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Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt — Nr. 230 — Freitag, den 25. Oktober 1935 Tagesfpruch Komm, Trost der Welt, du stille Nacht! Wie steigst du von den Bergen sacht. Die Lüfte alle schlafen; Ein Schiffer nur noch wandermüd', Singt übers Meer sein Abendlied Zu Gottes Lob im Hafen. Die Jahre wie die Molken gehn Und lasten mich hier einsam stehn Die Welt hat mich vergessen: Da tratst du wunderbar zu mir, Wenn ich beim Waldesrauschen hier Gedankenvoll gesessen! O Trost der Welt, du stille Nacht! Der Tag hat mich so müd gemacht, Das weite Meer schon dunkelt; Laß ausruhn mich von Lust und Not, Bis daß das ew'ge Morgenrot Den stillen Wald durchfunkelt. Joseph Freihr. v. Eichendorff. Disziplin im Straßenverkehr! Ein grundlegender Erlaß des Rcichsvcrkehrsministers. Der Reichs-und preußische Verkehrs minister hat zur Ordnung des Straßenverkehrs einen grundlegenden Erlaß heransgegeben, in dem es u. a. heißt: In letzter Zeit haben Nachrichten über die Zahl der Straßenverkehrsunfälle die Öffentlichkeit und die Behörden beunrnhigt. Der Schaden an Gesundheit und Leben der Volksgenossen und der Verlust an Volksver mögen durch Unfälle im Straßenverkehr ist ernst und schwer. So wichtig Maßnahmen zur Verhinderung von Unfällen sind, dürfen doch dadurch die großen Ziele der Verkehrspolitik nicht beeinträchtigt werden. Es ist un richtig und unangebracht, die Schuld für Verkehrsunfälle bei einer Verkehrsart zu suchen. Jeder mutz das seine zur VcrlMung von Unfällen tun. Schädlich im Verkehr ist der K r a f t f a h r e r, der durch rücksichtslose Ausnutzung der Geschwindigkeit seines Fahrzeuges unachtsam darauf losfährt. Ich muß ver- langen, daß der Kraftfahrer jederzeit und überall seine Geschwindigkeit den gegebenen Verhältnissen anpatzt. Radfahrer dürfen nicht zn mehreren nebenein anderfahren, wenn der Verkehr dadurch behindert wird; und damit werden sie auf Straßen mit starkem Verkehr regelmäßig zu rechnen haben. Es kann aber auch Fälle ^ben, wo cs für die Abwicklung des Verkehrs besser ist, M sie zu zweien oder dreien nebeneinanderfahren. ^bersteZ Gesetz ist die Rücksicht ans die Vcrkehrslage und jeweilige beste Abwicklung des Verkehrs. ..Fußgänger sind im heutigen Straßenverkehr Awichsalls zu erhöhter Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme verpflichtet. Sie dürfen nicht achtlos die Fahrbahn betreten, nicht auf dem ihnen bequemsten Weg schräg eine stark befahrene Straße überqueren; sie brauchen aber nicht gezwungen zu werden, in verkehrsstillcn Zeiten sich NN bestimmte Übergänge über die Fahrbahn zu halten. Selbstzucht aller ist im Straßenverkehr nötig! Wer sich meser Forderung nicht fügt, muß mit der ganzen Härte des Gesetzes dazu gezwungen werden. Rei-sfinanzmimster Schwerin v. Krosigk besucht den Arbeitsdienst im Emsland. Reichsfinanzminister Graf Schwerin v. Krosigk Unternahm von Oldenburg aus mit Vertretern der Reichs arbeitsführung und dem Gauarbeitsführer des Gaues 19 eine Fahrt durchs Emsland. Der Reichsminister will einen persönlichen Eindruck von der großen Kulturarbeit gewinnen, die vom Reichsarbeitsdienst in den weiten Mooren des Emslandes geleistet wird. Der Besichti- gungsreise ging eine Besprechung über Angelegenheiten des'Arbeitsdienstes im Gau 19 vorauf. Reinhold Seeberg 1*. Der deutsche Gottesgelehrle verstarb im Alter von 77 Jahren. Einer der bedeu tendsten evangeli schen Theologen der Gegenwart ist ge storben. Prosessor Reinhold See berg, Ehrendoktor aller Fakultäten und Inhaber des Adler schilds des Deutschen Reiches, ist im Alter von 77 Jahren auf seinem Landsitz in Ahrenshoop in Pommern entschla fen. Seebergs Name galt in der ganzen christlichen Welt, nicht nur im Bereich der theologischen Wissenschaft, sondern auch darüber hinaus im