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Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt. — Nr. 117 — Donnerstag, 23. Mai 1929 Das ttuckucksei Der Fink hat sich ein Rest gebaut Im dichten Laubgewinde. Ein iKuckucksweibchen dies erschaut. Und denkt, „gut, daß ich's finde." Nach einem kurzen Liebesspiel Legts Finkenweibchen Eier, Der Kuckuck denkt ich bin am Ziel, Auch ich halt' einen Freier. Und legt dabei in alter Ei! Ein Ei von sich daneben, Und denkt, es mag den weitren Teil Ein andrer übernehmen. Der junge Kuckuck mühte sich, Aus seinem Ei aufs beste, Spricht: „Hier das meiste Recht hab ich", Schiebt andre aus dem Neste. Er wächst nun auch gar schnell heran, Das Finkenpaar schafft Futter. Kaum daß er Matz noch finden kann, Da spricht die Finkenmutter: „Hier muß etwas nicht richtig sein Mit dem erzognen Kinde". Da fängt der Kuckuck an zu schrein, Hüpft aus dem Nest geschwinde. G. Zieschang. Mich lmd Länder. Dr. Held über die Zuständigkeiten. Der bayerische Ministerpräsident Dr. Held hat ein Referat zur Frage der Zuständigkeitsverteilung zwischen Reich und Ländern der Öffentlichkeit übergeben. Die Aus führungen betonen, daß für die Lösung der behandelten Probleme der Gedanke bestimmend fein müsse, auf welcher Verfassungsgrundlage die Einheit und Wohlfahrt des Reiches am besten verbürgt werden könne. Nicht eine bayerische oder preußische Frage liege vor, sondern eine deutsche Frage. Dr. Held tritt für eine klare und feste Scheidung der Auf gaben und Zuständigkeiten zwischen Reich und Ländern ein ünd sagt, nicht die Quantität, sondern die Qualität der Zuständigkeit sei entscheidend. Gegenüber dem Ge danken, den Einheitsstaat durch Volksabstimmung herbei zuführen, betont Dr. Held, daß eine so fundamentale Grundlage des Reiches wie sein bundesstaatlicher Charakter nicht zu jenen Elementen gehören dürfe, die auf diesem Wege geändert werden können. Auf dem Gebiete der Gesetzgebung wird Abgrenzung der Zuständigkeit und Sicherung der Abgrenzung ge fordert. Der Reichsral müsse gesetzgeberische Bedeutung bekommen. Den größten Naum des Referats nimmt das Verwaltungsproblem ein, wobei die Neichsauftragsver- waltung abgelehnt wird mit der Begründung, daß sie die Länder unter die Kommandogewalt der Reichszentrale stellen würde. Auf finanziellem Gebiet wird Scheidung der Steucr- quellen und Überlassung der Einkommensteuer an die Länder zur selbständigen Ausschöpfung gefordert. Hin sichtlich der Außenpolitik bezeichnet Dr. Held eine stärkere Einschaltung der Länder auf dem Wege über den Reichs rat als wünschenswert, wenn auch die Außenpolitik als solche Sache des Reiches bleiben müsse. Botschafter Schurman IS Lahre. Allgemeine Ehrungen. Reichspräsident v. Hindenburg, Reichskanzler Müller und Reichsaußenminister Dr. Stresemann übersandten dem amerikanischen Botschafter Schurman in Berlin, der das 75. Lebensjahr vollendete, herzliche Glückwunsch schreiben mit Blumcngebinden. Die Stabt Heidelberg Kat ihrem Ehrenbürger Schurman eine in Pergament Seine blinde Fran Originalroman von Gert Nothberg. 8. Fortsetzung Nachdruck verboten „Was? Das wäre!" Morland richtete sich erschrocken auf. ! Dann lachte er: „Ach nee, sie ist Vaters Tochter, eine gute i Position in der Welt ist alles. Und Ethel wird wissen, was ! sie will." Damit erhob er sich. „Uebrigens, Herr von Cschin- ! gen bringt einen Freund mit, von Caldern, Bildhauer, wenn ich nicht irre. Soll ein tüchtiger Kerl sein. Na, flrw j Künstler immer angenehm. Nun will ich gehen, liebe Alice, deine Gesellschafterin und Tom bringen dich hinunter.' : Seine breite Gestalt verschwand in der Tür. Frau Morland aber faltete still die Hände. „Lieber Gott, laß mein Kind glücklicher werden als ich es war. Es ist so schwer, einen Menschen, den man liebt, an einen anderen ' Menschen zu verlieren, viel schwerer, als wenn der .rod ! einein das