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Wilsdruffer Tageblatt : 19.02.1935
- Erscheinungsdatum
- 1935-02-19
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-193502194
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19350219
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19350219
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1935
-
Monat
1935-02
- Tag 1935-02-19
-
Monat
1935-02
-
Jahr
1935
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 19.02.1935
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VOLL LaLZa. i. „Großmutter! Großmutter!" rief die kleine blonde Cilia und zog. ihre kälteblaue Hand, die krampfhaft einen Gegenstand umspannte, vom Außengesimse in die Stube zurück. Schnee stäubte nieder, als sie das Fenster schloß, und ein wenig Schnee klebte auch noch an dem Paket, das sie aus dem Gesims ge funden und von dem sie die Schnur löste. „Schau nur, ein Buch!" jubelte sie dann der alten Frau Zurmühlen, ihrer Großmutter, entgegen, die auf ihren Ruf ruS der Hinterkammer, die zugleich Küche war, hereingeeilt kam. Die Greisin, der schönes seidiges weißes Haar und ein junges faltenloses Gesicht aus dem Trauerkleide aufblühten, schüttelte halb verwundert, halb mißbilligend den Kopf. „Was ist nur das? Was ist nur das?" murmelte sie, das Paket musternd. „Heinzelmännchen", antwortete mit einer verschmitzten Miene Cilia. Aber die Großmutter erwiderte: „An die glaubst Du ja nicht mehr. Und ich auch nicht." Damit grübelte sie weiter an dem Fund der Enkelin herum, untersuchte das Gesims, schaute sich draußen in der Gasse um und sand es unbegreif lich, daß auch diesmal keine Spur von einem Spender zu ent decken war... Auch diesmal! Das war nun schon die sechste Wieder holung einer heimlichen Bescherung, die ihr und der Kleinen widerfuhr. Die alte Frau hatte anfänglich an etwas Ein maliges, an eine ihrer hübschen Enkelin von irgend einem gütigen Menschen bestimmte Ueberraschung gedacht; aber es War nicht bei der Schachtel Schokolade geblieben, die damals aus der Türschwellc gelegen hatte, sondern jener Gabe folgten seltsame Dinge: zwei Büchsen mit Konserven, ein ganzes Brot, einmal ein Wolltuch, wie man es jetzt im Winter wohl brauchen konnte, und einmal ein halbes Pfund Butter. Nun war es in Stadt und Quartier nicht unbekannt, daß über die alte Frau Zurmühlen und ihr Enkelkind vor unferner Zeit ein furchtbares Unglück hereinllrach, indem am selben Tage Sohn und Schwiegertochter, die Eltern der Cilia, an einer Grippe starben und durch des Sohnes Tod der Familie der Ernährer genommen wurde; aber die Art und Weise der heimlichen und m ihrem Eifer befremdlichen Unterstützungen, die sie erfuhren, sing an, der alten Frau Unbehagen zu bereiten. Mit Cilia gemeinsam ließ sie all' ihre Bekannten im Geist an sich vor- uberziehen und forschte allen Möglichkeiten nach, ohne auf die Spur des Wohltäters zu kommen. Aus irgend einem Trieb nahm sie aber jetzt das Buch Cilia weg und schloß es in del Wandschrank. „Warum darf ich es nicht behalten?" fragte Cilia. Tränet standen ihr in den Augen; Lesen war ihre Leidenschaft. „Erst muß man wissen, wie das alles zugeht", urteilt, Frau Zurmühlen nicht ohne Bedenklichkeit. Cilia kehrte betrübt an ihr Fenster zurück. Sie war mr der Großmutter nicht einverstanden und hätte sich das Be schenktwerdcn gern weiter gefallen lassen. Ein wenig Vev zauberte ihr auch