kirchlich-sozialen und im politischen Leben. Er war einer der Gelehrten von ganz großem Format, ein Mann, der Deutschlands Ruhm als eines Landes der Wissenschaft in alle Welt getragen hat. Als dem großen Gelehrten zu seinem 75. Geburtstag vom Reichspräsidenten von Hindenburg mit einem persön lichen Handschreiben der Adlerschild des Deutschen Reiches überreicht wurde, da wurde „demdeutschenGottes- gelehrten", wie die Widmung auf der Rückseite des Schildes lautet, die höchste Auszeichnung zuteil, die Deutschland für seine Männer des Geistes zu vergeben hat. Von Geburt Balte, begann Reinhold Seeberg seine akademische Laufbahn als Privatdozent in Dorpat. Nach zehnjähriger Wirksamkeit in Erlangen wurde er 1898 nach Berlin gerufen, wo er bis zu seinem Ausscheiden aus dem Amt den Lehrstuhl für systematische Theologie innehatte. Die hervorragendsten Zeugnisse für den reichen Ertrag seiner wissenschaftlichen Lebensarbeit sind sein vier bändiges Lehrbuch der Dogmengeschichte und seine zweibändige „C h r i st l i ch e D o g m a t i k". * Zu dem Tode von Geheimrat Dr. R. Seeberg ist folgendes Beileidstelegramm des Führers und Reichskanzlers bei dem Sohn des Verstor benen eingegangen: „Zu dem schweren Verlust, den Sie durch den Tod Ihres Herrn Vaters, des um die deutsche theologische Wissenschaft hochverdienten Professors Rein hold Seeberg, erlitten haben, spreche ich Ihnen meine auf richtige Anteilnahme aus. Adolf Hitler." Belgien weist vier Heimattreue aus Malme-y aus. Im Ausbürgerungsprozeß gegen die vier Heimattreuen Bürger aus Malmedy wurde in Lüttich von der Ersten Kammer des Appellationshofes das Urteil verkündet. Sämtliche Beklagten, Joseph Dehot- tay, Peter Dehottay, Heinrich Dehottay und Paul Foxius, wurden auf Grund des Gesetzes vom 30. Juli 1934 der belgischen Staatsangehörigkeit für verlustig erklärt, weil sie „schwere Verletzungen" ihrer Staatsbürgerpflichten begangen hätten. Das Urteil ist endgültig. * Die Schuld der Ausgewiesenen bestand in nichts anderem, als daß sie ihre kulturellen Rechte zu wahren suchten und für ihre Heimat auch im von Belgien annek tierten Eupen-Malmedy eintraten. Als loyale Staats bürger hatten sie ihrer Meinung Ausdruck gegeben. Sie haben keineswegs ihre neuen Staatsbürgerpflichten ver letzt. Nachdem bereits das Ausbürgerungsgesctz ein Bruch der b e l g i s ch e n V e r f a s s u n g und des Versailler Vertrages war, bedeutet das Urteil erst recht die Schaffung eines rechtlosen Zustandes für die Heimattreuen Bewohner von Eupen-Malmedy und St. Vith. Halbmast zum Tode von Reichsstatthalier Loeper. Eine Anordnung an die Partei und die ihr angeschlossenen Verbände. Reichspropagandaleiter der NSDAP., Reichsminister Dr. Goebbels, gibt bekannt: „Auf Befehl des Führers ordne ich an: Alle Ge bäude der Partei und der ihr angeschlosse nen Verbände flaggen aus Anlaß des Ablebens des Gauleiters und Reichsstatthalters Wilhelm Friedrich Loeper in der Zeit vom 25. bis einschließlich 31. Oktober halbmast." Halbmast im ganzen Reichsgebiet. Ler Reichsminister des Innern gibt folgendes be kannt: Aus Anlaß des Ablebens des Reichsstatthalters und Gauleiters Loeper flaggen am Beisetzungstag, Sonnabend, 26. Oktober, die staatlichen und kommunalen Verwaltun gen, Anstalten und Betriebe, die sonstigen Körperschaf ten, Anstalten und Stiftungen des öffentlichen Rechts und die öffentlichen Schulen im ganzen Reichsgebiet, also nicht nur im Gaubezirk Magdeburg, halbmast. Ein Deutscher Nobelpreisträger. Das Lehrerkollegium des Karolinischen Institutes zu Stockholm hat den diesjährigen Nobelpreis für Phy siologie und Medizin dem Professor Hans Spemann, Freiburg (Breisgau), für seine Entdeckung von dem Or- ganisawreffeki während der embrionalen Entwicklung ver liehen. Prof. Hans Spcmann hat sich als Zoologe hervor ragend um die experimentelle