Liebste entreißt." Unten in dem prachtvollen Empfangssalon begrüßte Mor land seine Gäste. Ethel vertrat die Herrin des Hauses mit allerliebster Würde. Ganz reizend verlegen aber ward das flotte Sportgirl, als eine hohe Männergestalt vor ihr stand. „Mein gnädigstes Fräulein, meinen untertänigsten Glück- , wünsch zum heutigen Tage." Er küßte ihr die Hand und ! überreichte ihr einen Strauß süßduftender Nosen. Sie glühte von einem kleinen Ohr zum andern, als sie das Stumpfnäschen in den Strauß versteckte. Dann schüttelte ? sie ihm die Hand. „Vielen Dank." Eschingen wandte sich zur Seite. „Hier, Miß Morland, > wenn Sie gütigst gestatten, hier ist auch einer, der einen Glückwunsch und ein Sprüchlein aufsagen möchte. Mein Freund Salbern, wenn Sie sich gütigst an ihn erinnern." Ethel schaute fröhlich in die dunklen, intelligenten Augen ! des Bildhauers. Dann reichte sie auch ihm die Hand, die er ürit tiefer Verbeugung küßte. Nun näherten sich noch andere gebundene Mappe zugehen lassen, welche zwei seltene An fichten Heidelbergs aus der Zeit der Romantik, zwei Originalfarbstiche von Johann Jakob Strüdte aus dem Jahre 1800, enthält. Reichspräsident v. Hindenburg ha; dem Botschafter sein Bild mit eigenhändiger Unterschrift übersandt. * Schurman bei der Kantgesellschaft. Botschafter Schurman, der u. a. zum Ehrenmitglied ver Kantgefellschafl ernannt worden war, hielt bei der Feier ver Kantgefellschafl in Halle a. S. eine mit leb haftem Beifall aufgenommene Ansprache. Er begrühu oie Gesellschaft im Ramen der amerikanischen Mitglieder und dankte für die Ernennung zum Ehrenmitglied. Eine kantische Schule habe es zwar in den Vereinigten Staaten von Amerika nicht gegeben, aber schon um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts herum seien dort mehrere von Kants Geist erfüllte Gesellschaften entstanden. Die Satzun gen des Völkerbundes und der Kellogg - Ver trag seien von komischem Geist erfüllt. Als natürliche Folge des Kellogg-Vertrages werde jetzt schon die Möglich keit der Herabsetzung der Rüstungen angesehen. Kan; schon habe eingesehen, daß der ewige Friede eine Auf gäbe darstelle, die nur stufenweise zu lösen sei, und deren Ziel dauernd näherrücke. Der Botschafter schloß mit den, Wunsche, daß es der Kantgesellschaft vergönnt fein möge diese fortschreitende Bewegung zu beschleunigen. Die Kleins Enienis. Abschluß eines Schieds- und Vergleichsvcrirages. Die in Belgrad versammelten Außenminister der drei Staaten der sog. Kleinen Entente. Tscheche- slowakei, Jugoslawien und Rumänien unterzeichneten soeben nach längeren Verhandlungen einen Schieds- und Vergleichsvertrag, über dessen Inhalt folgendes bekamrtgegeben wird: Die Minister prüften insbesondere die Beziehungen ihrer Staaten zu den Nachbar- und Grenzstaaten und stellten dabei fest, daß diese Beziehungen sich normal ent Wickeln. Darauf erörterten die drei Minister auf Grund der vom Völkerbund hierfür gemachten Empfehlung die Frage eines allgemeinen Schieds- und Vergleichsver- trages zwischen ihren Staaten. Dieser allgemeine und sür die drei Staaten gemeinsame Vertrag wurde unter zeichnet. Ferner wurden Protokolle unterzeichnet, durch die die übereinstimmenden 'Bündnisverträge verlängert werden. Feslzug "> Eisenach, veranstaliei beim „Wartburgfest der Deutschen Republik". — Unser Bild zeigt den Festzug, mit dem das Wartburgsest ab schloß, beim Passieren des Karlsplatzes in Eisenach. Links das Luther-Denkmal, im Hintergrund die Nikolaikirche. Erster Ausgang des Papstes. Ein historischer Augenblick. Am 30. Mai wird sich in Rom das große Ereignis vollziehen, daß der Papst nach der vollzogenen Einigung zwischen der italienischen Regierung und der Kurie zum erstenmal die Mauern des Vatikans verlassen nnd die römischen Straßen betreten wird. Den Anlaß dazu wird die an diesem Tage stattfindende Fronleichnamsprozesston bieten, die