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Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt, — Nr.L42 — Dienstag, den 21. Jnnt 1927 Kiesel am Wege. Von Franz Mahlke. Mancher geht allein auf Reisen, um sich zu verlieren, — der andere, um sich zu finden. Wer sich der gescheckten Herde der Gesellschaftsreisenden anschließt, will meistens nicht mehr als — grasen. Es kommt nicht darauf an, wieviel wir sehen, sondern dar auf, wie wir das, was wir sehen, erleben. Es gibt Menschen, die sich trennen müssen, um einander wieder zu finden. Deutscher Reichstag. (323. Sitzung.) OS. Berlin, 20. Juni. Aus der Tagesordnung steht zunächst die zweite Beratung der Vergleichsordnung. Danach tann ein Schuldner, der zahlungsunfähig geworden ist, zur Abwendung des Kon kurses die Eröffnung eines gerichtlichen Vergleichsverfahrens beantragen. Die umfangreiche Vorlage von 93 Paragraphen wurde unter dem lebhaften Beifall des Hauses ohne jede Aus sprache in zweiter und dritter Lesung gegen die Stimmen der Kommunisten angenommen. Ein völkischer Antrag, der Maß nahmen zur Beseitigung der Junglehrernot fordert, wird dem Bildungsausschuß überwiesen. Es folgt die erste Beratung des Gchankstättengesetzes. Reichswirtschaftsminister Dr. Curtius leitet die Beratung ein und führte aus, die Erkenntnis, daß die Regelung des Schank- stüttenwesens nicht ausreichend sei, sei allgemein. Der Alkohol- Mißbrauch zerrütte nicht nur die Gesundheit des einzelnen, sondern auch die Volksgesundheit. Der Staat könne daher nicht an der Notwendigkeit Vorbeigehen, nicht nur eingetretene Schäden zu heilen, sondern auch vorzubeugen. Andererseits wäre cs verkehrt, die Grenzen der staatlichen Zwangsgewalt zu weit auszudchnen. Der vorliegende Gesetzentwurf wolle die vorhandene Lücke aussiillen. Eine Trockenlegung Deutschlands lehne die Reick ^.erung ab. Der Minister verwies daraus, voß in Amer, 1 bereits eine Einschränkung des Alkoholverbolcs erwogen werde und daß auch andere trockengelegte Staaten das Verbot in steigendem Maße wieder abgcbaut hätten. Im Einvernehmen mit dem Beschluß des Reichstages lehne die Reichsregierung auch das Gemeindebestimmungsrecht ab: dagegen sei ein Ausbau und eine Verbesserung des Schankkonzessionswesens dringend erforderlich. Wenn auch nach der Gewerbe- und Betriebszählung die Gesamtzahl der Schankwirtschaften seit 1907 von 270 000 aus 256 000 zurückgcgangen sei. so bätten sich doch die Branntweinkleinhandlungen um ein Viertel ver mehrt. Der Entwurf wolle einer übermäßigen Vermehrung der Schankstätten dadurch Vorbeugen, daß die Schankerlaubnis von der Führung des Bcdürsnisnachweises abhängig gemacht wird und daß besonders zum Schutze der Jugend gegen die Alkoholgesahren die Bedingungen für die Erlaubniserteilung crsckwcn weiden AbO. Schulz (Soz.) erklärt, die Forderungen der Gegner des Alkoholmißbrauchs seien in der Vorlage in keiner Weise verwirklicht. In ser Frage des Jngendschutzes sei sie ein Rückschritt Abg. Frau Philipp-Baden (Ztr.) wies daraus hin, daß die Frau am meisten unter den Folgen des AlkoholmißbrauÄs zu leiden habe. Im Interesse des anständigen Gastwirts gewerbes selbst sei eine strenge Prüfung des Bedürfnisses not wendig. Dazu sollte man auch die Vereine gegen den Alkohol mißbrauch heranzichen. Abg. Mollath (Wirtsch. Vgg.) erklärte, das vorliegende Gesetz sei ein Knebelung sgcsetz schlimmster Art. Es wendet sich gerade gegen das alte eingesessene Gastwirts gewerbe. Die Wirkung wäre vas schnelle Verschwinden der Mittleren und kleinen Betriebe und die schrankenlose Aus breitung des Großkapitals im Gastwirtsgcwerbe. Abg Frau Arendsee (Komm.) meinte, der Gesetzentwurf ändere nickt Vic' zu den bestehenden Zuständen, sondern ent- prüfe, wer sich ewig bindet. . . . Eherat in Eheno 1. Heiraten — das ist etwas, dessen jeder sich für fähig hält. Wer