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Wilsdruffer Tageblatt 2 Blatt. Nr. 168 — Donnerstag, Seu 16. Juli 1S31 Die Brücke. Seht hier, ich bin! . Und bas Vergangne und das jenseits Ferne umschließt mein Arm, als war's mein Eigentum. Und meine Lichter sind die kleinen Sterne in einer Welt von Elend, Glanz und Ruhm! Ich trage bergeschwere Last hinüber und weiß von manchem ganz geheimen Glück, — doch jeder eilt vorüber nur, vorüber, und läßt in tiefem Schweigen mich zurück. Nur manchmal, wenn ringsum die lauten Straßen ganz eingehüllt in Ruh' und- Frieden scheinen, kommt wohl ein Mensch, — der einsam und verlaßen, — um sich an meiner Schulter auszuweinen M. Koschnike. Ser letzte Vizekanzler der deutschen Kaiserzeit Zum Tode Friedrich von Payers. Friedrich von Payer, der im Alter von 84 Jahren ir Stuttgart gestorben ist, stammte aus kleinen Verhältnissen: sein Vater war Universitätspedell in Tübingen (den Adelstitel hatte Friedrich Payer erhalten, als ihm der württembergische K^onenorden verliehen wurde). Payer studierte anfangs Theologie, sattelte aber bald um, wurde Jurist und ließ sich 187l in Stuttgart als Rechtsanwal« nieder. Seit 1877 war er politisch tätig: er trat als demo kratischer Abgeordneter in den Reichstag ein und vertrm mit geringen Unterbrechungen bis 1918 den Wahlkreis Tübingen-Reutlingen. . Im Württembergischen Landtag spielte Payer eine führende Rolle. Er wurde 1895 zum Landtagsprasidenten gewählt und behielt dieses Ami bis 1912. Unter der Neiüiskanzlerschaft des Grafen Hertling wurde er 1917 zum Vizekanzler ernannt. Als Hertling zurück- trat, sollte Payer sein Nachfolger werden, aber er lehnte mit Rücksicht auf sein Alter ab. Milderungen -er Notverordnung für Rentenempfänger. Wie der Retchsbund der Kriegsbeschädigten, Kriegsteilneh mer und Kriegshinterbliebenen mitteilt, haben dieser Tage beim Reichsarbeitsministerium Verhandlungen darüber ge schwebt, wie tue ,ehr rigorosen Bestimmungen der Notverord nung betreffend die Anrechnung des öffentlichen Einkommens von Arbeitern. Anaestellten und Beamten abaemildert werden können. Bisher wurden der Anrechnung der Renten aus das öffentliche Einkommen die Gehälter, die am 1. Februar 1931 bezogen waren, zugrunde gelegt. Außer dem wurden die Kinderzuschlägc als Einkommen mH angerech net. In Zukunft soll von dem Bruttoeinkommen ausgegangen werden und die Kinderzulage aus Grund des Reichsbesoldungs gesetzes nicht als Einkommen angesehen werden. Die bis herige Mindestgrenze der zu verbleibenden Rente, die aus drei Zehntel der Grundrente" festgelegi war, soll auf mindestens fünf Zehntel — man spricht auch von sieben Zehntel — erhöht werden. Dabei sollen zu den Grundrenten auch die Sozial zuschläge treten. Auch einige andere Bestimmungen der Not verordnung sollen, wenn auch nicht wesentlich geändert, so doch wenigstens abgemildert werden. Arbettszeiwerlürzung und Aeueinflellung. Freiwillig oder durch Verordnung? Im Retchsarbettsmlnlsterium fand m Fort setzung der früheren.Verhandlungen mit einzelnen Industrien eine Besprechung mit den wichtigsten Gruppen der Industrie der Steine und Erden statt, um auch in dieser Industrie aus Anlaß der der Reichsregierung durch die Notverordnung vom 5. Juni 1931 erteilten Ermächtigung die Möglichkeit der Arbeitszeitverkürzung unter Ncueinstcllung von Arbeitern zu prüfen. Verhandelt wurde insbesondere mit der Zemen r- industrte, der feuerfesten Industrie, der Ziegel- tndustrie, der Feinkeramik und der Glasin dustrie. Die Besprechung Hane, abgesehen von der Tafel glasindustrie, das Ergebnis, daß sich die Verbände der Arbeit geber und der Arbeitnehmer bereit