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8onn«ags-8eiiage Nr. 14 LMsHruNer cageblatt IS. 4. IY2Y VW«tN aus dkl PUMlstM. Die Melancholie der Kaiserstadt. — Geschichten, Legenden und Aberglaube. — Der „Freudenhügel" und der „Kohlenhügel". — Das Schweigen des Vergessens. — Von A. Rey. (Berechtigte Uebersetzung von A. U c c e l l i - Mailand.) Im lächelnden Peking, der Stadt des heiteren Herzens, herrscht eine unstillbare Sehnsucht, eine unbeschreibliche Er wartung und Hoffnung, die dem unwissenden Fremden im bleiernen Legationsviertel verborgen bleiben. Erst außerhalb desselben zeigt sich ihm die schwermütige Erhabenheit des roten, kaiserlichen Vierecks, der verbotenen Stadt, die kein Laienauge vor der Revolution von Nanking erblicken durfte. „Ueber die Schwellen der Paläste dringt der Duft der Gastmähler, während in den Straßen Kälte und Tod unbe schränkt herrschen." So sang vor zwei Jahrhunderten ein unwilliger Volksbarde, und noch heute scheinen seinen Worten die hundert sunkelnden, spitzen Dächer mit ihrer goldenen Einfassung recht zu geben, wenn das Auge über den maleri schen Prunk dieses Schauspiels schweift. Bollwerke strecken sich kilometerlang mit ihrem prunk haften Schmuck und ihrem vergoldeten Majolikarand, wäh rend unten, im ewigen Staube der Straßen, schmutzige, flehende Bettler, von den kurzen Stangen der schweren Wagen gequälte Maultiere und Pferde, hoch bepackte Kulis herum ziehen, die, gebeugt unter der an einer schwankenden Stange getragenen Last, mehr einem Tier als einem Menschen gleichen. Meerespaläste, Winterschlösser, Weiße „Dagoba", Freu denhügel. Der Prachtaufwand der Medizäer, verbunden mit der Anmut von Versailles, rufen diese Namen in die Erinne rung zurück und lassen uns die Flut menschlicher Pein ver- gefsen, die am Rande des wunderbarsten Kaiserbesitzes haust. Einen prunkhafteren zu errichten, hatte selbst Katherina von Rußland vergebens versucht. Mehr als jedes andere kaiserliche Symbol bewahrt die verbotene Stadt die Spuren der göttlichen Sendung ihrer Herrscher. Deren unermeßliche geistliche Macht, die Ueber- lieferung ihrer göttlichen Abstammung, das Alter ihrer Amts würde und die tiefempfundene Achtung des Volkes, dies alles zeigt sich nirgends so klar wie in diesem Verbot, das Gesetz und Religion schien und vor allem eine wunderbare Erkennt nis des Geheimnisses um die menschliche Macht bewies. Der Einfluß der verbotenen Stadt war mächtig, so lange die dem Volke verschlossenen Flügel der monumentalen Tore unüberschrittene Grenzen des Erkennbaren darstellten. Auch heute beugt sich vor dem Diener Gottes jedes Knie in den eines Michelangelo würdigen Gewölben, und seine voll kommen geistig gewordene Macht lebt noch in Peking inner halb der Purpurmauern, die einstmals den Kaiser und das Religionsoberhaupt vom Volke trennten, wie die Große Mauer sein Reich von der übrigen Welt abschloß. Aber nur üe Neugierde umschwebt noch den leeren Thron, und im Staube liegen Thiara und Schwert, Zeichen seiner zwei- achen, jetzt verschwundenen Macht. Mauern folgen Mauern, begegnen und kreuzen einander und hören erst an den Usern der drei Meere auf. Rote, massiv gebaute Außenmauern, an den Vorsprüngen mit Türmchen geschmückt, spiegeln sich im Wasser der Gräben wider. Kleinere, innere Mauern trennen den heiligen Purpur palast vom Park und diesen von den Winterschlössern, die zwischen künstlichen und mit Blumen bedeckten, kleinen Felsen, Hügeln und Seen zerstreut liegen. Bleierne Mauern erheben sich um die lichten Gewässer der Südsee, wo die rosa Lotos blume blüht. Dort, auf der „Terrasse am Ozean", einer runden Insel mit goldenen Pavillons, sand ein unglücklicher Kaiser die traurigste und „Parfümierteste" Verbannung. Den Meen entlang