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Berlin „verändert sich". „Ich möcht' mir mal verändern!" sagten früher die ; Berliner Dienstmädchen, wenn sie „ziehen" wollten. Sie »erspürten plötzlich einen Drang zur Veränderung und Mm Stellenwechsel, und so wurde denn „gezogen".... ,von das eine Restaurang in das andere Restaurang", Vie der Berliner singt. „Michaeli", die Zeit um den i. Oktober herum, war die ganz große Ziehzeit. Pendelte man an dem eben verflossenen 1. Oktober durch die Straßen Berlins, so konnte man meinen, daß ganz Berlin »sich verändern" wolle: es zogen nicht nur die Haus angestellten, nein, es zogen auch die „Herrschaften", die Herrschaften sogar vor allem. Der Zug der Zeit ist der Umzug, und der früher so viel besungene „Zug nach dem Westen" hat sich in einen Rückzug aus dem Westen gewan delt. Womit nicht gesagt sein soll, daß im Osten, Norden, Süden und in den dazwischenliegenden Himmelsgegenden weniger „gezogen" würde. „Jeder einmal im Möbel wagen!" das schien die Devise dieses Herbstumzugs- termins zu sein. Die Hauswirte spielten „Häuschenver mieten" oder vielmehr „Häuschennichtvermieten", denn in allen Straßen prangen reihen- und schichtweise die ominösen Papptäfelchen mit der-Inschrift: „Wohnung zu vermieten." „Alles fließt!" sagte einmal ein griechischer Philosoph, um darzutun, daß alles ewig wechsle; lebte er heute, so würde er sicher „Alles zieht!" sagen, um klar- Mtun, daß alles die Wohnung wechsle. Fragt man nun, wohin denn die vielen Berliner, die von gestern auf heute aus dem Berliner Straßenbild verschwunden sind, ge zogen sein mögen, so bekommt man die Antwort: „An die Peripherie der Stadt!" Worunter man sich dann ebenso gut Neuruppin wie Berlin ID., was „Berlin janz draußen" heißt, vorstellen kann. Hinter den Rehbergen und im Wald und auf der Jungfernheide wohnen jetzt also auch noch Menschen, aber die -Sachkenner behaupten, daß ein großer Teil dieser Berliner Menschen sich aus „Untermieter" — im Hinter grund die gute Schwiegermutter — umgestellt habe. Man hat „statistisch erfaßt", daß zurzeit in Berlin 85 951 Fami lien keine eigene Wohnung haben und 31479 keinen Haushalt führen. Und andere Sachkenner haben er rechnet, daß die Heiratslust in Berlin noch nie so gering gewesen sei wie jetzt. Wie soll man aber auch heiraten, wenn man keinen heimischen Kochherd hat! Da geht man schon lieber in eins der Einheitspreisrestaurants, die sich jetzt aufgetan haben und glänzende Geschäfte machen sollen. Wer auch nur 18 Pfennige Bargeld in seiner Tasche locker sitzen hat, kann sich ein Mittagessen leisten, das etwa aus einem Teller dickgekochter Bohnen- oder Erbsensuppe und einer Portion Kohl besteht. Wer weitere 9 Pfennige springen lassen kann, bekommt ein richtiges Stück Fleisch oder Speck zu seiner Suppe. Krösusse aber legen 50 Reichspfennige auf den Eßtisch und erhalten dafür ein ganzes „Menü" mit Suppe, Fleisch und Kom pott. Fragt man den Begründer dieses Einheitspreis restaurants: „Entschuldigen Sie die Frage — aber wann gedenken Sie pleite zu sein?", so erwidert er erstaunt: „Ich pleite? Aber Herr, ich verdiene noch immer zwei runde Pfennige an jeder Portion Essen, und ich verkaufe täglich 6000 bis 7000 Portionen!" — „Seh'n Sie, das ist ein Geschäft. . . das bringt noch was ein!" Wenn doch endlich alle Berliner einsehen wollten, daß man auch mit der Billigkeit und gerade mit der