Volltext Seite (XML)
Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt,-Nr. 210 — Donnerstag, den 8. Sept. 1927 Tagesfpruch O, ziehe aus dem Weltgetümmel Dich glücklich in dich selbst zurück: In' deinem Glauben ist dein Himmel, In deinem Herzen dein Geschick. Arndt. ToSsÄchiigs zmö Polizei. Der Fall Claus in der Kriminalgeschichte. Die Tragödie Non Niedermöllrich bei Kassel, die prit denk Tod des Verbrechers, eines Landjägers und der Ver wundung mehrerer Polizisten durch die Schießerei des tob süchtigen Wilddiebes Claus endigte, steht in der deut schen KriminalgesthichLe ziemlich einzig da, denn Claus kämpfte gegen eine 30sache Übermacht. Dazu kam, daß die Polizei Handgranaten, Maschinengewehre und ein Kan- zerauio zur Verfügung hatte. Die Polizei versichert, daß Praktisch kein anderes Mittel als die brutalste Einsetzung des geschilderten großen Apparates zur Unschädlich machung des Mörders geführt hätte, der dis ganze Be wohnerschaft des Dorfes in Lebensgefahr brachte. Ein ähnlicher Fall ereignete sich einige Jahre vor dem Kriege in einem Dorfe bei Stuttgart. Dort verbarrika dierte sich der wahnsinnig gewordene Hauptlehrer Wagnerin ähnlicher Weise wie Claus, kämpfte wie ein Löwe und töteteimKampfüberzwanzigZivi- l ist e n u n d B e a m t e, bis er schließlich unter den An griffen der Übermacht zusammenbrach. Der älteste und bekannteste Fall dieser Art ist der des sogenannten „Fort Chabrol". Der rechtsstehende franzö sische Politiker Jules sollte im August 1899 in seiner Wohnung in der Rue Chabrol in Paris verhaftet werden. Gleich Daudet wehrte er sich dagegen auf das entschie denste, verbarrikadierte sein Haus und hielt die ganze Um gebung unter Feuer. Er mußte 38 Tage lang belagert werden, bis er zur Kapitulation gezwungen werden konnte. Im Jahre 1912 war Paris abermals Schauplatz eines solchen Kampfes. Zwei Apachen hatten sich in einem Pa villon verschanzt und empfingen die Polizei mit Revolver feuer. Melinitbomben und primitiv hergestellte Hand granaten nützten gegen die zwei Leute nichts, ein ganzes Bataillon Zuaven auch nicht, so daß die Polizei zur Attacke überging und den Pavillon unter Verlust von zwei Mann stürmte. Unter Matratzen, die von zahlreichen Gewehr schüssen durchlöchert waren, fand man die beiden Apachen tot auf. Auch in London spielte sich im Jahre 1911 ein Vorfall ab, der dem Pariser ähnelt. Zwei Diebe, die einen Ju welenladen ausgeplündert hatten, hatten sich in einem Hause in Whitechapel, dem englischen Verbrechervierteh verschanzt und wurden von tausend Polizeibeamtcn und Soldaten, die sogar mit drei Kanonen anrückten, belagert. Das Haus ging in Flammen auf und unter den Trüm mern fand man die verkohlten Leichen der Belagerten. Wahnsinnstat im AnwaSisbureau. In Newyork erfolgte in dem Bureau eines bekannten Rechtsanwalts, das sich in einem der höchsten Häuser der Ltaot befindet, eine Schreckensszene, wie man sie kaum jemals erlebt hat. Einer der Konferenzteilnehmer zog scheinbar ohne jede Begründung seine Pistole und begann auf die Anwesenden M schießen. Dis beiden Anwälte wußten sich nicht anders M retten, als aus dem Fenster zu springen. Da sich das Sitzungszimmer aber im neunten Stockwerk befand, war der Sprung ins Freie ein Sprung in den Tod. Zwei Weitere Konferenzteilnehmer wurden von dem Täter, einem notorischen Wahnsinnigen, erschossen. Der Revolverheld glaubte allem Anschein nach, daß ex bei einem Grundstücksverkauf betrogen wurde. Das SttettovjM veirug nur soo Donar, eine für amerttanlfche Verhältnisse ganz geringfügige Summe. Er hat sich bald lach der Tat der Polizei gestellt und gab als Begründung rur an, daß man ihn geschäftlich schädigen wollte. Bei dem Sprung aus dem Fenster sind auch noch »irrige Passanten, auf die die Leiden Anwälte fielen, schwer zu Schaden gekommen. Einer von ihnen kann von den sirzten nicht