sich aus der Peterskirchc über den Petersplatz bewegt. Papst Pius XI. wird an ihr teilnehmen, mdem er das Allerheiligste aus der Kapelle der Sakramente zu Fuß unter einem Baldachin persönlich in der Prozession trägt. Vor der Freitreppe der Peterskirche wird der Papst dann der versammelten Menge den großen Segen erteilen. An der Prozession nehmen u. a. alle in Rom weilenden Kardinale, Erzbischöfe und Bischöfe sowie die Kapitel der großen römischen Basiliken teil. Italienische Truppen werden in vierfacher Linie um die Kolonnaden und an der Grenzlinie des vatikanischen Territoriums ausgestellt, im ganzen 10 000 Mann. Der „Menschensrefferprozeß". Die Zigeuner beschuldigen sich gegenseitig. Im Kaschauer Zigeunerprozeß dürfte, wie es sich schon am zweiten Verhandlungstage zeigte, die Er mittlung der Wahrheit mit großen Schwierigkeiten ver bunden sein, da alle Zigeuner ihre Beteiligung an den ihnen zur Last gelegten Verbrechen strikt ableugnen, sich aber gegenseitig verdächtigen und vor keiner Lüge zurück schrecken. Einer der Zigeuner, von dem sein „Hauptmann" behauptete, daß er an einem Raubmorde beteiligt gewesen sei, konnte sofort Nachweisen, daß er zu der Zeit, als dieser Mord begangen wurde, im Kaschauer Krankenhause ge legen habe. Die „Menschenfresserei" wurde während der Ver handlung wieder nicht erwähnt, aber der Zigeuner Ftlke erklärte in einer Vcrhandlungspause auf Befragen, daß sie alle im Topf gekochtes Menschen fleisch gegessen hätten und daß es sehr gut geschmeckt habe. Der Vorsitzende teilte mit, daß er einen Psychiater als Sach verständigen laden wolle. * Kannibalismus. Mitten im zivilisierten Europa stehen gegenwärtig j neunzehn Menschen unter der ungeheuerlichen Änschuldi- ? gnng, das Fleisch anderer Menschen gefressen zu haben, - vor Gericht. Man erinnert sich vielleicht, daß vor einigen ! Monaten so Furchtbares auch von einem hochgebildeten j und gesellschaftlich hochstehenden Manne, von einem Mit- ! gliede der Nobile-Expedition, gemunkelt wurde, und daß ! cS Leute gab, die das glaubten, aber mit höchster Not zu j entschuldigen suchten; der Mann von der „Italia" sei dem gräßlichsten Hungertode nahe, gewesen und habe fein Leben ; erhalten wollen Von den Zigeunern aber, die sich jetzt in Kaschau zu verantworten Haven, wird behauptet, daß sie nie in Noi gewesen seien und daß ihnen andere Nah rungsmittel als Menschenfleisch reichlich zur Verfügung gestanden hätten. Sie hätten Menschenfleisch also einfach aus einer gewissen tierischen Gier oder, weil es ihnen besonders gur geschmeckt haben mag, hinuntergeschlungen. Das braucht aber nichl der einzige, ja nicht einmal der Hauptgrund gewesen zu sein. Man weiß nämlich, daß bei den „richtigen" Menschenfressern, die es noch gibt, die treibenden Motive des Kannibalismus' meist Nachsucht und Aberglaube sind. Die Rachsucht stachelt zur völligen Vernichtung der Leiche des Feindes an und nach der abergläubischen Vorstellung gehen Stärke und Mut und alle guten Eigenschaften des Gelöteten auf den über, der sein Fleisch genietzl. Es ist leicht möglich, daß auch die Zigeuner von Kaschau, die sich leicht anderes Fleisch hätten verschaffen können, in solchem finsteren Wahne lebten. Es sei noch gesagt, daß der Name „Kannibale" von dem durch die spanischen Entdecker Amerikas fälschlich als „Canibal" gehörten Worte „Caribal" oder „Caride" stammt: die Kariben auf den Antillen waren nämlich be rüchtigte Menschenfresser. ( PEisGr liunÄM-u Deutsches gleich Die schwierige Lage Ostpreußens. Bei der 10 0' Ja b r. F e l e r der Staats- und Universitätsbibliothek ,n Königsberg „ielt Obcrpra,-^ eine Rede, in der er den Glückwünschen der preußischen Staatsregierung und ver ostpreußischen ^etchs- und Staatsbehörden Ausdruck verlieh und u. a. sagte: Uber die schwierige Lage unserer Provinz sowie Uber die außerordentliche Bedeutung Ost. vreußens für