Billigkeit gut fahren und auf seine Kosten kommen kann! Die Ber liner Verkehrsgesellschaft, die jahrelang „langend und ban gend in schwebender Pein" defizitterte, hat es noch zur rechten Zeit begriffen und fährt infolgedessen jetzt ganz gut, und ihre Fahrgäste tun das gleiche. Die Sache ist nur die, j daß man mindestens eine Reichsmark besitzen mutz, wenn j man auf einem Berliner Straßenbahnwagen billig reisen j will. Das ist so zu verstehen, daß man für eine Einzelfahrt - 25 Pfennige erlegen mutz, eine Sammelkarte aber, die zu j fünf solcher Fahrten berechtigt, für eine Mark haben kann, ! so datz dann eine Fahrt auf nur 20 Pfennige zu stehen > kommt. Aber wer hat heutzutage schon gleich eine ganze s Mark flüssig! Trotzdem wird natürlich von denen, die es j dazu haben, mit Genugtuung gefahren, und wer sich wäh- rend der Stadtreise ein bißchen unterhalten will, studiert j vielleicht die geheimnisvollen Buchstaben, die sich auf der ! Sammelkarte gedruckt befinden, und die vom kleinen latei- ! Nischen a bis zum kleinen lateinischen m reichen. Und jetzt j wetten wir ruhig einen Taler gegen denjenigen, welcher sich j anheischig machen wollte, den Sinn dieses lateinischen Al- j phabets auf der Sammelkarte der Berliner Verkehrs- i gesellschaft zu erraten. Das schwerste Kreuzwort- ! rätsel ist ein reines Kinderspiel dagegen! Um ? nun die Berlin besuchenden Fremden nicht auf die s Folter zu spannen, wollen wir verraten, daß die Buch- ' staben die Anfangsbuchstaben der Familiennamen der die j Karten „lochenden" Schaffner darstellen. Heißt ein Schaff- ! er z. B. Meyer, so locht er das kleine m, heißt er Kra- s wutschle, so locht er das kleine k. Wenn^der Schaffner i nun aber Neumann oder Pachulke heißt? Sehen Sie, das l ist der Humor davon! Da nämlich nicht sämtliche Buch staben des kleinen lateinischen Alphabets auf die Sammel- z karte gesetzt werden konnten — wegen Platzmangels —, so bestimmte die kluge Direktion, daß mit dem Buchstaben r n die Sache von vorn zu beginnen habe: der Schaffner Neumann locht also wieder a, wie der Schaffner Adam- sohn. Wenn aber der Schaffner zufällig Yggdrasil heißen sollte wie die alte germanische Weltesche, so kann er sich mit seiner Lochzange das Leben nehmen, denn den Buch staben y hat die Verkehrsgesellschaft bei ihrem Alphabet k nicht in Betracht gezogen ... . Diogenes von der Panke. ; Wildwest in Polen. Ein Güterzug von Räubern überfallen. An der ehemaligen Reichsgrenze zwischen Alexan- : drowo und Ottlotschin wurden in der letzten Zeit mehrfach Güterzüge überfallen. Die Eisenbahnverwaltung hatte daher die Züge durch bewaffnete Polizeiabteilungen sichern > lassen. Bei einem neuen überfall auf einen Eilgüterzug j sprangen mehrere Personen auf den Zug. Als die Be- , amten die Diebe festnehmen wollten, wurde der Zug aus ! dem nahegelegenen Walde von den Komplicen der Räuber, ; die den Vorgang beobachtet hatten, beschossen. Zwei § Schaffner des Zuges wurden getötet. Der Zug wurde zum Halten gebracht und der Wald z durch die Polizei abgeriegelt. Siebzehn Personen wurden ; festgenommen und ein ganzes Diebeslager und zahlreiche j Waffen, darunter auch ein Maschinengewehr, beschlag- f nahmt. Die deutsche Himalajc^Expedition hat cusgeben müssen. Die neue deutsche Himalaja-Expedition, die unter Leitung von Dr. Bauer den Gipfel des 8580 Meter hohen Kangschenjunga (im Bilde) bezwinngen wollte, ist in