Suche löschen...
Wilsdruffer Tageblatt : 09.07.1927
- Erscheinungsdatum
- 1927-07-09
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192707097
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19270709
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19270709
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1927
-
Monat
1927-07
- Tag 1927-07-09
-
Monat
1927-07
-
Jahr
1927
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 09.07.1927
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Kreatur Bon vr. Wilhelm Fischdick- Hameln. Kreatur heißt in schlichter Uebersetzung nichts anderes als: Geschöpf: in unverdorbener Vorstellung: Geschöpf Gottes. Aber auf das deutsche Wort legen wir den Akzent des Wertes, wäh rend wir dem lateinischen den Unterton der Nichtigkeit Vorbe halten haben. Tas Kreaturbewußtsein, der Gedanke, daß der Mensch nicht nur Schöpfer sondern auch Schöpfung sei, ist der heimlichste und unheimlichste zugleich, der das Sinnen und Grü beln der Völker durchzieht. Daß nach beiden Seiten hin dem modernen Stadtmenschen der Gedankenfaden abgeschnitten ist, darauf beruht ohne Zweifel einerseits die ganze Unrast seines unbesriedigten Sehnens, dessen Ziel er selbst nicht kennt, ande rerseits seine hilflose Verflachung, die ihm die Tiefen des Men schentums verschließt. Die Tatsache der Sehnsucht nach dem Orientalischen und Primitiven oder nach dem Mythus unserer ger manischen Voreltern, aber auch die Tatsache, daß dieses Verlangen sich meist in oberflächlichen Phrasen, wenn nicht gar im Iazz- bandtaumel erschöpft, findet hier ihre Erklärung als dunkles Symptom. Er ist von der Natur durch den Schleier der Zivili sation getrennt, der nur durch Zeitungsmeldungen von Katastro phen ab und zu zerrissen wird: und wo er sich in seinem eigenen Milieu der Nichtigkeit gegenüber dem Schicksal bewußt wird, sei es durch Armut und Hunger, sei es durch Krieg und Revo lutionen, da fühlt er diese Nöte als rein zivilisatorische, denen er mit den Mitteln ebenderselben Zivilisation abhelfen zu kön nen glaubt, durch Sozialismus, Pazifismus und Formaldemo kratie. Die Schicksalsidee aus der Haltung des Kreaturgefühls ist demgegenüber frei von jedem Zivilisationsoptimismus. Der naturverbundene Mensch hat den Mut, den Tatsachen ins Auge zu sehen und sich innerlich entweder aufzuschwingen zur Ruhe des Sternenhimmels, der über aller Wirrsal sich wölbt, oder aber das Grauen des Entsetzens bis zur Wucht der Tragödie zu erleben und so an seiner eigenen Nichtigkeit zum König zu reifen im Reiche der Seele, die dann aus den Tiefen der Krea- türlichkeit heraus sich des anderen bewußt wird: Geschöpf zu sein, das ist Geschöpf Gottes, ist bei aller Verbundenheit mit der Natur etwas Individuelles, ein Wert im Unwert. Da wird dann das Kreaturgefühl religiös und damit religiös überwunden. Jene erste Art, das Kreaturgefühl als Trost, ist dem Reli giösen so verwandt, daß man es fast als unbewußt religiös be zeichnen möchte, wenn man nicht unter Religion ein bewußtes Verhältnis zu Gott verstehen müßte, und wenn es nicht mit atheistischen Gedanken Hand in Hand gehen könnte. Wir ken nen es von Anzengruber her, der es im Steinklopferhanns ver körpert, jenem armen Hascherl, das da, wenn es den Menschen nach ginge, in seiner verlassenen Berghütte verendet wäre, das aber in der Sonne von seinem Fieber genas: „Es kann dir nix g'schehn! selbst die größt' Marter zählt nimmer, wann's vorbei is! — Ob d' jetzt gleich sechs Schuh tief da unterm Rasen liegest, oder ob d' das vor dir noch viel tausendmal siehst, — es kann dir nix g'schehn! — Und dös war so lustig, daß ich's all andern rund herum zug'jauchzt hab': Es kann dir nix ge'schehn!" Die andere Art aber fühlt sich Kreatur auch in dem anderen Sinne, den