erklärten, in gemeinsamen Verhandlungen die Frage der Arbeitszeitverkürzung in den einzelnen Gruppen von sich aus zu untersuchen und dem Reichsarbeitsministerium innerhalb einer angemessenen Frist über das Ergebnis zu berichten, um aus diese Weise die Frage auf freiwilligem Wege zu lösen und den Erlaß einer Verordnung der Reichsregierung entbehrlich zu machen. DeuMnalionale Entschließungen zmLage Auf einer Wirtschaftstagung der Deutschnationalen Volkspartei wurde zur augenblicklichen Lage Stellung ge nommen. Eine Entschließung weist darauf hin, daß der Zu sammenbruch des deutschen Ostens trotz Osthilfegesetz weitergehe. Zur Rettung sei schnellste Umgestaltung der Osthilse im Sinne des Huqenbergschen Planes und Aus dehnung der Lastensenkung aus den ganzen Osten notwendig. In einer zweiten Entschließung wird erklärt, der Hoover- Plan sei deshalb ohne Wirkung geblieben, weil sich die Re gierung Brüning von der französischen Führung nicht habe loslösen können. Die Ausnahme neuer Schulden unter Annahme entwürdigender Bedingungen wäre ein Verbrechen an der Nation. Rettung sei nur möglich, wenn eine von natio nalem Willen erfüllte R^ierung gleichzeitig im Reich und in Preußen eingesetzt werde. Oer Reichspräsident in Berlin Brüning bei Hindenburg. Reichspräsident von Hindenburg ist von seinem Urlaub zurückgetchrt und in Berlin eingetroffen. Der Reichspräsident wurde bei seiner Ankunft in Berlin aus dem Bahnhof von Staatssekretär Meitzner empfangen, der ihn sofort über die augenblickliche Lage unterrichtete. Dann hielt Reichskanzler Dr. Brüning dem Reichs präsidenten ausführlich Vortrag. Der Reichspräsident bei seiner Rückkehr vom Urlaub, schüttelt dem Stationsvorsteher zur Begrüßung die Hand. 1V6 Millionen Ausfuhrüberschuß. Größere Mengen zu niedrigeren Preisen. Im Juni betrug die Einfuhr 607 Millionen Mark gegenüber 585 Millionen Mark im Mai. Die Zunahme entfällt ganz überwiegend auf die EinfuhrvonRoh- stoffen. Dagegen ist die Ausfuhr von 747 Millionen Mark im Mai auf 713 Millionen im Berichtsmonat zurück- gegongen. Ferner sind im Juni Reparationssachliefe- rungen im Werte von 33 (37) Millionen Mark aus- geführt worden. Die Abnahme der Ausfuhr, die sich ein schließlich der Reparationssachlieferungen auf 37 Millionen Mark, darunter auf 26 Millionen Mark bei den Fertig waren, beziffert, beruht überwiegend auf dem weiteren Absinken des Preisniveaus um 3 Prozent gegenüber dem Vormonat. Die mengenmäßige Ab nahme der Ausfuhr ist hinter dem saisonmäßigen Rück gang, wie er in den Vorjahren zu dieser Zeit cingetreten ist, bemerkenswert zurückgeblieben. Unter Berücksichtigung der Reparationssachlieferun gen, für die ein Gegenwert bekanntlich nicht eingehl, übersteigt der Wert der ins Ausland abgesetzten Waren im Juni die Einfuhr um 139 Millionen Mark. An dem Rückgang der Ausfuhr von Fertigwaren sind insbesondere die Textilerzeugnisse mit 12 Mil lionen Mark und die Eisenwaren mit 11 Millionen Mark beteiligt. Oie Tributbank berät. Die Tributzinscn pünktlich gezahlt. Die lm Zusammenhang mit der schwierigen Finanzlage Deutschlands seitens der BIZ. und seitens der verschiedenen ausländischen Notenbanken vorzunehmendcn Transaktionen wurden innerhalb der Direktion der BIZ. eingehend beraten. Hinzukommen auch noch weitere Maßnahmen für Österreich und eine neuerliche Unterstützung für Ungarn. Es ergibt sich dabei eine ganze Reihe schwieriger finanztechnischer Pro bleme, da bei dieser angespannten Finanzlage die Vermittlungen aus den einzelnen Finanzmärlien keineswegs einfach und reibungslos vox sich gehen. Zur Herbeiführung einer schnelleren Verständigung mit Frankreich ist