erheben sich zwischen den Baumen ms Wiesen, Gewässern und heiligen Winkeln der Purpur- mauern kaiserliche Schlösser, Kasernen, Theater, Bibliotheken, Empfangssäle und Wohnhäuser für die Hosleute. Es sind dies wunderbare Zellen in einem wunderbaren Gefängnis, alle einander im Profil durch die mutwillige Krümmung der Dächer ähnelnd, alle mit den gleichen, sonderbaren Majolika- Ungeheuern, die auf hohen, weißen, steinernen Gestellen über vie Dächer zu wachsen scheinen, von zerbrechlichen, zart blü henden Veranden umgeben. Geschichten und Legenden, Glaube und Aberglaube um geben diese ungeheure Einförmigkeit, die wir den Jahrtausend lang geltenden architektonischen Vorschriften verdanken und die nur durch die Brücke der zehntausend Jahre unterbrochen wird. Diese tritt scharf mit ihren originellen, im Zickzack ge haltenen Linien hervor, die angeblich die bösen Geister ver scheuchen. Traurig stimmt der Weg, der von der Brücke 'mit den Trauerweiden hinauf zum privaten Theater führt. Die letzte Dynastie erbaute das Theater aus dem Wasser, damit die gellenden Stimmen der Schauspieler etwas abgeschwächt klängen, und gab ihm einen vertraulichen Charakter, zu dem die große, herrliche, kaiserliche Loge, ein prunkvoller Saal mit wollüstigen Alkoven, in merkwürdigem Gegensatz steht. Die Erinnerung an Tsu Hsi, die letzte aus der der Dynastie der Mingh, belebt es noch. Scharf tritt die Figur dieser Frau aus ihrer Umgebung hervor: Regierende Kaiserin, Anstifterin des Boxerkrieges, verband sie den Verstand eines Mac Chia- velli mit dem Sadismus der Borgia. Auf der Rückseite gelangt man in den Hof zum Thron saal uno erblickt im Hintergrund den Thron selbst, der aus der Ferne gesehen einem Würfel aus braunem, geschnitztem Sandelholz ähnelt. Den Eintritt bewachen zwei stolze, eherne, in lebhaften Farben emaillierte Löwen. Die reizende Anmut der in den Thron geschnitzten Allegorien strömt einen warmen Geruch von kostbarem Holz aus und verbreitet in der Lust die Lockung des Lebens und der Liebe. < Als letzter aber hatte der Tod dort geherrscht. Dort oben, auf dem prunkvollen Thron, wollte die ster bende Kaiserin ihrem Schicksal trotzen und verlangte mit der hieratischen Haltung ihrer Ahnen, daß der Dalai Lama ihr schweigend huldige. In den heiligen Gewändern kniete der lebende Buddha Prachtstrotzend vor dem Symbol der höchsten Macht des Him mels, aber der blitzschnelle Tod machte dem Spott ein Ende. Ein heiserer Schrei brach das Schweigen, und der asiatische Papst rref den bis zur Erde gebeugten Eunuchen zu: „Seht! Zu den neuen Quellen ist die Seele entflohen!" Um den Mund der Kaiserin spielte hohnlächelnd die schreckensbleiche Grimasse des Todes. Draußen lacht heiter das Leben. Jenseits der Jiada- brücke, zwischen den Oleandersträuchen, verscheucht der weniger menschliche, sagenhaftere Ruhm Khan Kubilai's die traurigen Gespenster. An den Ufern des Nordmeeres verbleibt im Palast des großen Khans, der Kappe des mongolischen Kaisers, ein Widerhall silberner Trompeten bewaffneter Herolde, und die nackten Mauern scheinen den alten Glanz der damaligen Zeiten zurück rufen zu wollen, deren barbarischen Prunk Marco Polo uns beschrieben. Ein ewiger Zauber geht von den behauenen, grauen Steinen aus, von den Lianen, die liebkosend den gesprungenen Marmor der zerschlagenen Terrassen schmücken, von dem Schatten der Golddächer über dem hellblauen Wasser, von der ungeheuren Loto, die als Wächterin den See beherrscht. Wir befinden uns in der Weißen Dagoba, dem keuschen Tempel Buddhas. Die ehernen Dämonen, durch Schwäne dem Be fehl Buddhas unterworfen, die unzähligen Arme der Idole mit drei Gesichtern, die sich von ihrer Weißen Basis, von der Erde, dem Wasser, dem Feuer, der Luft und dem Aether