man in die Form fassen möchte: Aber es muß dir auch alles geschehen, was da in der Natur geschieht; du bist nicht weniger, aber auch nicht mehr. Natur ist Kampf; das Rind frißt die Pflanzen und der Wolf das Rind, ohne Rücksicht darauf, daß Rind und Pflanze auch Kreatur sind. Was begründet den Le-, bensansvruch des einen über das andere, wenn sie beide in Das Zahngeschwür. Eine schmerzhafte Sache von Balduin Reichenwallner. Ich gehe nie zu einem Zahnarzt. Zahnärzte sind heim- tückische Menschen. Das bringt der Beruf mit sich. Wer täg lich mit Leuten zu tun hat, die einem die Zähne zeigen und, wenn man ihnen eine Wohltat erweisen will, zu schreien an- fangen und um sich schlagen, wird schließlich so. Zahnärzte schleichen mit freundlichem Gesicht heran und ver bergen dabei hinter dem Rücken eine furchtbare Waffe. Sie sagen sehr verbindlich „Einen Augenblick, es tut gar nicht weh" und machen einen zutraulich, bis sie auf einmal ihr wahres Ge- sicht zeigen, wenn sie einen in der Zange haben. Kein wohl- erzogener Mensch würde seinen Gast behandeln wie ein Zahn, arzt. Und doch — man kann sie nicht ganz entbehren. Ich hatte immer gesunde Zähne. Aber einmal — in der Mettwurst war ein kleiner Schuhnagel — brach mir eine Zahn ecke ab. Das war der Beginn meines Leidensweges. Ganz vorsichtig mußte ich beim Wassertrinken sein, daß ja nichts Kaltes an den Zahn kam. Und auch heißen Kaffee durfte ich nicht trinken. Nach ein paar Tagen meldete sich der Zahn auch ungereizt. Ein Ziehen und Bohren begann, das durch kein Saugen ZU be ruhigen war. Ich drückte ein heißes Taschentuch an die Backe. Der Schmerz wurde schlimmer. Ich versuchte es mit kalten Umschlägen, doch ohne Erfolg. Ich kaufte ein schmerzlinderndes Mittel. Da fing es erst recht an. Dann kam das bekannte Klopfen und Pochen. Eines Mor gens war die Backe geschwollen. Der Mund stand schief wie bei einer Flunder. Aspirin nützte nichts mehr. Alkohol sollte helfen. Wir hatten noch eine Flasche alten Cognac im Keller. Die holte ich herauf. Meine Frau erwischte mich beim zweiten Glas. „So —" sagte sie, „du meinst wohl, der sei zum Weg trinken da?" — „Nein, er ist zum Aufheben da", erwiderte ich gallenbitter und entsagte. Aber ich rollte furchtbar die Augen. Vor dem Spiegel wollte ich mich von der Furchtbarkeit dieses Augenrollens überzeugen, doch o weh — wie sah ich aus. Um meine Würde war es geschehen. Mittags bei der Suppe mußte ich den Löffel schief halten, um ihn in den Mund zu bringen. Max, der Lausbub, sagte, ich sähe aus wie sein Kaninchen, wenn es Rüben muffelte. So herzlos ist die Jugend. Nein, es ist wirklich nicht zum Spotten. Kein Augenblick Ruhe, nicht tags, nicht nachts. Oh ihr Philosophen, die ihr von der Macht des Gemüts redet! Habt ihr je Zahnweh gehabt? Ich suchte mich abzulenken und griff nach einem Roman von Ernst Zahn. Doch ich hatte genug Ernst mit meinem Zahn und stellte das Buch zurück. Ich versuchte es mit Schiller. „Gefährlich ist des Tigers Zahn" höhnte er, „jedoch der schrecklichste der Schrecken..." Schweig, Schiller, ich weiß, welches der schrecklichste der Schrecken ist. Ich saß am Fenster, ich rannte umher, ich lag auf dem Sofa, ich brütete überm Schreibtisch. Mein ganzes Ich ballte, sich in dem klopfenden, wütenden, brennenden Mittelpunkt zusammen. „Geh doch einmal zu einem Arzt", sagte meine Frau. Ich hatte nur ein Knurren für diesen Rat. Bald sah ich aus wie ein Nilpferd, das eine Kokosnuß kaut. Ich weiß nicht, ob Nilpferde Kokosnüsse fressen, es war mir damals auch völlig einerlei. Der ganze Untergang des Abend landes, falls man ihn für die nächste Woche angesetzt hätte, wäre mir gleichgültig gewesen. Nur eines war mir nicht einerlei: Wie beseitigen wir das Ungeheuer von Zahn? Um diese Frage kreiste