ein schwieriges Geschäft, bei dem Geld und Gut auf dem Spiele steht, unternehmen will und sich unerfahren weiß, der wird sicher eines erfahreneren Freundes Rat einholen. In die Ehe aber, die ein Ge meinschaftsunternehmen fürs ganze Leben ist oder doch sein sollte, ein Unternehmen, bei dem so gut wie alles auf dem Spiele steht, Glück und Gut und nicht zuletzt auch die Gesundheit, in die Ehe springt man, wenn man gerade kein abgesagter Heiratsfeind ist, mit beiden Füßen zugleich, unbekümmert und unberaten, ahnungs los und skrupellos, nicht wissend um Seelisches und Körperliches des erkorenen Ehepartners, kaum achtend der immerhin auch nicht ganz überflüssigen materiellen Grundlagen. Man spricht sich Mut zu mit irgendwelchen anfeuernden Sprichwörtern, „Jung gefreit hat noch nie mand gereut" und so, und verläßt sich im übrigen für die kommenden Tage auf überirdische und irdische Mächte, die schon helfen werden, wenn man selbst mit sich und dem andern nicht mehr zu Rande kommen wird. Es ist gut, daß geheiratet wird, und man soll sich auch dort, wo es noch keine Junggesellensteuer gibt, nicht abschrecken lassen von der Gründung eines Hausstandes, wenn man sich des sittlichen Zweckes der Ehe bewußt ist. Das ist der Kernpunkt! Wer sich zur Eheschließung entschließt, soll sich sagen, daß er die heilige Verantwortung übernimmt auch für ein kommendes Ge schlecht, und soll sich fragen, ob er diese Verantwortung tragen kann, ob er nicht zu sürckten braucht, daß Leiden, die seinen eigenen Körper zerwühlt und zerrüttet, viel leicht auch seinen Geist angenagt haben, sich vererben auf Kinder und Kindeskinder. Drum prüfe, wer sich ewig bindet, und — es ist ein etwas billiger Witz, aber er kann gesagt werden — lasse sich prüfen! In Amerika, wo manches, aber durchaus nicht alles lächerlich ist, gibt es für solche, die hc-raten wollen, verpflichtende Ehe beratungsstellen: es ist in vielen Staaten der Union die Beibringung von Ehe-Eignungszeug- nissen zur gesetzlichen Pflicht gemacht worden. Ob der Vererbung von Krankheiten dadurch ein Ende gemacht werden kann, mag dahingestellt sein, aber es müssen in Gefahrzonen Dämme aufgerichtet werden, auch wenn man fürchten mutz, datz sie doch einmal durchbrochen wer den könnten. Auch bei uns in Deutschland gibt es Eheberatungsstellen, an hundert oder mehr, aber sie tragen einstweilen noch keinen verpflichtenden Charakter: man kann ihren Rat in Anspruch nehmen, aber man ist gesetzlich nicht dazu gehalten. Um so erfreulicher ist es, daß sie, wie sich dieser Tage bei einer Zusammenkunft der Eheberater, die zu einem organisatorischen Zusam- patte nur kleinliche Bestimmungen gegen das Gastwirts gewerbe. Abg. Sparrcr (Dem.) mahnte zu einer besonders vor sichtigen Behandlung der Vorlage, da die Gewerbefreiheit ge fährdet sei. Abg. Schirmer-Franken (Bayer. Vp.) will alle Bestrebun gen unterstützen, die aus eine Bekämpfung des Alkoholmiß- braucks und aus einen Scbntz der Juaeub binanslonke" Abgeordneter BiSes (D. Vp.) bezeichnete es als Ziel, die Jugend vor den Gefahren des Alkohols zu bewahren, aber auch die berechtigten Jnetressen des ehrbaren Gastwirts standes zu schützen. Die Vorlage wurde an den Volkswirtschaftlichen Aus schuß verwiesen und das Haus vertagte sich. Kei X. 2ora, >ViIsckruft, Dresdner 8tr. menschlutz aller Beratungsstellen führte, ergab, von der Bevölkerung immer mehr in Anspruch genom men werden. Das ist ein Beweis dafür, daß der wert volle Gedanke der Eheberatung in die Massen gedrungen, und daß man sich des Ernstes der Lage durchaus be wußt ist. Wenn man eines Tages — und dieser Tag wird kommen, muß kommen — die Inanspruchnahme der Eheberatungsstellen, die jetzt noch im eigenen Er messen der Ehelustigen liegt, zu einem Muß erheben wird, um dem Ehe-Elend vorzu beugen, dann wird man nicht erst ganz von vorn zu