand. Das Schicksal durfte und konnte ihn nicht so schwer strafen, denn er hatte es ja nicht böse gemeint, sondern nur ein gutes Ge schäft machen wollen. Aber in Zukunft, wenn er nur am Leben blieb, würde er überhaupt nicht mehr an solche Geschäfte denken. „Nein, ich will zum Oberholzer gehen. Ich will ihm alles zurückgeben, wenn ich nur am Leben bleibe. Hilfe, Hilfe!" Er lag auf den Knien und brüllte seine wahnsinnige Angst, seine Versprechungen in die Nacht hinaus. Der Nobelsdörfer lachte wie ein Irrer, als plötzlich aus dem Flockenwirbel ein Mensch vor ihm auftauchte. Er klam merte sich an den Mann, weil er kaum noch an Rettung gedacht hatte. Er ließ sich von hm halb führen, halb tragen, und dann sah er plötzlich, daß er keine hundert Schritt vom Dorfrand entfernt gewesen war, als ihn die fürchterliche Angst überfiel. Zwischen zwei Windstößen hatte der andere das Brüllen vernommen. Hans Nobelsdörfer kam ein wenig zu spät zur Kirche. Vielleicht setzte er sich deshalb gleich hinten in die Ecke. Er senkte den Kopf tief, und die anderen wunderten sich, denn sie hatten diesen Mann noch nie beten sehen. Sie wunderten sich noch mehr, als sie am nächsten Morgen erfuhren, daß der Nobelsdörfer sich vom Oberholzer hatte nach Hause bringen lassen, nachdem er unter Zeugen auf den er- steigerten Hof Verzicht geleistet. Zwischen Weil md MMN. Eine Betrachtung zur Jahreswende von E. F. Kreh bi el. Man weiß, daß der Tag des Jahresendes nach Papst Silvester benannt wurde, der Kaiser Konstantin getauft haben soll. Man weiß, daß der Monat Dezember seinem Namen nach nicht der zwölfte, sondern eigentlich der zehnte Monat im Jahre ist. Man weiß weiterhin, daß andere Zeiten und Völker — das Judentum, Rußland und der Orient noch heute — Jahresanfang und -ende auf einen ganz anderen Tag verlegten, als es bei uns üblich geworden. Kurz: die Festlegung von Silvester und Neujahr, wie wir sie gewohnt sind, kann dem heutigen Menschen, der ja über so viel histo risches Wissen verfügt und auch sonst so unsäglich gescheit ist, recht willkürlich dünken. Wie erscheint die Jahreswende aber im Lichte einer ver tieften und innerlich lebenden Betrachtung? Einer Betrach tungsweise, die im Sinne Goethes von „anschauender Urteils kraft" getragen ist? Für sie wird die Jahreswende objektiv und von bloßer Ueberlieferung unabhängig begründet gerade durch den Ort, den sie im Jahreskrcis inne hat. Denn Sil- Vester-Neujahr steht in der Mitte zwischen dem Heiligen Abend und dem Tag der Drei Könige, bildet gleichsam die Achse der Zeit, die auch die Zeit der heiligen dreizehn Nächte genannt wird. Zwischen zwei Bildern, deren jedes eine Welt umschließt und die wie Pole sich gegenseitig tragen, hält Silvester die Waage und ist wie die Tür zwischen zwei Räumen. Der eine Raum, den wir an dieser Schwelle gerade verlaffen wollen, er zeigt uns die Krippe mit dem Kind und der Jungfrau- Mutter. Wo sind wir, wo ist der Mensch in diesem Bild? Ihn vertreten Vie Hirten, die Enget vom Felde riefen, da sie schlafend unter ihren Herden lagen. — In dem andern Raum, den unser Fuß zu Silvester betreten will, schauen wir wieder die Krippe mit dem Kinde und der Jungfrau-Mutter. Wo ist hier der Mensch? Er ist da in Gestalt der drei Kö nige, die dem Sterne gefolgt sind. Zwischen