die Welt. Und langsam rang sich in mir die Erkenntnis durch, daß hier nur einer Helsen könne, jener heimtückische Mensch, den schon die kleinen Kinder fürchten, der die furchtbare Waffe hinter dem Rücken verbirgt, der heuchlerisch sagt: „Einen Augen blick, es tut gar nicht weh." Mein Vorurteil war besiegt, ich flog zum Hause hinaus, dem Retter entgegen. „Wären Sie acht Tage früher gekommen", sagte der Doktor, „dann wäre der Zahn noch zu retten gewesen. Aber jetzt muß er raus." „Raus damit", schrie ich beherzt, und nach wenigen Minu- ren war ich meinen Peiniger loL_ Menlch. einer Reihe stehen? Tlnd da ist das Kreaiurgesühl das Bewußt sein des Verflochtenseins in einem bestialischen Konnex, aus dem nur der Tod befreit. Das Rind würde verhungern ohne die Pflanze, der Wolf ohne Fleisch und der Mensch ohne beides. Und wer etwa aus solchen Gründen Vegetarier werden wollte, der löst sich doch nimmermehr aus dem Ring des Lebensraubes. Wir entwurzeln das, was wir „Unkraut" nennen, um der Nutz pflanze oder der Blume willen, die wir abrupfen, um sie in Gläser zu stellen, wir töten den Flachs, um Webfüden daraus zu machen, wir essen die anderen Pflanzen oder verfüttern sie an das Nutzvieh, das wir dann wieder morden um des Fleisches oder bloß der Haut oder um ein paar Schmuckfedern willen. Unser Leben ist Lebensraub. Und dabei reden wir von der Heiligkeit des Lebendigen als göttlichen Werkes und heucheln allenfalls insofern als wir damit Menschenleben ausschließlich zu meinen vorgaben, Menschenleben aber vernichten wir in Kriegen und Wirtschaftskriegen. Aus dem stummen Auge jedes Viehs aber, auch des Löwen oder des Krokodils, die wir in zoolo gischen Gärten bergen, aus allen Blüten und aus den Helden- mälern auf den Schlachtfeldern fragt uns ein Etwas, das in uns selber lebt und seufzt. Kein Vegetarismus, kein Pazifis mus nimmt diese Frage aus der Welt. Man müßte ein Fakir werden und geradewegs nach Nirwana wandern, wollte man ihr entfliehen. Das aber bedeutete, das eigene Leben mit seinen sittlichen Aufgaben, anvertraut von demselben Schöpfer, der Tiere und Pflanzen schuf, von sich werfen wie einen Dreck, das Gottesgeschöpf vernichten um der Kreatur willen, die in und außer uns ist. Es gibt keine Flucht! Es gibt nur die Möglichkeit, den Weg des Grauens zu Ende zu gehen und den unheimlichen Fluch zu tragen, von dem wir uns selbst nicht zu lösen vermögen. Es ist nicht von ungefähr, daß die alten Religio'nskulte heilige Tiere kennen. Es ist wie eine Selbstanklage und der matte Versuch einer Entschuldigung, daß die Inder, die den Elefanten jagen, ihn heilig halten in einigen ausgenommenen Exemplaren. Der Apisstier und seinesgleichen sind nichts anderes als solche Traumsymptome naturverbundener Völker, geboren aus einer Metaphysik des Grauens, deren Tiefe nur der Zivilisations mensch nicht mehr empfindet. Religiöse Schlachtriten wie etwa das Schächten, das uns heute bei fortgeschrittener Technik und Tierkenntnis grausam erscheint, in Wirklichkeit aber die leider dogmatisch verewigte, einst jedoch sicher humanste Art der Tötung bedeutete, sind Versuche, das Schuldkonto des Menschen auf ein Mindestmaß zu reduzieren. Dasselbe mosaische Gesetz das das Schächten aus seiner Zeit heraus vorschrieb, beweist sich in erhabenem Grundgefühl: „Du sollst dem Ochsen, der da Kri schet, nicht das Maul verbinden." Aehnlich ist es mit den Speisevorschriften: „Du sollst nicht das Böcklein in der Milch seiner Mutter braten", sagt dasselbe Gesetz. Der moderne Mensch schlachtet fast schmerzlos und ist ein kümmerliches Ge wächs, wenn nicht Liebe zum Tier seiner Seele Reichtum be weist. Nichts aber ändert die Grundtatsache des Kreatürlichen im Sinne des in Demut zu tragenden Verflochtenseins in den Notraub des