das Märchenhafte der Vorgänge den Sinn und sie würde sich trotz ihrer dreizehn Fahre nicht gewunden haben, wenn in der grauen verschneiten Gasse ein weiß, gekleidetes Christkind erschienen wäre und erzählt hätte, das es vom lieben Gott selber komme. Die Gasse blieb indessen leer. Einzelne verlorene stern- blinkende Flocken segelten noch durch die Luft. Sonst bcgal sich nichts. Nur ganz am Ende, wo die Gasse in die breiter, Straße mündete, stand ein Junge an die Mauerecke gelehnt Er schien Cilia nicht wesentlich. Weil es aber-sonst auch gai nichts zu sehen gab und sie sich eigentlich wunderte, warum der Bursche so lang an ein und derselben Stelle klebte, be- trachtete sie ihn etwas näher. Er schaute einmal über di, Achsel zurück auch zu ihr hinüber, wendete sich aber rasch ab als er ihrem Blick begegnete, und hielt nachher das Gesicht steh und geflissentlich nach einer anderen Richtung gedreht. Cilic gewahrte noch, daß er verschlissene Kleider und Schuhe trug daß ihm die Acrmel seines abgeschabten und zu weiten Rocket über die Hände herumcr hingen, daß er einen hohen Rücken, säst einen Höcker und dünne lange Beine, aber einen schöner Kopf mit merkwürdig tiefbraunem Ringelhaar hatte. Auch blieben ihr seine Augen, so flüchtig sie die ihren gestreift, iw Gedächtnis, und sie sann noch an ihrem dunklen trauriger Ausdruck herum, als der Platz an der Ecke längst leer ge- worden war. So, gleichsam mit trockenen Augen weinend halte sie eines Tages, bald nach dem Tode der Eltern, du Großmutter durchs Fenster in dw Straße hinaus starren sehen 2. Christlieb Kielinger, der Schuhputzer, saß in seiner Keller- stubc. War das eine Stube? Nein doch! Ein feuchtes Loch war es, mit einem kleinen vergitterten Fenster, wie es du Zuchthauszellen haben. Das Fenster lag hoch oben in der weißgetünchten Wand, und wo es mit blinden Scheiben hin ausstaunte, lagen unmittelbar unter ihm die grauen Pflaster- steine eines Hinterhofs. So elend wohnte Christlieb, der Berg- bub. Vor einem Jahre war er aus seinem Alpendorf in die Stadt gekommen, getrieben von einer krankhaften Neugier nach der Welt, und weil er das Leben neben drei Säufern, Vater, Mutter und Bruder, die ein winziges Bergbaucrngut bewirt schafteten, satt hatte. Er vermißte seine Familie nicht, Wohl aber die Berge und die blaue Luft da oben, die Ziegen in den Steinlehnen und die Vögel, die im unendlichen Himmel plötz lich wie kleine Fischerboote im stillen Meer schwimmen. An Heimkehr dachte er nicht. Zu niemand gehörig, nach niemand fragend, halte er durch einen Zufall die Erlaubnis ergattert, am Bahnhof einen Schuhputzkastcn aufzustcllen. Dort ver diente er seinen Unterhalt, ja mehr als diesen. Er hatte im Grunde ein unerwartetes Glück und reichlichen Kunden zuspruch. Vielleicht brachte ihm letztem ebenso sein ärmliches Gewand wie der fremdartige, suchende, halb hilflose und halb zutrauliche Ausdruck seines blassen Gesichtes. Eines Tages hatten zwei schwarzgekleidete Männer mit einem etwa zwölfjährigen Mädchen an der Hand bei ihm Hali gemacht und sich die Schuhe reinigen lassen. Dabei führten sie ein Gespräch, das ihm verriet, der kleinen Cilia seien an einem Tag die Eltern gestorben. Unwillkürlich betrachtete er das blonde Mädchen näher. Dabei stand ihm das Herz still: Beim Himmel, gab es so etwas: die ganze Gestalt und das feine Gesicht wie von einem Heiligenschnitzer geformt. Um