Hirten und Königen sieht sich der Mensch zur Jahreswende gestellt! — Wer dieses Bild lebendig in seiner Seele hält, hat einen greifbaren Inhalt zu einer sinnvollen Silvesterfeier und kann von ihm Kraft empfangen, die richtungweisend, zielvoll sein Leben im kommenden Jahre innerlich trägt. Denn dieses Bild stellt keine „Allegorie" dar, durch blutleere Begriffe auszudeuten; es ist lebensnah, zu tief der Wirklichkeit verbunden, als daß Jnyalt verstandesmäßig er schöpft werden könnte. Es ist realer Ausdruck eines Ge- fchehens sowohl in der Menschheitsgeschichte als auch im Werden des einzelnen Menschen. Die Hirten — sind sie nicht Träger der Ver gangenheit des Menschengeschlechts? In vielen weiten Zeitenkreisen hat die Menschheit den Weg durchmessen von Acker, Feld, Zelten und Tieren hin zu Haus und Stadt und — Maschinen. Ein tiefer Wandel des menschlichen Be wußtseins hat sich auf diesem Wege vollzogen. Die natur nahen Hirten, den Elementen seelenkräftig verbunden, lebten in Traum und Schlaf das Leben der Erde, der Sonne und Sterne viel inniger mit, als uns heute begreiflich scheint. In traumhaftem Schauen schufen sie Mythen und Märchen, denen der erwachfene Verstand heute widerstrebt, die aber zu- alleu Zeiten die Kinderhcrzen unmittelbar ergreifen werden. Vor allem erfüllte die Hirten ein Gruppen-Bewußtsein, in dem das Bewußtsein des einzelnen Hirten aufgehoben und geborgen war. Ein naiv-ursprüngliches und damit schöp ferisches, gemütstiefes religiöses Element durchdrang und trug das ganze Hirtenleben. Längst ist die Menschheit — vor allem die europäische — diesem Zustande entwachfen. Sie trärunt nicht mehr die wesenhaften Mächte der Natur; sie nützt sie zweckvoll als mechanische Kräfte und beutet sie aus. Keine naturnahen, selbstsicheren Instinkte leiten mehr den heutigen Menschen, der tagwache Verstand regiert. Der einzelne Mensch ist zu sich selbst erwacht, will Persönlichkeit und Jch-Mensch sein. Der Gcgenwartsmensch will in erster Linie wissen und glaubt im Grunde nur, was er weiß. Den Weg in die Zu - kunst — ihn zeigen an die weisen Könige. Sie sind vom Wissen zur Weisheit durchgedrungen, von der Logik zum Logos, von der Sophistik des Verstandes zur Sophia einer höheren Vernunft. Von den Hirten zu den Königen strebt die Menschheit. Vom Hirten zum König, vom Kinde zum Weisen drängt es aber auch den einzelnen Menschen. Er will aufwachen, zu sich selbst erwachen und sein Ich finden. Er will über sich felbst hinauswachsen und in seinem Ich die Menschheit finden. Hirte und König leben in Gleichzeitigkeit in jedem Men schen. Goethe deutet darauf mit dem Wort „Ein reines Herz und große Gedanken, das ist es, was wir uns von den Göttern erbitten sollen." Jedes Menschenherz ist ursprüng lich ein Hirte, der in Demut beten will. Und jeder Mensch kann sich erziehen, im Denken seines Kopfes mutvoll große, umfassende, königliche Gedanken zu ergreifen. Vor falschem Hochmut bewahrt sich der Mensch, der Herzensdemut der Seele zu einen weiß mit Starkmut im Geiste. Denn Hirten und Könige finden sich gemeinsam an der Krippe, die das Kind birgt, das auch der Menschensohn genannt wird. Beide verehren es, jene im andachtsvollen Ge bet, diese im dankenden Opfer.
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