Lebens. Von der Erbsünde und ihrem Fluch künden auch uns die alten Schriften und werden künden, so lange es Menschen gibt. Der Gnadengedanke des Christentums ist keine Vertuschung dieses Gesetzes, aus dessen nächtlichem Hintergründe er sich vielmehr bis zu den Sternen erhebt, um die Kreatur Mensch in den Armen des Schöpfers zu bergen. Heute bin ich wieder schön und freundlich wie zuvor; aber wenn ich Maxens Karnickel sehe, dann packt mich doch eine heimliche Wur, obwohl das unschuldige Vieh sich sicherlich nicht denken kann, warum ich so grimmig die Lippen zusammen- knsife, wenn ich ihm beim Rübenmufseln zuschaue. Der Auch des Schicksals. Historische Skizze von T h. Vogel. Am 15. Oktober 1813 gegen 10 Uhr vormittags ritt Napoleon in Begleitung des Königs von Neapel von Leipzig nach Liebert- wolkwitz. Er wollte das Gelände erkunden, das in den folgen den Tagen Schlachtfeld seiner und der verbündeten Truppen sein mußte. Auf dem Galgenberg, einem Hügel zwischen Liebertwolkwitz und Wachau, stieg er vom Pferde und wärmte sich die in dem frischen Herbstmorgen am Zügel erkalteten Finger. Dann über schaute er die Ausstellung der Murat'schen Truppen und die langen Ketten der französischen und deutschen Vorposten, die sich bis aus Gewehrschußweite gegenüberstanden. Bei Auenhain und Güldengossa konnte man die Lager der russischen Vortruppen und ganz in der Ferne jenseits der Pleiße die lebhaften Bewe gungen von größeren Truppenkolonnen erkennen. Ob das schon Schwarzenberg sein könne, wandte sich Na poleon fragend an seinen Schwager. Dann preßte er aber rasch seine Lippen aufeinander, als ob er zuviel von seinen Gedanken verraten hätte. Murat hatte seine leise Frage auch gar nicht gehört. Denn er wandte sich ganz unvermittelt an den Kaiser und bat ihn, ein paar gestern von den Preußen gefangen genommene fran zösische Offiziere auslösen zu dürfen. Napoleon nickte kurz Gewährung. Der König von Neapel gab zwei in der Nähe befindlichen Kürassierkapitänen Anwei sung, sich zu den preußischen Vorposten zu begeben und die be treffenden Offiziere gegen eine hohe Geldsumme, die sie sich von einem Adjutanten des Kaisers aushändigen lassen sollten, aus zulösen. Napoleon schien auf diesen Vorgang nicht acht zu gpben. Aber er verfolgte doch aufmerksam die beiden Parlamentäre, wie sie bis zu den eigenen Vorposten schritten, dann ein weißes Tuch an ihre Degenspitze banden und sich zwischen die beiden Linien begäben. Von drüben kamen ihnen zwei Offiziere ent gegen. Man sah, wie sich die vier Männer begrüßten, mitein ander unterhandelten und sich wieder von einander trennten. Dann kamen die beiden Kürassierkapitäne zurück. Sie erstatteten dem König von Neapel mit leiser und unverständ licher Stimme Bericht. Napoleon konnte nichts vernehmen. Er nagte mit den Zähnen an seiner Unterlippe. Dann wandte er plötzlich sein gelbes, bartloses Gesicht mit den finsteren Zügen nach den drei Männern zurück, befahl sie mit harter Stimme zu sich und verlangte zu wissen, was sie erfahren hätten. Die beiden Offiziere schwiegen zuerst. Endlich, als sich die Brauen des Kaisers finster zusammenzogen, sagte der eine von ihnen: „Sire! — Die Preußen verweigern die Herausgabe. Sie gedächten das Geld, das ihnen Ew. Majestät zu bieten bereit ist, auch ohne dies morgen oder übermorgen zu erbeuten." Der Kaiser blieb scheinbar unbeweglich. Er nickte und dankte kurz und wandte seine Blicke wieder nach dem Felde. Wer freilich in seinen Zügen genauer zu lesen gewohnt war, hätte eine tiefe Betroffenheit feststellen können. Eine Betrof- senheit, die den ganzen Tag über auf seinem Antlitz blieb. Na poleon schien um diese Stunde auf dem Galgenberg bei Wachau zum ersten Mal von der Stimme des Schicksals, die mit Macht und Hohn aus den