mehr gerettet werden. — Der Präsident der Republik Liberia, King, befindet sich auf einer Studienreise durch DeutschlanÄ. Nach einem Besuch in Hamburg ist er nach Berlin weiter- gcreist. poiWebr kuncksAsu Deutsches Heick Preußische Denkschrift zum Reichsschulgesetz. Im preußischen Kultusministerium ist dte seit län gerer Zeit bearbeitete Denkschrift zu dem Entwurf des 'Reichsschulgesetzes fertiggestellt worden. Sie enthält zahl reiche Abänderungsvorschläge. Wie es zuerst hieß, wollte sie preußische Staatsregierung am 20. September sich in nner Kaüinettssitzung mit der Angelegenheit beschäftigen Fetzt soll der Zeitpunkt für diese Beratung früher, späte, stens bis Mitte des Monats, festgesetzt worden sein. Die litauische Gewaltherrschaft in Memel. Der zum Gouverneur des Memelgebietes neuernanntc frühere litauische Kriegsminister Oberst MerkYshat sein Amt in Memel übernommen und es scheint, als wenn damit eine noch schärfere deutschfeindliche Tendenz sich bemerkbar mache. Etwa 15 Deutsche sollen in diesen Tagen mit hohen Geldstrafen belegt und gleichzeitig in das Kon zentrationslager von Worny oder in einzelne groß litauische Kreise ausgewiesen worden sein. — Die aus Memel ausgewiesenen deutschen Redakteure sind in Königsberg eingetroffen. Der Verband der ostdeutschen Presse richtete ein Telegramm an Dr. Stresemann in Genf, in dem es heißt: „Die Ausweisung steht im Widerspruch zur Memelkonvention und im Gegensatz zu dem feierlichen Versprechen des litauischen Ministerpräsidenten in Genf/ Aus Zn- und Ausland Berlin. Am 22. und 23. Oktober findet im Preußischen Landtag in Berlin ein preußischer Parteitag der Deutschen Demokratischen Partei statt. Berlin. Der Ältestenrat des Reichstags ist nunmehr endgültig auf Mittwoch, den 14. September, einbernfen, um über den Zeitpunkt des Zusammentritts des Reichstags zu beraten. Bochum. Der österreichische Bundeskanzler Dr. Seipel besichtigte die neuerluutte Bctriebsstätte des Lothringen- Konzerns. Der Kanzler wie seine Begleiter sprachen ihre Bewunderung aus über den hohen Stand der deutschen Technik in der Montanindustrie. Schneidemühl. Demnächst werden in der Grenzmark Posen-Westpreußen zwei Volkshochschulheime er richtet werden, und zwar ein evangelisches in Behle und ein katholisches in Kl.-Putzig. Die Heime nehmen je 30 männliche und weibliche Personen aus. München. Reichspräsident v. Hindenburg traf, aus seinem Urlaub von Dietramszell kommend, hier kurz nach 11 Uhr ein und fuhr nach einstündigem Aufenthalt auf dem Bahnhof mit dem fahrplanmäßigen Zug nach Berlin weiter. Bukarest. Exkronprinz Carol läßt sich bei den Verhandlungen für die Teilung der Erbschaft König Ferdi nands Vor dem Bukarester Oberlandesgericht von einem be sonderen Bevollmächtigten vertreten. k Neues aus siiev Weil Fischstcrben in dsr Oder. In der mittleren Oder Hai nach dem langen Sommerhochwasser ein umfangreiches Fischsterben eingesetzt. Die Ursache liegt in dem verdorbe nen Wasser, das zwischen den Buhnen steht. Beim Pilzssammeln ermordet. Die 48jährige Frieda Habermann, die von Pyritz zum Pilzesammeln in den Kerkower Forst gegangen war, wurde am Abend von Spaziergängern ermordet aufgefunden. Da man an- nimmt, daß der Mörder sich noch in der Umgegend aufhält, ist ein großes Polizeiaufgebot auf seine Spur gesetzt worden. Eine Großmutter, die Prügel verdient. In Wollin wollte das dreijährige Söhnchen des Arbeiters Nüschel durchaus mit einem Revolver spielen, den es bei der Groß mutter auf dem Wohmmgstisch sah. Als die alte Frau dem Drängen des Kindes nachgab rind ihm den Revolver reichte, entlud sich ein Schuß und der Knabe brach ins Herz getroffen tot zusammen. Überfall auf ein Knappschaftskrankenhaus. Unbe kannte maskierte Männer drangen in die Wohnung des Chefarztes des Knappschaftskrankenhauses in Steele ein und forderten unter Vorhaltung