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Wilsdruffer Tageblatt I 3 Blatt Nr 44 — Sonnabend, dea 21. Februar 1931 Der a'te Pestkelch in Herzogswat-e. Zum Grabe ruft der Glockenklang. In Herzogswalde, Gar mancher schon hinäb hier sank, Zu balde. Ter Tod mit knöchernem Gesicht Schaut kalt und stumm. Du hier! und Du da! hart er spricht, Die Pest geht um. Das Glöcklein ruft: Auf zum Gebet! In bittrer Not, Doch fort das schwarze Sterben geht, Hilf Herre Gott! Der Pestkelch geht von Munch zu Mund, Halt ein! Halt ein! Er weiht des Menschen letzte Stund, Macht seelenrein! G. Zieschang. Dresdner Plaudereien Das neue Sladtoberhaupt. — Pleite des Planetariums. — Ueber- schatzung des Sports. — Eine nationale Tat? — Die Pirnaer Kurrende im Heimatschutz. — Erzgebirgische Volksspiele. Winter auf dem Groszen Winterberg. — Sogenannter Karneval. (Nachdruck verboten.) '/Nein, er gefällt mir nicht, der neue Bürgermeister!" So stadtpolitisiert ein unzufriedener Bürger gelegentlich des Osterspazierganges in Goethes „Faust! Das Dresdner Stadt- vberhaupt gewählt. Der Wahlgang und was ihm vorausging, ist noch in guter Erinnerung. Oberbürgermeister der Landes hauptstacht wird Herr D r. Külz, der schon einmal mehrere <lahre hindurch den zweiten Bürgermeistersessel in unserem Rat hause einnahm, dann Reichsminister wurde und vorher wie nach her einflußreißreiche Stellungen bekleidete. Sein Gelöbnis, für das Wohl der Stadt Tag und Nacht arbeiten zu wollen, mntet erfreulich an. In allen seinen bisherigen Aemtern hat er sich als ein kenntnisreicher und in Verwaltungsgeschäften erfahrener Mann erwiesen, dem auch die Gabe der Repräsentation eigen ist. Hoffen wir, daß sich die in ihn gesetzten Erwartungen erfül len, baß er auch seine Nichtwähler befriedigt und daß kein Bür ger das eingangs zitierte Wort Goethes auf ihn anzuwenden brauch;. * . kleiden wir noch ein wenig bei den städtischen Angelegen heiten. Da gabs in der letzten Stadtoerordnetensitzung ein lan ges Gerede Nur recht viele Worte, auf Taten wirb heute verzichtet. Aber das soll anderswo auch so sein Die Verdoppe lung der Gemeindebiersteuer hat man abgelehnt, wohl in der richtigen Erkenntnis, daß das Gastwirtsgewerbe sowieso kaum noch „giebsen" kann. Einen sehr interessanten Beratungsgegen stand bildete bas städt. Planetarium; dieses reichlich eine halbe Million kostende Institut an der Stübelallee, in dem man den Kreislauf der Sterne bewundern kann. Man versprach sich einen dauernden Massenbesuch und stellte einen namhasten Astronomen als Direktor an. Aber die „bildungshungrigen Massen" blieben aus, die spielten lieber Fußball, und nun werden zwangsweise alle Kosten für Errichtung und Ausstattung des Instituts auf den städtischen Vermögensstamm übernommen. Etwas Tröst liches hat dieser Mißerfolg. Man ist zu der Erkenntnis ge- 'vmmen, daß das im Planetarium gepflegte Wissensgebiet der Allgemeinheit recht fern steht und tröstet sich damit, das es im ganzen heiligen deutschen Reich kein Planetarium gibt, daß in finanzieller Beziehung einen ausreichenden Erfolg zeitigte. Das soeben Angeführte leitet mich zur Ueberschätzung des Sports. Dessen Wert und Bedeutung bleibt unbestritten, aber unnötig ist es, daß ihm allwöchentlich die Presse viele Seiten widmet und dabei der Rekordhascherei Vorschub leistet. Man läßt sich die ausführliche Würdigung eines bedeutenden LLnderfußballspieles noch gefallen, erfreut sich an der körperlichen Ertüchtigung unserer Jugend, wenngleich der Sport aller Gat tungen militärische Erziehungen nie ersehen kann. Wenn aber ^ne Rodelfahrt einen Thüringer Berg hinab eine nationale genannt wird, so bezeichnet man den „Sieg" in einem ru Kennen, dann bleibt dem Plauderer, mit Respekt national ^rmcke weg". Nee, da kann ich nicht mit. Line