den Mund ein Lächeln, daß man dachte, ein Engel schaue einen an! Seither war Christlieb Kieliger ein wenig aus Rand und Band gewesen. Im Gespräch fiel der Name der Gasse, wc Cilia wohnte. Er hatte die Wohnung ausfindig gemacht, die Großmutter gesehen, von Leuten derselben Gasse ihre weitere Geschichte gehört. Und als er nun wußte, daß es Leute gab, die noch ärmer waren als er selbst, gab er seinem Leben einen merkwürdigen Inhalt. Vielleicht lag seinem Tun dieselbe starke, naturtriebhafte Neugier zugrunde, die ihn aus seinem Beradors in die Welt aetrieben batte. Er. der nock nie einem Menschen nahe gestanden, von Menschen und ihrem Weser kaum etwas gewußt, bestimmt nie über sie nachgedacht hatte, fühlte sich Plötzlich mit den zwei ungleichen Frauen irgendwn verknüpft, sich für sie irgendwie verantwortlich. Bei jedem Batzen, den er tagsüber als Lohn für seine Arbeit unter du grüne Schürze steckte, ging sein Sinn zu ihnen. In der Nach! sah er Cilia im Traum, sah sie nicht hier in der Stadt, sondern oben in den Bergen, wie sie auf einem Stein saß, Sonne aus dem blonden Haar und die großen blauen Augen hoch oben cm der Rautallücke, wo man manchmal Gemsen äsen sah. Christlieb Kieliger hatte Tinte und Feder und einer Bogen Papier vor sich. Droben im Bergdorf war er einmal der beste Schüler gewesen. Er liebte noch jetzt Schreiben uni Rechnen als einen Zeitvertreib. Auf den Bogen hatte ei Kolonnen wie in einem richtigen Rechnungsbuch gezogen. Uni da standen nun allerlei seltsame Eintragungen: Holz füi Großmutter, Kohlen, ein Buch, eine Schachtel Schokolade uni vieles mehr. Hinter jedem Gegenstand war sein Wert an gegeben, und bei einigen las man in einer Sonderrubrik der Vermerk: „bezahlt". An diesem „bezahlt" hing Christliebs Auge. Er seufzte Das Wort fehlte an vielen Stellen. Ein Posten aber leuchtet« besonders hervor und war wie eine klaffende Wunde. Dc stand: „Der Großmutter für Hanszins hundert Franken." Christlieb malte Männlein auf das Löschblatt, das neber ihm lag. Seine Gedanken wanderten: Hatte er sich da nick! übertan? Hundert Franken! Sapperment. Die verdiente er in einem halben Jahre nicht! Und wenn er sich selbst jeden Bissen am Mund absparte. Ueberhaupt die Posten, bei denen Ver Zahlvermerk fehlte, wuchsen unheimlich rasch. Aber die Leute sagten, der Frau Zurmühlen werde gekündigt, weil sie den Hauszins nicht erlegen konnte! Was blieb da übrig? Nur — er war jetzt manchmal unsicher. Früher hatte ihm ge schienen, er tue, was er tue, mit größter Berechtigung, weil es doch Guttat war, aber — aber — jetzt kamen ihm manch mal Zweifel. Er biß am Federhalter herum. Nach einer Weile legte er ihn beiseite und das Blatt in die Tischschublade. Dann stand er auf und verließ das Haus. 3. Sterne standen am Himmel. Die Nacht war lau und bkau. Christlieb schritt die Bahnhofstraße hinunter, barhaupt, die schlenkernden Arme von den Rockärmeln lang überhangen. Die Hose war, wo sie die groben Schuhe erreichte, ausgefranst. Christlieb wußte, daß er auch zur Nachtzeit auf der vornehmen Straße keinen Staat machte. Er glitt im Schatten der Häuser hin und schaute und schob sich gleichsam an den Menschen vor bei, die noch auf der Straße waren. Manchmal trafen ihn böse oder verächtliche Blicke. Manchmal begegneten auch ändere Augen den seinen. Dann konnte es geschehen, daß ihm jemand, wie von seinem großen melancholischen Blick