Erforschung der tierischen Entwicklung verdient gemacht. Er wurde am 27. Juni 1869 in Stuttgart geboren. Von 1914 bis 1919 war er Direktor am Kaiser-Wilhelm-Jnstitut für Biologie in Berlin--Tahlem. Seit 1919 hat er einen Lehrstuhl an der Universität Freiburg im Breisgau. Oer Broipreis wird gehalten! Herabsetzung der Roggenmehlpreise. Die H a u p t v e r e i n i g u n g der Deutschen Getreidewirtschaft hat mit Zustimmung des Reichs- und preußischen Ministers für Ernährung und Landwirtschaft eine Änderung der Roggenmehlpreise an geordnet. Der zur Zeit gültige Roggenmehlpreis wird zunächst auf den Preisstand der Zeit vom 15. August bis zum 30. September 1935 zurückgeführt. Für Berlin bedeutet dies z. B., daß der Mühlenve-'kaufspreis für Roggenmehl Type 997 von 22,65 Mark je Doppelzentner auf 22,45 Mark ermäßigt wird. Diese Verbilligung wird jedoch noch wesentlich verstärkt durch die Bestimmung, daß dieser Preis bis auf weiteres auch für dienäch- sten Monate unverändert bleibt. Im vorigen Jahr stieg der Roggenmehlpreis in Anlehnung an die monatlich steigenden Roggenpreise von 22,25 Mark je Doppelzentner Ende August auf 22,65 Mark Ende De zember, auf 22,90 Mark im April 1935 und schließlich auf 23,00 Mark im Juli 1935. In diesem Getreidewirt schaftsjahr fallen nun die monatlichen Zuschläge (Re ports) bis auf weiteres weg, so daß die Preissenkung im Laufe des Wirtschaftsjahres immer größer wird. Die Herabsetzung der Roggenmehlpreise ermöglicht, auch fernerhin, den Roggenbrotprcis trotz der unverkennbaren Schwierig keiten im Bäckergcwcrbe unverändert zu lassen. Die Brotpreisfrage war früher eine der leidig sten und wirtschaftspolitisch umstrittensten Angelegen heiten. Der Bauer rechnete dem Bäcker vor, welchen Ge winn dieser bei den niedrigen Getreidepreisen einstrich. Der Bäcker stand gegen den Müller und warf diesem einen zu hohen Mahllohn vor. Der Müller ließ es nicht daran fehlen, die Schwierigkeiten des Mehlgeschäftes soweit nur irgendmöglich wieder auf den Getreideerzeuger abzu wälzen. Die politischen Parteien hatten dann leichtes Spiel, den Streit um den Brotpreis mit der entsprechen den Aufmachung zu ihrem Rutzen zu gestalten. Heute gibt es nur eine Parole: Der Broipreis mutz gehalten werden! Dagegen haben alle gruppen egoistischen Einwände zu schweigen und es ist dann nur noch die Aufgabe aller Beteiligten, den richtigen Schlüssel zu finden, nach welchem alle gleichermaßen dieser wichtigen ernährungspolitischen Aufgabe ihren Beitrag ru leisten haben. Die Bettlerin von Et. Soratius Originalroman von Gert Rothberg. 49. Fortsetzung Nachdruck verboten Wie froh er gewesen war, als Gräfin Linchen das ge sagt hatte! Wenn die Gräfin eine Ahnung hätte, wie sehr ich Lu liebe, hatte er damals gedacht. Heute wußte sie es. Denn er hatte es ihr ja anver traut. Und sie hatte es ihm auch eingestanden, daß sie Richard Hohenberg nur habe kommen lassen, um ihn, Pa row, aufzurüttelns „Und wenn sich Lu nun tatsächlich in Richard Hohen berg verliebt hätte, was dann?" hatte die Gräfin gefragt. „Ja, dann wäre eben mein Exempel aufgegangen, daß Man Lu erwachen lassen muß." „Komisches Exempel, bei dem einer geduldig wartet, bis ihm ein anderer das Mädel wegschnappt. Ich hatte Eie für temperamentvoller gehalten, lieber Ernst." „In jedem Falle habe ich Ihnen zu danken, Gräfin Linchen," hatte er gesagt und ihre Hände geküßt. „Vielleicht!" Mit feinem Lächeln hatte die gütige Frau ihn ange sehen. Parow war jetzt in seinem Zimmer hin und her ge gangen, während er an diese Unterredung dachte. Jetzt schlug er beide Hände vor das Gesicht. „Lu, ich liebe dich bis zum Wahnsinn. Ganz richtig, Wahnsinn! Ich hätte einen anderen Ausweg finden müs sen, denn ich ertrage das ja einfach nicht, dir fremd gegen über stehen zu müssen." Draußen fuhr ein Wagen vor. Dann kam