der General direktor der BIZ., Quesnay, nach Paris abgercist. Die am 15. Juli fälligen Zinsraten für die 5,5prozcntige Doung-Anleihe und für die Dawes-Anleihe sind »on der Reichsbank prompt entrichtet worden. Kleinbahnen in Not. Mittelanfordcrung für preußische Kleinbahnen. Von der Preußischen Regierung wird ein Ent wurf vorgelegt, der das Staatsministerium ermächtigen soll, zur weiteren Förderung des Baues und der Erhaltung vo» Kleinbahnen I 599 MM Mark zu verwenden. Die durch Gesetz vom 17. Juli 1930 zu diesem Zweck bereitgestellten Mittel in der gleichen Höhe sind nahezu verbraucht; über einen kleinen Rest ist bereits verfügt worden. Der Bedarf für die weiterhin angemeldeten Anträge bezifferte sich aus über 16 Millionen. Bei der gespannten Finanzlage des preußischen Staates tfi es nur möglich, nach Wiederaufsüllung des Fonds einen kleineren Betrag in Hohe von 1,5 Millionen zur Verfügung zu stellen. Für die Verwendung dieser Mittel soll nach Lage der Sache im wesentlichen nur eine Erneuerung von Klein bahnstrecken in Frage kommen, wobei in erster Linie auf den Osten und auf die Verhütung von Stillegungen unbedingt vcrkehrsnotwendtger Kleinbahnen Bedacht genom men werden soll. Güserzug überfährt Personenauto. Ganze Familie getötet. Am Ortsausgang bei Oberndorf, an der Kreuzung der Straße Wetzlar—Grävenwiesbach ereignete sich ein entsetz liches Autounglück. Als der Bauunternehmer Demmer mit seinem Wagen, in dem seine Familie saß, aus Braunsfeld kommend, die Straßenkreuzung überfuhr, wurde der Wagen von dem die Strecke passierenden Güterzug erfaßt und etwa 159 Meter mitgeschleift. DaS Auto wurde vollständig zer trümmert. Von den Insassen wurde der Bauunternehmer, seine Frau und zwei Töchter auf der Stelle getötet, während eine dritte Tochter fo schwere Verletzungen erlitt, daß an ihrem Auf kommen gezweifelt wird. Die Untersuchung über den Hergang des Ungluckts ist tm Gange. MrcklMfyMl Koman von. xx>. 38. Fortsetzung. (Nachdruck verboten.) Gegen Abend klingelte es; ein Dienstmann war es mit mnem Briefe, auf Antwort wartend von Frau von Schö- mng wie Dora an der «chrift sah Schatten fiel es auf ihren Frohmuts Sre gab dem Major das stark duf tende Schreibem Er drehte es mit einem Stirnrunzeln eine Wecke in der Hand, ehe er sich entschließen konnte, es zu offnen. Liebster Freund! Warum lassest Du Dich nicht sehen? Schmerzlich er warte ich Dich jeden Tag Meine Gedanken sind immer be- Dir! Hast Du gar keine Sehnsucht mehr nach Deiner Säusel? Emsam und allein sitze ich daheim nein nicht allein — denn in Gedanken bist Du bei mir Las e diesen Gedanken doch Wirklichkeit werden! Komm heute abend zu mir; ich erwarte Dich bestimmt! Eigentlich wollte ich Dich überraschen; doch ich wage nicht mehr zu Dir zu kommen, aus Furcht, aufdringlich zu erscheinen' An der Entfremdung zwischen uns leide ich sehr! Lasse es doch wieder so werden, wie es war! Was habe ich Dir denn getan? In ungeduldiger Wiedersehensfreude küßt Dich Deine Säusel. So schrieb sie. Lüge! Jedes Mort Lüge und Verstel lung Sein Mund verzog sich zu einem kleinen, wegwerfen den Lächeln. Er verspürte aber keine Neigung, den zer rissenen Faden neu zu knüpfen; im innersten Harzen war ihm ja zumute, als sei er von einer schweren ^ast befreit. Nach kurzem Ueberlegen schrieb er, daß Endlich be- daure, ihrem Ruf nicht folgen zu können, doch seine Arven erlaube es ihm nicht, ihr für heute abend und die nächsten Tage untreu zu werden, zu viel hinge für ihn davon av. Er gewann es nicht über sich, den Wunsch nach einem Wiedersehen auszusprechen Reichlich kühl und knapp waren die Zeilen; aber es ging gegen seine ehrliche