getroffen, nachsah. Jetzt kam er an ein großes Bankgebäude. Protzig strebte »s mit grauem schwerem Steinwerk in den Nachthimmel hin auf. Christlieb duckte sich unwillkürlich wie vor einem General oder König. Aber er duckte sich eigentlich mehr vor einem Gedanken. Da war es gewesen! Da hatte der Hundertfranken schein auf dem Schaltertisch gelegen. Da mußte er ihn eines Tages wieder hinlegen! Mit einem scheuen Kopfwenden drückte sich Christlieb an dem Gebäude vorüber. Und eiliger, mit noch verhehlteren Schritten strebte er völlig dem Bahnhof zu. Seine Gedanken eilten ihm jetzt voraus: Im Bahnhof waren um diese Zeit noch die Kioske offen. Auch der Restaurationswagen fuhr noch herum. Und morgen mußten Cilia und die Großmutter zwei Würste haben. Seines Wissens hatten sie eine ganze Woche kein Fleisch gehabt. Der Gedanke zog ihn vorwärts. Als wäre er mit einem Strick an ihm fest gebunden. Zuletzt rannte er, Kopf voran seinem Ziel zu. Inmitten an- und abreisender Menschen schoß er in die Bahnhofshalle. Da stand auch schon der Bahnsteigwaqen. Christliebs Blicke fielen auf Früchte, Schokolade, Brote. Auf einem weißen Teller, als müßten sie besonders sichtbar ge macht werden, lagen sechs dicke braune Würste. Christliebs Herz stopfte. Aber plötzlich war er seiner Sache wieder ganz sicher. Die Großmutter mußte doch essen! Cilia auch! Kaltblütig und zielbewußt pirschte er sich an den Ver kaufswagen heran. „Fort da!" fuhr ihn der Verkäufer an, dem der zerlumpte Gast nicht gelegen kam. Im gleichen Augenblick nahmen aber drei Kunden den Wagenkellner in Anspruch, so daß er sich nicht weiter um Christlieb kümmern konnte. Am Wagen hing eine Preistabelle. „Cervelats 35 Rappen", las Christlieb, und in Gedanken schrieb er diese Zahl zweimal in seine Liste. Geschwisterlich aneinander gebunden prangten zwei Würste wie für ihn hingelegt auf den übrigen. Christlieb griff blitz schnell zu. Aber noch ehe er die Beute einstecken konnte, packte ihn jemand beim Kragen. „Habe ich Dich endlich, Du Gauner!" sagte der Detektiv mit dem pockennarbigen brutalen Gesicht und orehte am Rock kragen als müsse er dem Dieb stante Pede den Hals umdrehen. Christlieb bog sich zusammen. Einen Augenblick hing er wie ein Hampelmann in des Beamten Griff. Seine Augen schwammen als zwei dunkle Räder in dem totenbleichen Ge sicht. Aber eigentlich fürchtete er sich nicht. Im Gegenteil schoß wie ein in Brand gesetztes Pulverhäuflein ein wenig Trotz in ihm auf: Was wollte der Mensch! Sollten sie denn verhungern, Cilia und die Großmutter? Inzwischen waren die Umstehenden aufmerksam gewor den. Der Verkäufer sprang heran. „Den Kerl habe ich schon lange im Verdacht", schrie er. „Schon einige Male hat mir etwas gefeblt. Und immer war dieser Mensch in der Nähe." „Ich habe Ihne« auch einmal zwei Franken hingelegt", stellte Christlieb leise, ohne Aufhebens fest, betrübt, daß es noch nicht mehr sein konnte. „Das kann jeder sagen", protzte der Wagendiener auf und wollte von nichts wissen. Der Detektiv Packte Christlieb fester und schleppte ihn unter großem Aussehen des Publikums aus der Bahnhofshalle. 