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Das Buch fiel zur Erde. Dumpf schlug es auf den Leppich auf. Bernd beachtete es nicht. Sein Kopf sank in die Kissen, ein belustigtes Lächeln legte sich um seine Lippen. Welch ein -Unsinn! Wie sich diese Schriftstellerin Menschen und Leben zurechtgestutzt hatte! Man müßte nur einmal spaßeshalber solch ein Experiment versuchen. Gas dabei wohl in Wirklichkeit herauskäme? Halb träumend spann er den Gedanken weiter. Über er schüttelte ihn schnell wieder ab; er, Bernd Heger, der gerissene Geschäftsmann, durfte sich den Luxus derartig romantischer gdeen nicht leisten. Er durchdachte nochmals alte Unordnungen, die er morgen vor Untritt seines alljährlichen Weihnachtsurlaubs geben mußte, und machte sich die wichtigsten -Notizen. Vann schlief er ein . . -Und die Gestalten des achtlos am Goden liegenden -Buches stiegen heraus, bemächtigten sich des wehrlos Träumenden, trugen ihn in eine fremde Welt. As Vernd beim Alfstehen aus den Gand trat, stieß er ihn ärgerlich beiseite. Das Ding legte sich ihm ja förmlich in den Weg mit seinem sentimentalen Kram. Gedanken drängten sich an ihn heran, die er bisher nie gehabt Ham, die ihn belästigten. Hatte er je gedacht, daß es für ihn etwas anderes geben könnte als Arbeit, leichtes Amüsement, gutes Essen, gute Kleidung? Wieso hatte er eigentlich mit seinen dretunddreißig gahren noch keine Frau? Luch darüber hatte er noch niemals nachgedacht. Vielleicht war die schlechte Ehe seiner Eltern daran schuld. Gernd war nervös und verstimmt, als er ins -Bureau kam. Vor dem Weihnachtsurlauv graute ihm immer ein bißchen. Meist war es herzlich langweilig unterwegs und er war froh, wenn dir Tage herum waren. Die Fröhlichkeit der Leute, die gerade zu Weih nachten in die Ferne entflohen, kam selten von Herzen, mußte häufig erst durch reichlichen Moyolgenuß ange facht werden. Aber was sollte er tun? Familie hatte er nicht, bei den verheirateten Freunden kam er sich an den Feiertagen wie ein Eindringling vor und mit den Unverheirateten in irgendeinem vergnügungsetavlisse- ment zusammenzutreffen, widerstrebte ihm. gn wenigen Minuten sollte der Zug abgeyen. Vernd stand auf dem Bahnsteig und der Gedanke des so allein Fortreisenmüssens war ihm plötzlich so quälend, daß er sich nicht dazu entschließen konnte. Er stand und sah dem davonfayrenden Zuge nach, ohne sich zu rühren. Was war nur mit ihm? Und auf einmal wußte er: Mochte es noch so dumm und verstiegen sein, er wollte es einmal so machen wie der Mann in dem Vuche. Er wollte Menschen suchen, gute, einfache Menschen. Und wenn es der Zufall fügte, daß er dabei eine gute, schöne Frau fand, dann - dann - wollte er sie heiraten. Vernd übergab seinen Koffer der Gepäckstcllc. So, das wärx erledigt! Was nun? Da mußte er zuerst mal seinen teüern modernen Überzieher mit einem schäbigen vertauschen. Zls eleganter Herr hatte Vernd Heger den Laden des Atkleideryändlers betreten; in einem schlecht sitzenden, schäbigen Mantel, ein großes Paket unterm Arm, die billige Mütze tief in die Stirn gedrückt, verließ er ihn, ohne einen -Slick für die neugierigen äugen des Verkäufers. Eine blaue -Brille vervollständigte seinen neuen äußeren Menschen. - Vun konnte das Spiel be ginnen.' Schwer auf den Stock gestützt, mit gebeugtem Rücken, betrat Vernd ein kleines Restaurant und setzte sich mühselig nieder. Vun würde der freundliche Wirt kommen, ihm einen bequemeren Sitz anbteten und nach seinen Wünschen fragen. Aber vorerst kam nur ein un freundlicher, schmieriger Kellner. Um ihn mitleidig zu stimmen, erzählte Vernd, daß