einer Höhe von 7925 Metern — also etwa 600 Meter vor dem Ziel — auf eine un- angreisdare, äußerst iawinengesährliche Steilwand gestoßen, die den Weiteraufstieg unmöglich machte. Die Expedition hat nun den Rückweg antreten müssen. Eine neue sozialistische Partei Die Reichstagsadgeorneten Rosenfeld (links) und Seydewitz (rechts) haben eine neue Sozialistische Partei gegründet. Die Kundschafter aus Kanaan nannte sich eln Bild aus dem großen Trachtenfest, das alljähr lich zur Weinernte in dem schweizerischen Dörfchen Neuveville veranstaltet wird und viele Fremde von nah und fern anzieht. Kreuzer „Leipzig" in Dienst gestellt. Als Ersatz für das außer Dienst gestellte Linienschiff Hannover" wurde auf der Wilhelmshavener Marinewerft ^er Kreuzerneubau „Leipzig" — ein 6000 - Tonnen- Schifs — in Dienst gestellt. Tas Kurhaus in Bao Harzburg, wo die nationale Opposition am 11. Oktober zusammen- kom.. Oie Brandstiftungen in der Osnabrücker Gegend. Sensationelle Verhaftungen. Die vielen Brände, die in der letzten Zeit in der Osna brücker Gegend vorgekommen sind, haben zu drei aufsehen erregenden Verhaftungen geführt: unter dem Verdachte der Brandstiftung wurden zwei Hofbesitzer und ein Dresch- maschinenmeister festgenommen. Einer der Verhafteten, der Hofbesitzer Winkelmann, sah bei dem Brand« seiner Besitzung dem Feuer ruhig zu und war sehr entrüstet darüber, daß die Osnabrücker Wehr den Brand bekämpfe. Dieser Tage erhielten mehrere Hofbesitzer Briefe mit einem Streichholz, mit der Androhung, daß der Hof in der nächsten Zeit in Flammen aufgehen werde. Alle Briefe scheinen von derselben Person geschrieben worden zu sein. Millionenstrasen im Stettiner Spritprozeß. 16 von 20 Angeklagten verurteilt. Im Stettiner Spritschmugglerprozctz wurde das Urteil gesprochen. Von den 20 Angeklagten wurden 16 verurteilt, vier freigesprochen. Der Hauptangeklagte Jäger wurde zu fast 1 Millionen Mark Geldstrafe und zu 18 Monaten Gefängnis verurteilt, der Kaufmann Ludwig aus Swinemündc zu fast 1^ Millionen Mark Geldstrafe und einem Jahr Gefängnis. Die übrigen An geklagten wurden mit Geldstrafen von über 600 000 bis hinab zu 10 000 Mark belegt. Hohe Zuchthausstrafen gegen vier Michsbeamte. Die Riescnunterschlagungen beim Reichsamt für Landes aufnahme. Das Schöffengericht Berlin-Mitte verkündete aas Urteil in dem Prozeß gegen die vier Beamten des Reichsamtes für Landesaufnahme, die gemeinsam einen Betrag von 343 000 Mark unterschlagen hatten. Das Ge richt verurteilte wegen schwerer Amtsunterschlagung den Verwaltungsamtmann Ladyslaw Wolff zu vier Jahren sechs Monaten Zuchthaus und vier Jahren Ehr verlust, den Oberinspektor ArturBlumzu drei Jahren und die Oberregierungssekretäre Richard Bär und Alfred Wendt zu je zwei Jahren Zuchthaus. Blum, Bär und Wendt wurden außerdem die bürgerlichen Ehrenrechte auf die Dauer von je drei Jahren aberkannt. Ser zweite Kmfmstendammprozeß. Ablchnungsanträge der Verteidiger der Angeklagten. In Berlin begann der zweite der sogenannten Kurfürstendammprozesse. Es handelt sich um Anklagen wegen der Ausschreitungen, die am 12. September auf dem Berliner Kurfürstendamm begangen worden sind. An- xeklagt sind wegen schweren Landfriedensbruches und Rädelsführerschaft der Jungstahlhelmführer Brandt, der Führer der Berliner SA., Gras von Helldors, und der Kaufmann Ernst, der Stabsleiter oer SA. Brandenburg. Wegen einfachen Landfriedens