von Revolvern von ihm die Herausgabe der Knappschaftsgelder. Als der Chefarzt erklärte, keine Knappschaftsgelder zu be sitzen, durchwühlten die Räuber die Wohnung, wobei ihnen 1000 Mark, eine goldene Uhr und Schmucksachen in die Hände fielen. Erneute Ausbrüchs aus dsm Zuchthaus Lichtsnburg. Aus dem Zuchthaus Lichtenberg bei Torgau sind neuer dings wieder zwei Schwerverbrecher ausgebröchen. Die Verhältnisse auf der Lichtenburg, aus der sich die Aus brüche in letzter Zeit erschreckend mehren, bildeten früher bereits den Gegenstand einer Anfrage im Preußischen Landtag. Wahnsinnstat einer Telephonistin. Vor einigen Tagen brannte die Telephonzentrale in Kirke-Värlöse (Dänemark) ab. Bald darauf meldete sich eine 25jährige Telephonistin bei einem Arzt, weil sie äußerst nervös sei und aus dieser Ursache auch die Telephon zentrale an gesteckt habe. Das junge Mädchen wurde verhaftet und vorläufig einem Krankenhaus zu geführt. Tod auf der Bühne. In einem Pariser Revuetheater trat eine junge Tänzerin in einem Lamöklcid auf. Als sie die Bühne verließ, kam der Mctallüelag des Kleides mit der Lichtleitung in Kontakt und die Tänzerin erlitt einen so schweren Schlag, daß sie bald darauf starb. Brasilianische Räuber plündern einen Zug. Etwa 40 Räuber plünderten auf der Sao-Paulo—Rio-Grande- Eisenbahn die Passagiere eines Zuges aus, setzten zwei Wagen in Brand und zwangen den Lokomotivführer, mit dem Nest des Zuges nach dem Ort Canoinha zurückzu kehren, der ebenfalls gebrandschatzt wurde. Juwelendiebstahl im Autobus. Schwer bestohlen wurde der Berliner Vertreter einer Pariser Brillanten- firma. Er hatte eine Sendung in Werte von 45 000 Mark erhalten und wollte sie Berliner Juwelieren vor- iegen. Die Wertsachen trug er in einem Brillanten. Portefeuille in seiner Mappe, während er mit einem Autobus fuhr. Als er die Sendung einem Juwelier zeigen wollte, entdeckte er, daß das Portefeuille aus der »Mappe verschwunden war. Verhaftungen in Kattowitz. Bei der Kattowitzer Buchhandlung und Vcrlagsgesellschaft, dem Verlage der „Kattowitzer Zeitung" wurden in der Buchhalterei und Du bist mein! Roman von H. v. Eklin. Cvppughi by Greiner L Comp., Berlin W 30. Nachdruck verboten. 1. Kapitel. n „Na, und wenn schon, liebe Frau Reichmann — so bekämen wir eben Hochzeit ins Haus. Und ich könnte mir kein passenderes Paar denken als Oswald und Angelika/ Frau Johanna Reichmann, langjährige Hausdame bei Nikolaus Bravand, sah diesen eindringlichen Blickes an. „Sie denken dabet nur an Oswald, Herr Bravand — allein Sie haben zwei Söhne." „Hartmut!" Der alte Mann fuhr auf. „Sie wollen doch nicht sagen, daß auch der" — er lachte kurz und bitter — „der hat in seinem Leben noch kein Weib angeschant." „Er hat es mcht getan, bis jetzt — jetzt aber, vom ersten Augenblick an, da Angelika ihm gegenüber getreten, da sieht er sie. Uno wäre es Ihnen noch nicht ausgefallen, Herr Bravand," fragte Frau Reichmann langsam weiter, „daß die ja leider Gottes allbekannte gegenseitige Abneigung Ihrer beiden Söhne schroffer hervortritt denn je zuvor? Ich meine, Hartmuts finstere Art, sein allzu heftiges Tem perament hätten Ihnen schon genugsam ernsthafte Sorgen bereitet und um geringfügigerer Dinge willen, als es der Fall sein dürfte, wenn gleiche Neigung die beiden zu Rivalen, zn Feinden machen, müßte." Der alte Herr hatte sich von seinem Sitz erhoben und ging mit wuchtigen Schritten in der rebenumsponnenen Veranda auf und nieder. Er war ein Sechziger von hoher, hagerer Gestalt. In seiner Stattlichkeit, mit seinem schnee weißen Vollbarte, seinen noch klarblauen Augen bot er oas Bild eines schönen alten Mannes, obwohl seinem Gesichte jene Milde fehlte, die unter weißen Haaren reifen soll. Jetzt blieb er mit einem Ruck vor Frau Reichmann stehen. „Hat Fräulein Gredighausen sich Ihnen gegenüber irgendwie geäußert?" x „Nichts