4. Die Frühlingssonne spielt um die grünen Vorhänge der Gerichtssaalfenster. Sie hat sie auf der Außenseite gebleicht und tändelt mit goldenen Fingern an ihnen herum. Christlieb Kieliger sieht es und denkt, daß sie so, gerade so heimlich und sanft droben im Gebirg um die schwarzen Stcin- hrocken fingert, zwischen denen er früher einmal Geißen gehütet. Aber die Sonne hält Christliebs Gedanken nicht lange fest. Sie fliegen zu den vergangenen langen Wochen zurück, da er in Untersuchungshaft gesessen, allein mit sich und ihnen. ein verwirrter, weg- und zielloser Mensch. Bist Du eln Meb? haben sie ihn hundertmal gefragt und ihm vorgerechnet, daß es sicher Diebstahl sei, wenn man heimlich allerlei Gegen stände, vor allem sogar Banknoten entwende. Da gebe es nichts zu sackeln. Da helfe der beste Wille nicht, mit Zeit und Ge- legenheit den ^Eigentümern ihre Ware zu vergüten. Das SchmÄewußtsein hat Christlieb all' oie Zeit her das Herz zu einem Bleiklumpen gemacht. Auch jetzt fragt er sich, was nun eigentlich werden soll. Seinen Posten als Schuh wichser am Bahnhof hat er natürlich verloren. Sein ihm von Gerichts wegen bestellter Anwalt meint, Christlieb werde vor- aussichtlich in die Bergheimat abgeschoben werden, sobald er seine Strafe abgesessen. Sein Ausflug in die Welt wurde also ein höchst unrühmliches Ende finden. Ihm graut vor daheim. Nicht vor den Bergen! Aber vor den Seinen und ihrem Emp fang und dem Wiederzusammenhausen mit ihnen. Was tut ei noch in der Welt? Was hat er in der Welt? Auch die Groß mutter Zurmühlen und die kleine Cilia werden nichts von ihm wissen wollen! Denen hat er am Ende nur Ungelegen heiten statt Nutzen gebracht. Heimlich schielt Christlieb jetzt nach den Zeugenbänken. Da sitzen sie alle, die an ihm zu Schaden gekommen, die ver schiedenen Händler, der Bankkassierer und der Wagendiener. Ganz vorn haben die Großmutter mit dem schönen glatten stillen Gesicht und dem feinen Weißen Haar und die Cilia ihren Platz. Und die Cilia ist wie ein Madönnlein. Es würde-Christ lieb nicht Wundern, wenn sie einen Heiligenschein um den blonden Kopf bekäme. Da kommt Bewegung in den Saal. Der Gerichtsschreiber liest Christliebs Sündenregister vor. Nach eigenem Geständnis habe Christlieb Kieliger alle möglichen Dinge entwendet, um sie seltsamer Weise einer armen Frau so verstohlen zuzustecken, wie er sie sich angeeianet. Ebenso erstaunlicher Weise habe er über alles eine eigentliche und genaue Rechnung geführt, auch, wiederum heimlich, zuweilen einzelnen Bestohlenen den Wert ihres Eigentums aus eigenen Mitteln, also aus seinem kleinen Verdienst als Schuhputzer zurückvergütet. Als das alles zur Kenntnis der Zuhörer gebracht ist, nimmt der Staatsanwalt das Wort und verbreitet sich über die Verwahrlosung der Jugend im allgemeinen und des Delin quenten im besondern. Kieliger, erzählt er, stamme aus der ärmsten Berggegend und von einer Säuferfamilie ab. Ein Zufall habe ihn in die Stadt geführt und ein glücklicher Zufall und die Menschenfreundlichkeit des Bahnhofsinspektors ihn Ver dienst finden lassen; aber schon sehr bald habe er lange Finger bekommen. Nicht die Verwendung des Gestohlenen falle nun aber in Betracht, sondern die nackte Tatsache des Diebstahls und die andere, daß der Schuldige niemals im Stande ge wesen wäre, Summen wie etwa die der Bank entwendeten hundert Franken zurückzuerstatten. Christlieb hört die Rede des Mannes im Talar und mit dem feisten bösen Gesicht wie von fern. Sie rollt gleichsam wie ein Donnerwetter über ihn hin und weckt ihn nicht aus seinen Zukunftsgrübeleien. Er glaubt dieses Rollen und Grol len noch zu v-rnehmen, als ihm Plötzlich ist, jemand rühme ihn. Dann erwacht