beginnen brauchen, sondern auf bereits vorhandenen Grundlagen bauen können. Das Ehe-Elend! Es ist größer, als man denken mag, und es wird gesündigt hüben und drüben: Mann und Frau tragen zu gleichen Teilen und durchaus „paritätisch" die Schuld an der Zerrüttung der Ehen von heute. Der Leiter der Armendirektion der guten alten Stadt Bern klagte dieser Tage in einem öffentlichen „Schmerzens schrei", daß jetzt viel zu leichtsinnig ge heiratet werde und daß viele, sehr viele von den jungen Menschenkindern, welche sich zusammentun, auch von der materiellen Tragweite eines solchen Schrittes keine ernsthafte Vorstellung haben und darum dem Leben hilflos gegenüberstehen, wenn sie plötzlich in Not geraten. Sind gar Kinder vorhanden, so schreit oft deren Not, und nicht bloß die körperliche, sondern auch die see lische Not, zum Himmel. In Berlin konnte es kürz lich geschehen, daß ein Kind tagelang, nächtelang von der Stätte, die es „Elternhaus" nannte, fernblieb, ohne datz die mit ihren eigenen Dingen beschäftigten Eltern auch nur zu merken schienen, datz es „abhanden gekommen" war, bis man es ihnen dann eines Tages als Leiche in die Stube brachte: es war irgendwo von Sandmassen verschüttet worden. Das Kind war verängstigt gewesen, war schlecht behandelt worden und hatte sich oft nicht nach Hause getraut, aber das Band, das die Eltern zu Hause aneinander fesselte, hietz trotzdem „Ehe" und war sicher auch einmal unter rosigsten Hoffnungen geknüpft worden. Der Berner Armenpfleger wirft die bittere Frage auf, ob es wirklich im Interesse der Allgemeinheit lag, als man das Recht zur Eheschließung sozusagen schrankenlos freigab. Noch einmal: es ist gut, es ist wünschenswert, daß geheiratet wird, aber man sollte die Eheberatungsstellen, die einem dringenden Bedürfnis entsprechen, nicht bloß als volkshygienische Notwendigkeit werten, sondern sic generell zu Stätte der Mahnung und Warnung vor allzu leichtsinniger Verkettung von Schicksalen, die nicht „ge prüft" worden sind, erheben. s p»NNI«ke kunairksu l Deutsches ReiL Thüringen für Verlängerung des Sperrgesetzes. Sämtliche Parteien des Thüringischen Landtages mki alleiniger Ausnahme der Kommunisten haben der Reichs regierung und den Reichstagsfraktionen eine Erklärunc folgenden Wortlauts zugehen lassen: „Der am 30. Jun dieses Jahres bevorstehende Ablauf der sogenannte« Sperrfrist gefährdet die Auseinandersetzung zwischen de« ehemaligen Fürstenhäusern und dem Lande Thüringen Es ist daher unbedingt notwendig, daß die Geltung des Gesetzes über die Auseinandersetzung der Reststreitig: leiten, über die Auseinandersetzung mit den ehemaliger regierenden Fürstenhäusern vom 13. Februar 1926 unt über Aussetzung von Verfahren bei Auflösung vor Familiengütern der Fürstenhäuser vom 30. April 192( bis ans weiteres nochmals verlängert wird." Hn von Volkqsncz i1sn!<en (47. Forttekunau iNackdruct verboten.) Totenblaß, aber gefaßt hat er das Schloß verlassen. Als er in seinem Zimmer saß, überkam ihn ein Lachen. Was ist doch das Leben für ein kurioses Ding. Wie selten ist doch Gerechtigkeit. Dann hat er des Königs Rock von Preußen ausgezogen, hat fein altes Gewand hergenommen. Als am nächsten Morgen der König von Preußen den Abschiedsbrief des Rittmeisters las, wollte er erst dem Augs burger seine Husaren hinterherhetzen. Dann aber faßte ihn eine große Traurigkeit, und ein Gefühl der Scham hielt ihn davon ab. Er hatte recht gehabt, der unbestechliche, eiferne Ritt meister, der als einziger unbeirrt seinen Weg ging. Der Augsburger aber war aus Berlin verschwunden. Es wußte keiner, wohin. 