dringend bed etwas ganz anderes! Wir sind einer solchen bahn. Aber sie vollzieht sich nicht auf der Rodel- In unserer „ * » , „ volkstümlicher Wern ^en Gegenwart gehört die Erhaltung gesinnter Kreise. M zu den dankbarsten Aufgaben ideal Volksgut gehören auch die in vie len Städten und größeren Landgemeinden Sachsens vorhande nen Kurrenden. Also kirchliche Kinderchöre, die im Gottesdienst Melodienführer sind, auch Choraufführungen bieten und bei Begräbnissen singen. Hier und da besteht auch noch- der Kur rendegesang vor den Häusern, so in Leisnig, wo Meister Fran ziskus Nagler den Dirigentenstab führt. Als er vor mehreren Jahren seine kleine Singschar mit nach Dresden brachte und seine Kurrendaner ihre frischen Stimmen durch den großen Vereins- hausfaal schallen ließen, wurde es den Zuhörern warm ums Herz. Kürzlich ließ sich nun an gleicher Stelle die Pirnaer Kurrende, ebenfalls vom Heimatschutz gerufen, hören. Auch der Pirnaer Kirchenchor, nur aus Mädchen bestehend, darf getrost auf die Vortragsreise gehen, hat er doch in dem in sächsischen Sängerkrehen hochgeschätzten Kirchenmusikdirektvr Büttner, einen kunstbegeisterten Leiter und Gesangspädagogen. Die Pir naer boten einen feingewählten Liederstrauß aus fünf Jahr hunderten, deutsche Spiel-, Scherz-, Tanz- und Reigenlieder, aber auch ernste Gesänge. Aufs trefflichste deszipliniert sang der stimmlich glänzend beschaffene Chor alles mit tiefem Empfinden und Mitfühlen. Bon Lied zu Lied steigerte sich der Beifall und nur erst nach Zugaben entließ man die sangesfrohe Schar. Pirna kann stolz auf seine Kurrende sein, die dem Namen ihrer Hei matstadt Ehre macht. Dann war in diesen Tagen noch ein anderes Stück Volks tum nach Dresden gekommen: die Max Rothe-Spieler aus Schlettau. Es -ist eine Volksspielerschar, die sich nach dem Ver fasser erzgebirgischer Gedichte, Erzählungen und Komödien, Oberlehrer Max Rothe in Buchholz, nennt. Die Spieler stammen aus der „Schlaat", auf Hochdeutsch Schlettau und spre chen daheim wie -in der Fremde die erzgebirgische Mundart. Sie sind keine Berufsschauspieler, sondern einfache Leute aus dem Volke, haben aber auch die Grenze des Dilettantismus schon er heblich überschritten. Ihr Spiel ist von größter Natürlichkeit, und da sie bereits mehr als hundert Aufführungen hinter sich haben, so ist ihnen auch eine beachtliche Bühnengewandtheit eigen. Nach wiederholten Gastspielen im Vvlkswohl hatte auch der Ge- werbederein die Erzgebirger für einen Abend gewonnen und hier führten sie Max Rothes köstlichen Schwank „Der Iahrm-arktsrausch" auf. Die Handlung zu schildern, würde zu weit führen, es sei aber nur betont, daß der Autor in seinem Werk wurzelechte, lebenswahre Gestalten auf die Bühne stellte, und daß dieser Schwank von vollsaftigem gefunden Hu mor erfüllt ist. Wahre Lachsalven durchbrausten den Saal und man erfreute sich an solch urwüchsigem Volkstum, wie es im sächsischen Erzgebirge noch seßhaft ist. Man mag das Werk Max Rothes und seiner Getreuen nicht unterschätzen. Immer mehr will -das Bodenständige und Eigenartige aus unserem Volke verschwinden, durch diese mundartlichen Stücke wird aber an seiner Erhaltung wertvolle Arbeit geleistet. Der fröhlichen Spielerschar sind gern noch weitere Erfolge -im ganzen Lande zu wünschen. Will man sich -das Herz leicht und den Körper für sechs weitere Arbeitstage widerstandsfähig machen, bann gibts nur ein Gebot für den Sonntag: Hinaus in die Natur! Auch wenn nicht gerade Frau Sonne lacht. Wir Dresdner hüben nun eine reiche Auswahl -von Wanderzielen. Die Bretterhelden streben zu Tausenden hinauf ins östliche Erzgebirge, nach Geising, Al tenberg, Frauenstein und Moldau. Aber das Gedränge früh und abends auf den Bahnhöfen ist nicht nach Jedermanns Geschmack. Wählen wir also mal die