bruches siud mitangeklagt der Zeitungshändler Dame row und der Expedient Schulz. Die Verteidiger der Angeklagten beantragten bald nach Beginn der Verhandlung die Ablehnung des Vorsitzenden, Landgerichtsdirektors Schmitz, md des Beisitzers des Gerichts, Amtsgerichtsrats Dr. Thiemann, wegen Besorgnis der Befangenheit. Die Angeklagten müßten annehmen, daß das Gericht durch die Arteile des ersten Prozesses bereits gebunden sei. Ferner Ahnte die Verteidigung einen der beiden Schöffen wegen Besorgnis der Befangenheit ab, da dieser offenbar Jude sei und als Partei betrachtet werden müsse. Der Prozeß wurde daraus bis Sonnabend vertagt, damit die beiden betroffenen Berufsrichter und der Schöffe lelegenheit hätten, gegen die Ablehnungsanträge Stellung u nehmen. Der Schöffe Stark erklärt sich für befangen. Im zweiten Berliner Kurfürstendammprozeß wurden, wie gemeldet wurde, von der Verteidigung gegen zwei Be- mfsrichter und den Schöffen Lothar Stark Ablehnungs- anträge wegen Besorgnis der Befangenheit gestellt. Der Schöffe Stark hat nunmehr dem Gericht schriftlich mit- eteilt, daß er den Ablehnungsantrag des Verteidigers für egründet erachte, da er sich befangen fühle. Die weitere Verhandlung des Prozesses, die am Sonnabend stattfinden Alte, ist auf Montag vertagt worden. Aus Sachsens Gerichtssälen. Kautionsbetrug — wie oft izoch? Dresden. Angeklagt waren der Kaufmann Fritz Seiffert, der mehrfach vorbestrafte Kaufmann Herbert Pannier und der In genieur John Busch Ohne Vermögen und Einkommen, viel fach gepfändet — Pannier und Busch hatten den Offenbarungs eid geleistet und Seifsert war mehrfach zur Leistung desselben geladen worden — gründeten Seiffert und Pannier im Januar 1930 eine Vertriebsgesellschafl elektrotechnischer Artikel unter der Bezeichnung „Konzentra". Busch fungierte als Organisator. Der Geschäftsraum bestand aus einem möblierten Zimmer, das Inventar aus einer Schreibmaschine. Um Geld zu bekommen, inserierten sie und suchten Angestellte mit Kaution, die dann meist zum Adressenschreiben und Prospektaustragen verwendet wurden. In etwa 40 Füllen erlangten sie die Ersparnisse kleiner Leute, Arbeiter, Gewerbetreibende usw., deren Kautionen von !e 50 bis 1600 Mark, insgesamt über 17 000 Mark, nicht zurück gezahlt werden konnten. Die Angeklagten bestritten eine Schädt- gungsabsicht. Seifsert erhielt neun Monate, Pannier ein Jahr einen Monat Gefängnis. Er war gleichzeitig der Unterschlagung schuldig befunden worden, da er in einem Staubsaugervertriev mindestens gegen 600 Mark kassierte Gelder unterschlagen hatte. Busch wurde freigesprochen. Beide Verurteilte wurde als ge fährlich bezeichnet, da ihr Tun von vornherein auf Betrug ab- gestcllt war. Unterschlagung bei den Sächsischen Bekleidungswerken. Dresden. In dem Prozeß gegen drei Angestellte der Säch sischen Bekleidungswerke n gen Unterschlagung und gegen fünf Polizeibeamte wegen Bestechung, der vor dem Schöffengericht stattfand, wurden, obgleich der Staatsanwalt Gefängnis und Geldstrafen gefordert hatte, sämtliche Angeklagten kostenlos frei gesprochen. Im Falle der Angeklagten Hietzge, Hübner und Müller hatte man im Prinzip das sogen. Scherenrecht nicht verneint: mindestens konnten die Angeklagten auch trotz des Vertrages der Meinung sein, daß sie zu ihrem Tun berech tigt waren. Bei den übrigen fünf Angeklagten war der Beweis einer strafbaren Handlung nicht erbracht.