Natur, etwas zu schreiben, das nicht aus dem Herzen kam. Man hatte längst zu Abend gegessen; es ging stark auf neun, als das wohlbekannte Läuten beide aus der Stille ihrer Arbeit schreckte Dora wollte zum Oeffnen gehen; doch der Major winkte ab, er ging selbst, die Haus tür aufzuschließen; es war ja doch niemand anders als Hortense! Dora war ihr behilflich, den Mantel abzunehmen Hortense war sehr liebenswürdig. „Guten Abend, Fräulein Dora! Gelt, Sie schelten nicht über den späten Eindringling, der Ihnen für eine Taste Tee sehr dankbar wäre! Trotz des schönen, warmen Tages ist es heute abend doch empfindlich kühl! Und in der Uebergangszeit hat man es in einem Pensionszimmer nicht gemütlich! Ueberdies fühle ich mich gar nicht wohl; in mir steckt eine tüchtige Erkältung!" Warum die vielen Worte? mußte Maurus denken, während er sie in das Zimmer führte. Sie legte ihre beiden Hände auf seine Schultern und sah ihm tief in die Augen „Meine Sehnsucht war so groß, Liebster, und dennoch hast du meinen Rus nicht gehört?" klagte sie. Doch ihre Nähe ließ ihn kalt. Er trat zurück, daß ihre Hände von seinen Schultern fielen, und reichte ihr die Schachtel mit den schweren, parfümierten Zigaretten, die sie mit Vorliebe rauchte. „Sonst kannst du ja nicht leben, Hortense." Er zwang sich zu einem leichten Lächeln. Sie erblaßte, da sie das Unausgesprochene dieser Mi nute verstanden. Er hatte sie nicht geküßt. „Ich danke dir, du hast recht; denn wenn man einmal zum Leben verdammt ist —" „Ist das Leben dir denn zur Strafe geworden? Ich hatte gemeint, du seiest gern in diesem Jammertal." „Bisher ja! Aber seit ich bas Gefühl habe, daß du mich nicht mehr liebst —" Er machte eine ungeduldige Bewegung. „Immer dasselbe, Hortense! Bist du nur darum gekom men, mir das zu sagen?" „Nein, darum nicht! Weil ich Sehnsucht hatte." Mit einem langen Blicke sah er sie an, der ihr ganz deutlich sagte: ich glaube dir nicht! Ob sie diesen Blick verstand? Sie wurde ein wenig rot; eine nervöse, gequälte Unruhe fiel ihm an ihr auf; hatte sie wieder Schulden? Ihm drängte sich da das Verlangen auf, völlige Klarheit zwischen sich und Hortense zu schaffen, dieser Zustand des Hin- und Herziehens widersprach seiner ehrlichen, geraden Natur und wurde auf die Dauer unerträglich Auch Rück sichtnahme konnte in Feigheit ausarten! Schließlich hatte er seine Nervenkräfte nötiger als sie in ständigen Rei bungen mit Hortense abzunutzen Da klopfte es an der Tür; Dora brachte den Tee her ein. Sie bediente Hortense und reichte ihr feines, kleines Gebäck, das sie immer vorrätig hatte Und wieder fiel Hortense mit Unbehagen auf, wie jung und hübsch das Buckelchen ohne Brille trotz des grauen Haares war, das sogar eine pikante Umrahmung zu dem zarten Gesicht bildete. Da bemerkte sie einen ganz eigenen Blick, mit dem Maurus Dora nachsah. Ob sie mehr in diesem Blick las, als wirklich darin gelegen? Ob Unruhe, schlechtes Gewissen sie mehr sehen ließen, als tatsächlich bestand? Mit einem Male regte sich Eifersucht oder mehr beleidigte Eitelkeit, gepaart mit einem Zorn auf Dora; denn es mußte doch etwas Tatsächliches sein, das den früher so feurigen Lieb haber hatte so gleichgültig werden lassen! Und ihrem Ee- dankengange lag am nächsten — eine andere! Aber daß diese andere seine von der Natur nur karg bedachte Haus hälterin sein könne, das war grotesk, rasend komisch! Den noch: einem Manne war alles zuzutrauen, selbst die blödeste Geschmacksverirrung, nach ihr die Wirtschafterin in einer schwachen Stunde zu küssen! Und das Buckelchen kochte ja wirklich ausgezeichnet. Höhnisch zuckte es um ihren Mund. (Fortsetzung folgt )