sonst so stark bevölkerte sächsische Schweiz, die wegen ihrer Nähe, was das Fahrgeld anlangt, noch den Vorzug der Billigkeit hat. Dis Schmilka-Hirsch mühle geht die Fahrt, -dann trägt uns das Motorboot zwischen kleinen Eisschollen hinüber nach dem dicht am Walde gelege nen Dörfchen Schmilka. Die Buden mit dem schrecklichen An denkengreuel sind geschlossen und im Ort herrscht wohltuende Stille. Nur ein paar frische Mädel rodeln mit Schnellzugsge schwindigkeit die vereiste Dorfstraße hinab. Werden wir bezüg lich eines rechten Winterbildes auf unsere Kosten kommen? Von Moldau her waren wir ziemlich verwöhnt und das ganze Elb tal herauf hatte Tauwetter der Schneedecke arg zugesetzt. Doch der Wetterbericht meldete vom Großen Winterberg 70 Zentimeter Schneehöhe. „Gehen Sie lieber -die Fahrstraße hin auf, die Waldwege sind sehr schwierig!" hatte ein Eingeborener geraten. Also los! Nur ein kleines Häuflern Wanderer hatte sich von der Landungsstelle aus mit auf den Weg gemacht und zerstreute sich bald nach verschiedenen Richtungen. Sv stapfte man allein durch den immer tiefer werdenden Schnee und was sich dem Auge bot, erfreute das Herz. Kein Lüftchen regte sich, kein Tier gab einen Laut, das große geheimnisvolle winterliche Schweigen des deutschen Waldes. Immer höher steigt die Stra ße an. An einer Biegung Aussicht. Ganz anders nimmt sich jetzt die vielgestaltige Felsenwelt des Elbsandsteingebirges aus. Und nun der Blick hinab -ins Tal hinüber auf eine weite, weite Schneedecke, aus der verstreut einige Ortschaften herausragen. Auf dem anderen Ufer die Kaiserkrone, eine schön ge formte dreizackige Felsgruppe und dahinter der hochragende Zirkelstein. Immer höher hinan. Dem schneebedeckten Na delwald folgt jetzt kahler Laubbaumbestand. Er trägt den C-il- bersch-muck -des Rauhfrostes, unsagbar zart u. feingestallig, mutet an wie eine unübersehbare Filigranarbeit. Und die Schneemenge? Ich rate: zieht lange Stiesel an! Der Weg führt nun ein Stück eben dahin, dann noch eine kleine Steigung und wir stehen vor dem behaglichen Winterberghaus. Anheimelnd ists m seinen wohlig durchwärmten Räumen mit ihren sehenswerten Geweihjchmuck. Zwei Stunden hat der Aufstieg in Anspruch ge nommen und für den Rückweg steht nur die Fahrstraße und der Wurzelweg zur Verfügung. Alle anderen Wege sind nicht ge bahnt. Was das bedeutet, sollte der Plauderer noch erfahren. Nach dem Genuß einer herrlichen Rundsicht begann auf gleicher Straße der Abstieg. Unterwegs riet eine, jedenfalls vom Teufel stammende Stimme: Versuchs mal mit dem Bergsteig! Anfangs ließ er sich ganz gut an und schien auch ein wenig ausgetreten Aber dann! Immer steiler wurde diese „Promenade". Unter der Schneedecke befand sich eine üble Eiskruste, unterbrochen von spitzem Stingeröll. Die sonst so tüchtigen „Gebrüder Beine" nahmen eine derartige Strapazierung übel und zu wiederholten Malen machte man Bekanntschaft m-ft „Mutter Erde". Den Ansprachen seiner ihn begleitenden Ehesponsin hat sich der Plau derer geflissentlich entzogen, indem er sich immer in respektvoller Entfernung hielt. Nun, auch die schlechtesten Wege haben ein mal ein Ebbe und zog man das Endergebnis des Tages, dann blieb doch ein köstliches Erlebnis der Winter auf dem Großen Winterberg, In die Landeshauptstadt zurückgekehrt bleibt die Erinne rung an das diesjährige Faschingstreiben. Macht Schluß damit, es war oberfaul! Gern sei der Jugend harmloser Mummen schanz gegönnt, aber der abendliche und nächtliche Radau -in der Innenstadt war alles andere -als schön. Selbst in Köln und süd lich des „Weißwur-st-Aequa-tors", worunter man die Mainlinie zu verstehen hat, wars diesmal stiller als sonst und der wirkliche Karneval -ist eine rein süddeutsche und katholische Angelegenheit mit strengster Trennungslinie