unterjochten Völkern herausdrang, einen Hauch verspürt zu haben. Wettlaus. Skizze von Hans Hauptmann-Hannover. Der Idealist schloß seinen Bericht, indem er mit der Faust emen Wirbel auf die Tischplatte knöchelte: „Schließlich ist es doch immer wieder der Helle Kopf, der den Sieg davon trägtf" Zwei der Herren dösten teilnahmslos in den Rauch ihrer dicken Zigarren. Einer verneinte zwar das Gehörte mit dem starren Blick seiner Glaskugelaugen, rang sich aber aus Höslich- keit ein Kopfnicken ab. Einer vermurmelte seine Ansicht in die Höhlung seines Weinglases. Der fünfte schmunzelte — ein richtiges Rechtsanwalts- Schmunzeln mit listig eingekniffenem Auge. „Ein Gegenstück zu Ihrer Kopfsiegerei, Doktor," sagte er. „Ich hatte seit Jahren zwei Schwestern an meinen Schreibmaschinen sitzen. Wenn Käte geblieben wäre, ohne daß ich Loni behalten hätte, wäre es längst nur die eine gewesen. Die Käte — also: musterhaft, sag' ich Ihnen. Eine Auffassungsgabe, fleißig, gewissenhaft, also wirk lich: eine Attraktion für jedes Büro! Und die Loni? — Der Himmel segne deine Studia, aus dir wird nichts, Hallelujah! Immer habe ich das gesagt, immer. Aber der Teufel hole alle Prophezeiungen. Man kommt sich da manchmal selbst dumm vor. Es gibt Aufstiegsmöglichkeiten, es gibt Triumphmöglich keiten, an die unsereins gar nicht denkt. Das große Los für die Loni ist der kurze Rock. Da tippelt sie eines Tages an, sie hat geradezu fabelhaft schöne Beine. Und was glauben Sie? Nach zwei Wochen hat sie ein Filmmagnat entdeckt, und jetzt flimmert sich das Mädel ein Vermögen zusammen und hopst sich vielleicht noch einem Nabob ins Herz, während die Käte — eine Klasse für sich, meine Herren, ein Köpfchen! — während die Käte im mer noch an der Schreibmaschine klappert. Für hundertfünfzig Mark monatlich, meine Herren! Somit: freie Bahn dem Tüch tigen! Hoch die Pedale! Herunter mit dein Spiritus!" „Beides hübsche Mädchen," sagte der Idealist, „ich kenne sie. Aber ihre Geschichte beweist gar nichts." „Na nu," eiferte der Listige, „auf die Begründung bin ich wirklich neugierig!" „Ober, noch zwei Flaschen! — Ich darf doch die Herren ein laden? — Sehen Sie, ein Lyriker, ich glaube Halm, sagt: „Glück ist, was jeder sich als Glück gedacht." Das ist zweifellos richtig. Ich weiß nun zusällig, daß Fräulein Käte eine ganz andere Vor stellung vom Glück hat als ihre Schwester. Ich weiß auch, daß ihr reifer Charakter sie davor bewahrt, in ihren Glücksvorstel lungen jemals zu wanken, während ich mich dafür bei Fräulein Loni durchaus nicht verbürgen möchte. Bei Käte scheint mir die überhaupt erreichbare menschliche Glückseligkeit gesichert, sobald sie einmal das Ziel ihrer unerschütterlich feststehenden Lebens- wünsche erreicht hat. Ob irgend welche noch so überraschenden Augenblickserfolge aber die Loni dauernd befriedigen können — wer weih das? Ah! oa kommen die Flaschen. Füllen Sie die Gläser, Ober! — Ich wollte nur sagen, meine Herren — mit aller Bescheiden heit natürlich — der Spiritus ist doch schneller ans Ziel gekom- nen als die Pedale: ich habe mich gestern mit Fräulein Käte wrlobt." Vermischtes. _ Die Krawallstratze. Manche Stadtväter sind ver legen, wenn es gilt, einen neuen Straßennamen zu wäh len. Sie greifen immer zu den alten Namen, und wie oft findet mau einen Straßennamen doppelt und dreifach in einer nur mittelgroßen Stadt! Der Bürgermeister in Möhringen bei Tuttlingen wollte für die neue Straße des Ortes einen ganz modernen Namen wählen, der so recht in die Zeit paßt, und nannte sie darum — „Krawallstraße". Die Bürger von Möhringen waren aber damit nicht zu frieden, denn bei ihnen gehört der Krawall durchaus nicht zur Tagesordnung. Sie reichten deshalb eine Beschwerde ein und baten um einen Namen, der ihre Eigenheiten