er arbeitslos sei und fast zwei Tage keinen warmen-bissen genossen hätte. »Sagen Sie man lieber, was Sie haben wollen, dann geht's schneller,« meinte der Kellner. Vernd bestellte etwas -Billiges; und dann wartete er und wartete, sah, wie der Kellner hier und dort hinlief und Gäste bediente, die weit später gekommen waren als er. Eine halbe Stunde verging; und als er endlich kam, beugte er der Klage des schäbigen Gastes gleich mit der Mitteilung vor, daß er ja auch nicht zaubern könne. Auf -Bernds bescheidene Erwiderung, daß er ihm von vornherein nicht danach ausgesehen hätte, wurde er giftig und wollte wissen, wie das gemeint sei. Iber Vernd gab iymkeine Erklärung dafür, ließ das Essen stehen und ging hinaus. Dieses erste Abenteuer war entschieden mißlungen. Vor dem Fahrdamm blieb er in gebeugter Haltung stehen. Denn jetzt mußte ja das mitleidige Mütterchen kommen und ihn hinüberführen. Aber er bekam nur rechts und links kräftige Püffe, weil er im Wege stand. Eben trat eine junge Dame an seine Seite. Vernd machte einen Schritt vorwärts, ging aber ängstlich zurück, als ob er sich nicht hinüberwagte. Sicherlich war sie zu schüchtern, ihm ihre Hilfe anzubieten. Da mußte er wohl ein bißchen nachhelfen. »Ach, bitte, würden Sie wohl so gütig sein, mich hin überzubringen ?« Ein ärgerlicher -Blick traf ihn. »Mein Gott, müssen Sie denn gerade im größten Gedränge rüber, wenn Sie so schlecht gehen können?« Gernd stammelte, daß es ihm an anderen Stelten ebenso schwerstcle. Die junge Dame zuckte die Achseln, dann faßte sic mit den Fingerspitzen seinen Ärmel und zog ihn über den Fahrdamm. Bereits einen Schritt vor dem Bürger steig ließ sie ihn los. »So, nun können Sie schon allein weiter!« War es der ungewohnte, viel zu lange Mantel, war es die Grille, Vernd stolperte gegen die Stufe, taumelte und fiel gegen einen alten Herrn. Fast hätte er ihn umgerissen. Empört schrie ihn der gute Mann an, ob er denn ganz und gar betrunken wäre. -Und als Vernd das, ärgerlich über den schroffen Ton, entschieden ablehnte, brummte derFremde etwas von »Unverschämt heit« und »Polizei«. Schon sammelten sich einige Neu gierige um die beiden und Vernd zog es vor, sich unter den gegebenen Umständen zu drücken. gn schlechter Laune nahm er im nächsten Gasthof ein Zimmer, entschlossen, dem ganzen Unsinn schleunigst ein Ende zu machen. Er war eben nicht der richtige Mann dafür. Morgen würde er einfach wieder ins Geschäft gehen, denn die Lust zum Reisen war ihm auch vergangen. Am anderen Morgen, als Vernd gerade seinen guten Mantel wieder anzieyen wollte, kam ihm plötzlich blitz ähnlich ein Gedanke: er wollte einmal sehen, wie man sich in seinem Vureau ihm gegenüber in der Verklei dung benehmen würde. Gescheiden klopfte Vernd an die Scheiben des An melderaumes. Das Fenster flog hoch; Fräulein Müller fragte mit schnell abschützendem Glick nach seinem Gegehr. »Könnte ich wohl einen der Herren Chefs sprechen?« »gn welcher Angelegenheit?« »Es handelt sich um etwas Persönliches.« »Bedauere, wenn Sie es mir nicht sagen, kann ich Sie nicht melden.« Vernd schwieg und sah sich das Fräulein etwas ge nauer an - er kannte ja seine Angestellten so wenig. Seine -Betrachtung wurde durch das Herablassen des Fensters jäh unterbrochen. -Belustigt klopfte er von neuem an und abermals erschien Fräulein Müller, diesmal schon recht ungnädig: »Also bitte, was wünschen Sie? gch habe wenig Zeil.« Vernd mußte gegen seinen Willen lachen. Krachend flog das Fenster herunter und ein kräftiges »Unver schämtheit!