ganz Deutschland und über die Notwendigkeit, der vom Reiche abgeschnürten Provinz helfend beizu- stehen, ist in letzter Zeit soviel in der Öffentlichkeit ge sprochen und geschrieben worden, daß man wohl sagen Gruppen, und schließlich saß Frau Morland in ihrem weichen Assel, so daß sich nach und nach ein dichter Kreis um sie scharte. Als Gipfel der Festlichkeit war das Auftreten einer ge stierten Primadonna anzusehen. Welche ^MEmen Mor land ihr geboten, ihr Erscheinen in seinem Haust zu errei chen, das wußte nur er. Maria Sorta, eine Spanierin von Geburt, war von einer bezaubernden Schönheit! Man hätte sie wohl nicht leicht sür eine Spanierin gehalten. Rotblondes Haar umgab ein fchönes ovales Gesicht, die großen goldbraunen Augen schim merten in seltenem Glanze. Die Gestalt war voll, doch eben mäßig schlank. Im Moment war die Sorta von einem Schwarm Men schen umgeben. Mit dem immer gleich liebenswürdigen Lächeln war sie freundlich, zugleich zurückhaltend gegen jeder mann. Plötzlich blieben die schönen Augen an Eschingen haften. Man sah das leichte Interesse der gestierten Sän gerin und beeilte sich, den großen schlanken Deutschen ihr vorzustellen. Sie wechselten einige Worte. „Ich liebe Deutschland," sagte die Sorta, „ich habe eine Zeit dort studiert bei einem berühmten deutschen Gesangs- Er sagte ihr einige artige Worte. Dann kam der Augenblick, wo Morland die Künstlerin zum Flügel führte. Eine erwartungsvolle Stille trat ein. Ein älterer Künstler mit gustm Namen saß am Flügel. Präludierend erklangen die ersten Töne. Dann setzte die Frauenstimme ein. Es war totenstill geworden. Maria Sorta sang so herrlich, wie Eschingen noch nie mals eine Frauenstimme singen gehört. Bald schluchzend, bald jubilierend, in den höchsten Tönen, der Nachtigall glei chend, so sang die schöne Frau. Als die Künstlerin geendet, brach ein rasender Beifalls sturm los. Selbst die Rücksicht auf die Hausfrau fiel vor dieser göttlichen Kunst. auch Frau Morland saß weltentrückt im Sessel. Ihr ronien immer noch die wunderbaren Töne im Ohr, als diese ichvn längst verklungen. Sie hatte Tränen in den dunklen ^gmi. „Warum habe ich mich vor der Welt vergraben? Wie oft hätte mich solches Singen meine Leiden vergessen lassen." Sie dankte der Künstlerin mit warmen Worten. „Es ist mir eine große Freude, Ihnen einen Genuß ver- schafft zu haben, Mistreß Morland," sagte Maria Sorta ernst und ruhig. Bald verlangte Frau Morland nach Nuhe. Kurz vor Be ginn der Festtafel wurde sie wieder in ihr Zimmer gebracht. Herzlich hatte sie sich verabschiedet und gebeten, ja recht fröh lich zu sein an; Namenstage ihres Kindes. Bald ging es denn auch fröhlich und laut an der mit allen Delikatessen besetzten Tafel zu. Maria Sorta saß neben Morland, nicht'weit davon schräg gegenüber Eschingen und Salbern. Diesen gegenüber Ethel und Bridgetbrooke. Die wafferblauen Augen des Eng länders gingen gelangweilt umher. Er aß nur wenig und unterhielt sich nur, wenn er angesprochen wurde. „Du," flüsterte Saldern dem Freunde zu, „sieh dir das an. Sieh dir das bloß an, sag ich dir. Ich möchte dem Kerl diesen Tafelaufsatz auf den Kopf werfen. Nur damit er mal aus seiner ewigen steinernen Nuhe aufgestöbert wird." „Das würde dir. nicht viel helfen, mein Lieber," sagte Karl Heinz. „Der Engländer würde dich mißbilligend an sehen und die Orangen und Trauben abschütteln." „Nee, du, boxen würde der, und dann wäre ich vor Ethel unsterblich blam ert. Denn ich müßte mir wehrlos den Ma gen bombardieren lassen." Plötzlich gab es Saldern einen Ruck. Ethels klare Stimme richtete ein paar Fragen an ihn. Saldern war selig. Er zwickte Karl Heinz vergnügt. Dieser aber hörte und sah nicht. Er blickte selbstver gessen in die Augen der schönen Maria Sorta, welche gleich falls in die feinen blickten mit einem Ausdruck, den er nicht enträtseln konnte. (Fortsetzung folgt.)