besser kennzeichnet. Allerdings haben sie bisher noch nichts Rechtes finden können. Aber würde nicht für manche Groß städte der Name „Krawallstraße" ausgezeichnet sein? Tie Tübinger Krähen organisiere-! sich. Tübingen ist eine recht hübsche und sehr gelehrte Stadt: es hat eine weitberühmte Universität, auf der man etwas lernen kann. Kein Wunder, daß dort auch die Tiere intelligent sind; von den Krähen mindestens läßt sich das mit Be stimmtheit sagen, und Professor Dr. Gerlach, der Direktor des Tübinger Physikalischen Instituts, sagt es. In einem ausgedehnten Hochwald bei Tübingen überwintern ge waltige Kräheuschwärme, die jeden Morgen einen Aus flug nach der freundlichen Universitätsstadt machen, sich ven Botanischen Garten ansehen, sehr laute Unterhaltun gen führen und am Abend wieder nach Hause fliegen. An einem der ersten Märztage dieses Jahres aber'er eignete sich etwas Merkwürdiges. Die Krähen kamen kurz vor 6 Uhr morgens an, setzten sich unter ohrenbetäuben dem Lärm auf vier Bäume des Physikalischen Jnstitut- gartens, verstummten dann aber wie auf Kommando und lauschten — wie Professor Gerlach in den „Naturwissen schaften" berichtet — dem offenbar sehr gediegenen Vor trag einer älteren Krähe, die sich abseits gesetzt hatte. Von Zeit zu Zeit wurde der Vortrag durch laute Beifallskund gebungen unterbrochen und das ereignete sich vier- oder fünfmal. Darauf beschloß der Krähenherr — es kann aber auch eine Krähendame gewesen sein — den Vortrag und die Krähen traten den Flug zur Sommerfrische an. Pro fessor Gerlach ist nun der Ansicht, daß man es hier nrit einer Plenarversammlung organisierter Krähen zu tun gehabt habe, in der der Vorsitzende eine Rede hielt, um Befehl zum Aufbruch zu geben und Angaben über die Flugrichtung zu machen. Severing vor öem Kemeausschuß. Schwarze Reichswehr und Arbeitskommandos. Der Femeausschuß des Reichstages trat am Freitag zu einer öffentlichen Sitzung zusammen zur Vernehmung des früheren preußischen Ministers des Innern. Severing, des Staatssekretärs im preußischen Ministerium des Innern Dr. Abegg und des VizepolizeipräsidciUen Dr. Weiß in Berlin als Zeugen über den schriftlichen und mündlichen Verkehr der preußischen Dienststellen mit dem Reichswchrministerium und den Wehrkreiskommandos in Angelegenheiten der Ersassungs- abteilungen, Arbeitskommandos und sogenannten Schwarzen Reichswehr sowie über das Vorhandensein und den Verbleib von Akten über diese Organisationen und über den Schrift verkehr bei den preußischen Dienststellen. Der Zeuge Severing bekundet zunächst, daß irgendein Zusammenarbeiten mit den Arbeitskommandos der Schwarzen Reichswehr nicht stattge funden habe. Zur Zeit des Ruhreinbruchs sei es allerdings mit Stellen der Reuhswehrbehörden zu einer Vereinbarung gekommen über die Erfassung von Heeresgeräten, die sich in Händen der Organisationen befanden. Über diese Dinge sollten keine Schriftstücke geführt werden, und zwar im Interesse der Landesverteidigung. Akten über die Schwarze Reichswehr seien im preußischen Innenministerium nur inso weit vorhanden, als ein Verdacht bestand, daß in der Reichs wehr mit privaten Wehrorganisationen Verbindungen vor handen waren. Aus Befragen des Abgeordneten Schäffer (Dtn.j betont der Zeuge, daß niemals von feiten des preußischen Innenministers daran gedacht worden sei. die Arbeitskom maudos zum Grenzschutz gegen Polen heranzuziehcn. Bei Be sprechungen zwischen dem Reichswehrministerium und dem preußischen Innenministerium, um die Arbeitskommandos als Verstärkung der Reichswehr für den Grenzschutz im Östen einzuseyen, habe ihn nur das Be streben geleitet, die Verbindung zwischen Reichswehr und ille galen Organisationen zu verhindern.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)