« ertönte von drinnen. Da klopfte Vernd zum drittenmal. Vichts rührte sich und erst, als er ein rich tiges kleines Trommelfeuer aus die Scheibe eröffnete, hörte er Fräulein Müller rufen: »Elli, gehen Sie mal ran und schmeißen Sie den Kerl raus!« Vnd wieder hob sich das Fenster und Ellis bild hübsches Mädelgesicht erschien in dem Rahmen. Keck, aber nicht unfreundlich sagte sie: »Hören Sie mal, das dürfen Sie aber wirklich nicht!« Vernd machte ein betrübtes Gesicht, das Elli rührte. »Va, dann sagen Sie doch einfach, was Sie wollen.« »Hören Sir, Fräulein, ich wollte ghren Chef fragen, ob er keine Arbeit für mich hätte oder ob er mir nicht eine kleine -Unterstützung geben könnte!« Elli, der man gerade eine Gehaltsaufbesserung ab geschlagen hatte und die ohnehin wütend auf den Chef war, sagte verächtlich: »Da kommen Sie gerade an den Richtigen.« »Aber, Fräulein, Sic könnten ihn doch wenigstens mal fragen,« meinte Vernd etwas verdutzt. »Vee, Freundchen, wirklich — mit solchen Dingen dürfen wir ihm nicht kommen. Der hat nichts für andere übrig.« Dabei kramte sie in ihrer Tasche und legte zwanzig Pfennig auf die Platte. Denn senkte sich das Fenster. - Aber Vernd lachte nicht mehr, als er die Treppe yinunterging. Er war stutzig geworden; die Kleine hatte recht, tausendmal recht. Plötzlich klappte eine Tür, schnelle Schritte kamen die Treppe herunter, Elli war neben ihm und drückte ihm mit verlegenem Lächeln ihr Frühstückspaker in die Zand. Ehe Vernd danken konnte, war sie wieder weg. Das Personal war nicht sehr erbaut, als der Ches so unvermutet wieder Ms Vureau kam; die Stimmung war ohne ihn entschieden gehobener gewesen. Mittags, als die meisten zu Tisch waren, ging Vernd durch die Räume. Elli war allein im Zimmer. »gst denn keine der Damen mehr da?« fragte er scheinbar ärgerlich, »ich muß schnell etwas diktieren.« Trotzdem Elli sich gekränkt fühlte, erbot sie sich doch eifrig zur Aufnahme, und Vernd diktierte, hin und her wandernd, absichtlich mit besonderer Schnelligkeit. Iber kein Wort, kein -blick unterbrach ihn. Vnd als Elli ihm die Vriefe vorlegte, staunte Vernd über die sorgfältige Arbeit. »Wieviel verdienen Sie monatlich?« — »8oMark!« »Das ist nicht viel!« »Weiß Sott!« entschlüpfte es Elli. »gch will sehen, was ich für Sie tun kann.« Ein strahlendes Lächeln ging über das reizende Ge sicht. - Vernd nickte und Elli war entlassen. Er dachte nach. Er war bisher sehr stolz darauf gewesen, daß er mit den niedrigen Gehältern so durchkam. Vnd nun kam das-Überraschende: es gab Weih nachtsgratifikationen. Das war in diesem Geschäft noch nicht dagewesen. Aber das Erstaunen wuchs ins -Uner meßliche, als Herr Gernd Heger das gesamte Personal mit Zugehörigen für den zweiten Weihnachtsfeiertag zu einem zwanglosen Zusammensein in einen kleinen Saal der »Alhambra« einlud. Die Mutmaßungen nahmen kein Ende. Vernd fühlte sich jung und froh, als er am Abend noch einmal alles für das kleine Fest überprüfte, und seine einzige Sorge war, daß die Kleine verhindert sein könnte. 3ber diese Sorge wurde schnell zerstreut, denn sie war eine der ersten, die kamen. Wie frisch und reizend sie aussay in dem einfachen weißen Kleide mit der Rose im Gürtel! Vach und nach kamen auch die anderen und die erst etwas abwartende Haltung der Gäste wurde bei dem vorzüglichen Essen, den guten Weinen und -Bernds freundlicher Ansprache bald natürlich und ungezwun gen. Vnd als nach Tisch eine kleine Kapelle zum Tanz aufspielte und Vernd als erster mit der kleinen, rund lichen Frau des Prokuristen davonwalzie, die anderen aufmunternd, seinem -Beispiel zu folgen, brach unge hemmte Fröhlichkeit durch.