11. Barbette Merville. Schneeflocken fallen dicht, hüllen die Welt in einen weißen Mantel und lassen ihr Bild rein und friedevoll erscheinen Auch das kleine Städtchen Ellwogen dicht an Sachsens Grenze, ist verschneit bis ins verschwiegenste Gäßchen. Und immer neue Schneemassen wirft der Himmel her unter. Der Wirt „Zum Goldenen Stern" sieht kummervoll zum Fenster hinaus und denkt, daß heute wenig Gäste kommen werden. Der dicke Fleischermeister Eilers, wird der kommen? Glaub's kaum. Hat jetzt eine junge Frau zu Hause, da macht er sich nicht die Mühe und stampft durch den Schnee. Und der Schulmeister? Da wird sein Gedankengang unterbrochen, denn ein Wagen hält plötzlich draußen vor der Tür. Rosse schnauben. Stimmengewirr klingt an sein Ohr. So rasch er kann, eilt er hinaus. Die Post, die man bei dem Schneewetter nicht mehr er wartet hat. Ein Fremder nur, hochgewachfen, mit imponierender Figur, ist ausgestiegen und spricht mit dem Kutscher. Weiter fahren will er morgen. Aber der Postillion zuckt die Achseln. „Wollen sehen, gnädige Herr," sagt er. „Es ist nur um die Rösser Wenn die's schaffen, mir ist's recht." Da ward das Antlitz des fremden Mannes freundlicher. „Ist recht," sagte er und wandte sich dein Hause zu. Er erblickte den Wirt und faßte grüßend an die Pelzmütze. „Habt Ihr ein Zimmer für mich, Herr Wirt?" „Gewiß. Ew. Gnaden," dienerte der Wirt. „Darf ich Ew. Gnaden bitten, meinem Hause die Ehre zu erweisen." Der Fremde nickte stumm und trat in dis Gaststube. Wohlige Wärme umfing ihn. Behaglichkeit. Den Mantel legte er ab, und dann ließ er sich in den breiten Sessel nieder. Eifrig war der Wirt bemüht, mit dem Kienspahn eine große Kerze anzuzünden. Endlich glückte es, und der Lichtschein fiel dem Fremden ins Gesicht. Es war Friedrich Augsburger. Er war müde, aber so schön wie in Berlin, nur stiller, alles Strahlende in seinen Augen war erloschen. „Ich bin hungrig, Herr Wirt." „Ew. Gnaden werden sofort bedient. Will in der Küche nur Auftrag geben Ist ein guter Hammelrücken recht?" „Ist mir recht. Nur recht bald. Bin verdammt hungrig." Eilfertig stürzte der Wirt davon, und rasch ging ein hastiges Getriebe in der Küche los. Friedrich Augsburger saß still am Tisch und lauschte dem gleichmäßigen Ticken der Uhr. Wie wohl tat ihm heute die behagliche Ruhe, die den Raum füllte, die sich wie Balsam auf sein wundes Herz legte. Eine Sehnsucht ohnegleichen nach Heimat und Frieden, nach Menschengüte erfaßte ihn mit unbezwingbarer Gewalt. Heimat! Wo war seine Heimat? Wie oft hatte er darüber nach gedacht und keine Lösung gefunden. Sein ganzes Erinnern reichte zurück bis in feine Jünglings jahre. Von der Zeit vorher wußte er nichts, aber auch gar nichts. Keine köstliche Erinnerung aus der frühesten Jugend zeit war in ihm, und das quälte ihn maßlos. Wenn er zurückdachte, dann stieg vor seinem geistigen Auge das Bild seines Pflegevaters, des alten Janos, des Schmiedes in Jlsleben, vor ihm auf. Mit aller Liebe hatte er an ihm gehangen, und es mußte ihm bitter angekommen sein, als Friedrich ihn im Abenteuerdrange verließ. Ob der alte Janos noch lebte? Was er wohl sagen würde, wenn jetzt der einstige Geselle wieder auftauchte und bat: Habt Ihr Arbeit für mich? Er sehnte sich danach, wieder einmal am Amboß zu stehen und mit kräftigen Armen den Hammer zu schwingen, daß die Funken sprühen. Er seufzte tief auf Es war doch alles anders geworden als einst. Man wandelt nicht ungestraft unter Palmen. Die Sehnsucht nach Marlene würde ihn nie verlassen, das fühlte er deutlich. Und diese Gewißheit ließ keine rechte Freude in ihm aufkommen. Aber was sinnen! Heute ist heut'! Klar blinkt der Wein iM Glase, heute soll er uns munden und unserer Seele Frieden geben, nur an das Morgen nicht denken. Am Fenster huschte mit einem Male ein hoher, breiter Schatten vorbei. Ein Reisewagen war es, wie Friedrich Augsburger mit schnellem Blick erkannte. Stimmen vor der Tür. Eine Fistelstimme sprach mit dem Wirt, der im tiefen Baß seine Ergebenheit bekundete und den Gast einlud, bei ihm Quartier zu beziehen (Fortsetzung folgt.)