zwischen Fastnacht und Aschermitt woch. Bei uns prügelt man mit Pritschen sinnlos aufeinander ein, warf Feuerwerkskörper in die Menge und gefiel sich-in ge schmacklosen Verkleidungen. Die mit großen Kosten verbundenen Faschingsfeiern vornehmer Gaststätten aber hätten gern noch mehr Gäste gesehen. Der rechte Lebenskünstler machte sichs da heim gemütlich. Bei einer Flasche Pfälzer tat dies E m i l. Die Schönheits-Konkurrenz Bon G. Ziescha- n g. Die Zeitungen haben ihren Lesern überall das Bild der Schönheitskönigin von Europa vorgesetzt. Bei den alten Grie chen war es die sagenhafte Helena, welche auch Goethe im Faust -auch die Bühne brachte. Nun eigentlich- ist die gewählte Fran zösin nur Königin unter denen, die sich an der Preiswahl be teiligt haben. Es kann ja noch schönere unter -den Nichtbeteilig ten geben. Ich glaube es sogar bestimmt. Schließlich bekommt ja Jede der Leserinnen, wenigstens von einem, den Schönheits- Preis zuerkannt. Die Schönheitswettbewerbe sind schon alt, na mentlich bei den Griechen, Scharen junger Mädchen zogen in völliger Nacktheit an den Richterinnen vorüber, dichtgedrängt umgeben von Tausenden von Zuschauern, ähnlich unserer Sport feste. Auch Jünglinge setzten sich so dem Preisgericht aus. Es gab da einen ganzen Kodex der Schönheitsbedingungen mit 21 Nummern. Zum Beispiel Nr. 13 sagt: „Beim Jüngling lockiges oder schlichtes reiches feingesträhltes Haar beim Mädchen lange schwere Zöpfe, gleichmäßig -an Farbe." Wie würde uns eine griechische Venus im Bubikopf vorkommen? Nach welchem Schönheitsideal wird nun eigentlich so eine Königin bewertet? Dafür gilt die Venus von Milo. Eine Statur, welche auf ge nannter Insel ausgegraben wurde. Leider find die Arme nicht aufg-efunden. Sie wird einem Künstler aus Antioch-ia zugeschrie ben und befindet sich jetzt im Louvre in Paris. Wenn w-ir in Dresden durch die Prager Straße gehen, können wir öfters einen solchen Abguß dieses berühmten Kunstwerkes betrachten und brauchen uns nicht mehr überlegen, warum die Dame keine Arme hat. Der frühere Kaiser Wilhelm II. stiftete einen Preis für die beste Lösung zur Anbringung der Arme; mir ist es heute nicht mehr erinnerlich, wie es ausging. Nach den kurzen Stumpfen der Arme ist anzunehmen, daß die Haltung ähnlich der Militär- venus war, welche als Siegeszeichen den linken Fuß auf einen Helm seht. Im Schloßg-arten zu Dittersbach bei Stolpen steht diese aus Marmor in Löbensgröße nachg-ebildet. Um der geneig ten Leserin Gelegenheit zu geben, sich zu prüfen, inwiefern sie den Bedingungen der Kunstv-orschriften entspricht, gebe ich -die Hauptpunkte der Körpergrößenverhältmsse der Venus von Milo in Zentimetern hier an: Länge 163, Rückenhöhe 45, Taille 72, Hüftumsang 86, Brust unter Armen 84, mit Busen 94Zs, Schul terbreite 13, Oberarm 32, Unterarm 25, Handgelenk 15„ Beine 102, Wade 33, Knie 3-8, Fußgelenk 19. Bei nur Kopfpre-isen- gilt das griechische Profil, wo Stirn und Nase fast in einer Richtung liegen. Die Haare sind bei den griechischen Plastiken im Knoten geschlungen. Unsere Schönheitspreisausschreiben sind eben nur eine neue Modekrankheit zum Augenschmaus einiger Wenige, für d-ie anderen genügt das Bild in der Zeitung. Wort „Help" (Hilfe), das sie mit Holzst-angen auf dem Eise ausgelegt hatten, hatte den erhofften Erfolg! * Bild rechts: Im Finnischen Meerbusen vom Eise umklammert! lmks: 3« Stunden auf treibender Eisscholle! Auf dem Eric Ä.nger Junge — auf einer Eisscholle abgetrieben und erft "«ch 36 Stunden von einem Postslugzeug zufällig entdech Das Während Mitteleuropa von der Strenge des Winters nichts merkt, liegen im Finnischen Meerbusen Schiffe in ganzen Kara wanen im Eise fest — allein bei der Insel Hogland 36 Damp fer deutscher, russischer und lettländ-ischer Nationalität.