er zu der Tatsache, daß jetzt sein Verteidiger am Worte ist. Freilich widerspricht dieser dem Ankläger, habe Christlieb gehofft, auch den größeren Betrag einmal wieder erstatten zu können, sei er doch mächtig sparsam gewesen und habe nichts je für sich behalten, sondern in einem seltsamen Taumel des Wohltunmüssens nicht nur verschenkt und ver schenkt, sondern gestohlen, um schenken zu können. Sei das nicht, so ruft der tapfere, junge, noch unverbrauchte Beamte und Mensch aus, das, was der haß- und neiderfüllten Gegen wart not tue, daß Menschen wieder diesen Hunger nach Guttat hätten? Christlieb wird seltsam zumut. Die Augen werden ihm heiß und schauen verwirrt und rädergroß, aber mit einer klei nen staunenden Hoffnung in den Saal. Da gewahrt er auf einmal, wie die Großmutter sich erhebt. Sie hat ein schwarzes Seidentuch um den Hals, und da steht sie fast wie eine Dame mit ihrem Weißen Kopf und ihrem stillen leidvollen Gesicht. Nur das verschlissene Kleid verrät ihre Armut. Und dann spricht sie: „Es war wie in einem Märchen. Immer wieder fanden wir auf Schwelle, Gesims und. im Flur all' diese Dinge. Und sie kamen immer gerade dann, wann sie am nötigsten Warrn." Sie hat ums Wort gebeten, weil sie noch etwas zu Christliebs Gunsten sagen wollte. Ein Murmeln bei fälligen Mitleids läuft durch den Saal. Christlieb bückt sich. Er ist gar nicht stolz und wäre am liebsten in ein Mauseloch geschlüpft, weil man ihn rühmt. ' Dann aber geschieht noch etwas viel Merkwürdigeres: Vor Christlieb tritt jetzt die kleine Cilia, schaut ihn an von oben bis unten, zum ersten Mal imstande, den zu betrachten, der in den vergangenen Wochen ihr höchstes Erstaunen und ihre größte Neugier geweckt hat. Und dann spricht auch sie: „Du bist aber ein lieber Mensch!" Ihr» Helle Stimme trägt es laut und deutlich, Wort für Wort durch den Saal. Die Sonne ist weiter hereingeströmt und liegt auf Cilias Scheitel, so daß man nicht mehr recht weiß, was Haar und was Goldschein ist. Christlieb staunt ihr ins Gesicht, aber er wagt nicht zu reden. Es scheint ihm letzt erst recht, es gehe nicht ganz mit richtigen Dingen zu mit der — der kleinen Heiligen, die da vor ihm steht. Wundert sich jemand, daß sie den Christlieb Kieliger frei sprechen? Wundert sich einer, daß nach Schluß der Verhand lung eine Hasse in der Menge entsteht und ein kleiner Zug sich der Tür zu bewegt: Die Großmutter und neben ihr ein hochgewachsener wohlwollend dareinschauender Herr, der ein Pfarrer ist und sich verpflichtet hat, für den von Christlieb angcrichteten Schaden aufzukommen, und der eben sagt: „Man muß sich seiner annehmen. Es wird schon wieder einen Posten für ihn geben." Ein Stücklein hinter den beiden kommt Christlieb. Er schaut wie verhert gerade vor sich hin ins Leere. Der überlange Rockärmel verdeckt die Hand der Cilia, die die seine hält. Jetzt fragt ihn das Mädchen: „Gelt, Du kommst aus den Bergen?" Er nickt. Und dann, als habe er Plötzlich noch einmal etwas gefunden, was er verschenken kann, antwortet er, ohne sich nach ihr umzusehen: „Mein! Das ist schön da oben! Ein mal, wenn ich Geld habe, an einem Sonntag, mache ich mii Dir eine Fahrt." Er meint nicht das Bettelaut, wo Eltern und Drude, Hausen, sondern die Halden mit den Steinen und Ziegen und die blaue Luft mit den Vögeln und den Wolken und die un- endliche Weite.
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