— Als Vernd später Fräu lein Müller zu ihrem Platze zurückführte, fragte er un vermittelt: »Sagen Sie, Fräulein Müller, hat in meiner Ab wesenheit niemand nach mir gefragt?« — »Vein, außer einem zudringlichen Vettler niemand.« Gerade kam Elli dazu. »Der arme Kerl!« sagte sie bedauernd. Vernd legte den Arm um sie und tanzte mit ihr davon. »Warum .armer Kerl', Kindchen?« - »Ich, der hat bestimmt einmal bessere Tage gesehen! Er sah so intelligent aus!« Bernd nahm dir Kleine fester in den Am. »Wie heißen Sie eigentlich mit Vornamen?« - »Elli!« - »Wie alt sind Sie, Fräulein Elli?« - »Veunzehn.« »Ich, so jung? Iber trotzdem haben Sie gewiß schon einen Freund oder sind gar verlobt, nicht wahr?« »Er ist bestimmt beschwipst!« dachte Elli. Aber ihr selbst war ia auch so selig zumute. Vnd als Bernd wiederholte: »Va, wie steht's mit dem Freund?« antwortete sie keck und fröhlich: »gch bin nicht verlobt, ich bin nicht verliebt und lL hab' keinen Freund.« »Hören Sie, Fräulein Elli, wie wäre es, wenn Sie mich zum Freunde nehmen würden?« - Er führte sie an ein kleines Tischchen. Aller Frohsinn war plötzlich aus Ellis Zügen gewichen. Diesen Vorschlag kannte sie , es war nicht der erste, der ihr gemacht wurde. Aber von ihm, den sie soeben in ihr Herz geschlossen, hätte sie ihn nicht erwartet. Sie sind alle gleich, dachte sie traurig. Alle. Bernd iah erstaunt die Veränderung, die mii ihr oorgtng. »Vm Gottes willen, Kind, verstehen Sie mich nicht falsch! gch meinte es ehrlich mit der Freundschaft, gch konnte Sie doch nicht gleich fragen, ob Sie mich heiraten möchten!« Vnd sein Ton war so überzeugend, daß das unverdorbene Kind die Echtheit fühlte Bernd reichte ihr die Hand: »gch bringe Sie nachher nach Hause; da können wn weiter darüber reden!« Dann ging er zu den anderen und Elli wußte nicht, ob sie weinen oder lachen sollte. Iber ihrem Vamrell gemäß entschloß sie sich für das letztere und bald tollte sie mit den Kollegen lustig herum. Mitternacht war längst vorüber, als man endlich aufbrach. - Die Angestellten machten große Lugen, als Bernd mit der Kleinen davonging. Er sprach nicht, nahm nur ihren Arm unter den seinen, und sie wagte cs nicht, ihn ihm zu entziehen. Iber ein Wunsch wuchs in ihr empor, groß, übermächtig: daß doch dieser Weg nic, nie ein Ende nehmen möchte. Ach, nicht denken, nur nicht denken! Morgen würde m doch alles wieder zu Ende sein! Schweigend gingen sie wohl eine halbe Stunde die Kreuz und die Huer, vis Bernd sie endlich nach Hause führte. Er meinte, niemals vordem so froh gewesen zu sein. Endlich wandte er sich dem Mädchen zu und sah sie an; ihre Augen leuchteten. . »3n was denken Sie, Fräulein Elli?« - »gch denke an nichts!« sagte sie und es klang, als ob sie sänge. - »Möchten Sie nicht recht ernsthaft einmal an etwas denken bis morgen früh?« »3n was soll ich denken?« Sie standen jetzt vor Ellis Haustür. »Denke daran, ob du meine Frau werden willst!« Der öausschlüssel klirrte zu Boden; Bernd hob ihn auf und öffnete die Tür. »Sage jetzt nichts! gch werde dich morgen um die Antwort fragen.« Er drückte ihr ein kleines, schön umvundcncs Paket, das er aus der Tasche gezogen hatte, in die Hand und schob sie sanft ins Haus. Wie eine Schlafwandlerin ging Elli die Stiege hinaus, wie im Traum löste sie in ihrem Zimmer die Schleift von dem Päckchen und starrte auf die dicken Wurst- und Käsestullen, die darin lagen, ghr war es, als ob ihr Herz einen Moment aussetztr. Vnd mit einem Schlage Ham sie alles begriffen! Konnte man so glücklich, so namen los glücklich sein? So kam es, daß die kleine Elli Menzel Bernd Hegers glückliches Weib wurde.