jemand die Stufen herauf. Dem Gestöhne nach, das durch das offene Fenster ins Zimmer kam, mußte es Onkel Konrad sein. Was mochte er denn wollen? Ernst von Parow ging dem alten Herrn entgegen. „Guten Tag, Onkel Konrad! Na, was führt dich her? sch denke, du mußt im warmen Zimmer bleiben?" „Tag, mein Junge. Laß das Rheuma sein, ich hab' mich aufgemacht, um dir was zu sagen. Hier, sieh mal! Das wäre doch was für dich? Auf der großen Kunstausstellung in München hat es den ersten Preis bekommen. Ein bis her unbekannter Maler erhält nun einen guten Namen. Ich möchte dir das schenken. Aber, bitte, kümmere dich selber darum. Ich weiß gar nicht, warum ich so versessen auf das Bild bin. Aber es läßt mir keine Ruhe. Und ich weiß doch, was dir ein schönes Gemälde wert ist. Eigent lich nichts weiter. Geradezu gruselig wirkt das Bild. Aber erstens taugt es wirklich was, und dann ist es gerade dort gemalt worden, wo du dir als Forscher einen solchen Na men gemacht hast. Das Bild heißt warte mal, ich hab's hier " Onkel Konrad zog ein Journal aus der Tasche, dabei sagte er: „Der Weißbach hat es mir geschickt. Ich hatte an ihn geschrieben, mir was Gutes für dich zu besorgen. Hier hier hast du das Bild. Es heißt: „Die Bettlerin von St. Horatius". Komisch, diese sonnenbeschienene Ka pelle und auf den Stufen diese hohe, düstere Frauengestalt. Ganz verschleiert, wie eine Nonne. Als wäre sie eben dort der alten Klosterruine entstiegen. Na, wie denkst du über das Bild? Und hast du auf den Stufen von St. Horatius auch mal diese Bettlerin gesehen, die aussieht wie eine verbannte Königin? Oder ist es nur Phantasie von dem Maler? Dietrich Warnsbacher heißt er." Onkel Konrad hielt seine rote Nase dicht über das Bild, so sah er das Gesicht seines Neffen nicht, das fahl und er regt aussah. „Na, willst du es haben?" klang Onkelchens freundliche Stimme in die seelische Erschütterung Ernst von Parows hinein. Der nahm sich zusammen, sagte: „Onkel Konrad, eine größere Freude könntest du mir in der Tat kaum machen. Die Erinnerungen, weißt du. Und diese Bettlerin gab es wirklich dort aus den Stufen der Kapelle." „Ach was!" Onkel Konrad stierte mit seinen ein bißchen heroor- quellenden Augen wieder auf das Bild. Dabei freute er sich: „Nee, daß ich das gerade erwische! Selbstverständlich kriegt der Weißbach sofort festen Auftrag. Preis Neben sache, was ich aber dem alten Gauner nicht mitteilen werde. Doch wirklich, was er mir da für einen Gefallen getan hat, wenn du dich nun so freust." Ernst von Parow starrte auf das Bild. Der Katalog war recht gut, er sah es. Und doch, wie mochte erst das Gemälde wirken? Und welch einen glücklichen Augenblick hatte der Maler erhascht, als er die Bettlerin von St. Horatius so aufrecht, düster und königlich auf den Stu fen sah! Michaela, arme Michaela, wie seltsam sind Gottes Bestimmungen. Nun wird das Bild in Schloß Parhofen hängen. Du hast mich geliebt! Ich habe dich in deiner Todesstunde geküßt. Und du — — du vertrautest mir Lucia an! Lu, meine süße kleine Lu, die ich liebe. Wenn es doch möglich wäre, daß auch sie mich lieben könnte! Ernst von Parow gab seinem Onkel den Katalog zu rück. Der rollte ihn schmunzelnd zusammen. Nee, nee, ganz eingetrocknet war er noch nicht, der alte Konrad von Parow. Er hatte seine Augen noch offen für alles Schöne. Plötzlich besann sich Onkel Konrad. „Du, Ernst, ich habe eine Einladung nach Drieberg." „Das war doch vorauszusehen, Onkel. Und die Damen haben längst auf diese Einladung gewartet." „Ich wollte hin. Bin auch neugierig. Man muß sich doch heute seine Nachbarn wenigstens mal ansehen, nicht?" „Da hast du ganz recht, Onkel Konrad. Ich denke, es wird wohl niemand fehlen." „Die kommen alle. Na, ich fahre wieder heim. Gott besohlen, Junge." „Willst du nicht ein Gläschen trinken?" ' Fortsetzung folgt.