dergleichen"- gab die Hausdame zurück. „Was ich Ihnen andeutete, beruht lediglich auf meinen eigenen Beobachtungen. Angelika ist lieb und zärtlich tn ihrer weichen Art, doch nicht eigentlich vertraulich. Jedenfalls begegnet sie Oswald, wenn er nach Ulmenhof heraus- kommt, nicht mehr mit der vollen Unbefangenheit wie zu vor, und wie sie begvimen hat, Hartmut auszuweichen, das ist augenfällig." Des alten Mannes Faust sank schwer auf die Tisch platte hernieder. „Hartmut — er und immer er! Soll ich nm chn denn niemals meines Lebens Frieden finden?" Frau Reichmann legte freundschaftlich begütigend ihre weiche Hand auf des Zürnenden hagere Rechte. „Er tut sich selber kein Gutes mit seiner finsteren Art, die es ihm schwer macht, Liebe zu finden, während Oswalds sonnige Natur sich überall die Herzen erobert. Es sind wohl fetten zwei söhne eines Vaters sich so un gleich gewesen, wie diese beiden." Eines Valers Söhne — doch nicht Kinder einer Mutter. Und beide sich ungleich, wie diese Mütter sich un gleich gewesen — und beide unablässig an die Mütter ihn gemahnend. »Lchwere Schatten hatten sich über des Gutsbesitzers Gesicht gebreitet. Seine beiden toten Frauen! — In Hartmuts ° üster verschlossenen Zügen lebte vor ihm die Erinnerung fort an das Weib, das ihn betrogen, das sein Leben vergiftet, noch über das Grab hinaus. Und jene anders, in deren holder Gestalt noch einmal über seinen Weg die Liebe ge schritten, mit der er ein kurzes, seliges Jahr lang das Glück im Arme gehalten, sie stand wieder auf vor ihm, wenn er in Oswcttos lichte Augen sah. Der blonde, schöne, frohe Knabe, der ihm den Trüb sinn, die Sorgen von der Stirn geschmeichelt, ja, er hatte ihn allzeit mehr geliebt als seinen Erstgeborenen. Doch klagte er sich nicht der Ungerechtigkeit gegen Hartmut an. Wie hätte er dessen finster leidenschaftlichen Charakter, das Erbteil seiner Mutter, anders zügeln sollen, als mit eiser ner Strenge, einer Strenge, deren der schmiegsame Sinn des um fünf Jahre jüngeren Stiefbruders niemals be durfte. Oswald zwang sich die Herzen, wo immer er nur erschien. Was Wunder, wenn er auch Angelikas Herz sich gezwungen. Und Hartmut — wenu auch er — Wie eine unheimlich drohende Wolke stieg es vor dein Grübelnden aus, und als wolle er die trüben Gedanken verscheuchen, strich er mit einer heftigen Gebärde durch die Luft und rief, sich ausstraffend: „Ich glaube, Sie fehen Gespenster, liebe Frau Reich mann Ich habe so gut wie Lie Augen im Kopfe nnd habe noch nicht das Geringste bemerkt, was Ihrer Be hauptung Boden verleihen könnte." „Möchten Sie recht haben, Herr Bravand", erwiderte Frau Reichmann ernst. „Ich aber wollte, ich hätte es Konsul Gredighausen und meiner alten Freundin, seiner Frau, nicht versprochen, .ur die Dauer ihrer Reise Angelika hier unter meine Obhut zu nehmen, oder ich wünschte, es ließe sich unauffällig arrangieren, daß sie für den Rest der Reise anderswo Aufenthalt nähme." Der Gutsbesitzer fuhr auf. „Fort von hier? ES Hinausposaunen, daß mein Haus mit seinen unerquicklichen Verhältnissen kein Aufenthalt für eine Dame ist?" Seine Stirn war dunkel gerötet, und besänftigend sagte die Hausdame: „Es wird nicht notig sein. Vielleicht haben Tis recht, vielleicht sehe ich wirklich Gespenster. Außerdem ist ja Angelikas Aufenthalt ohnehin hier bald aügelaufen. Wenn meine Aengstlichkeit übertrieb, verzeihen Sie mir uno tragen Sie mir's nicht nach, wenn ich Ihnen eine unge mütliche Stunde schuf." „Ihnen. Ich weiß ja, wie Sie's meinen nnd wie Sie getreulich mit an Meinen Sorgen schleppen." Mit ernstem Lächeln nickte er ihr zu, wie sie, das Schlüsfelkörbchen vom Tische nehmend, sich in das Haus begab. Als dec alte Bravand allein war, sanken die ge strafften Schwiern ihm schlaff hernieder, schwer ließ er sich in einen Sessel fallen und starrte zu Boden. (Fortsetzung folgt.)