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I Wilsdruffer Tageblatt I I 2. Blatt — Nr. 135— Montag, den 13 Juni 1927 I Auf Erden Müh', im Grabe Ruh'. Das Leben ist ein endlos Ringen, Ein ruhlos Kämpfen joden Tag, Wir fliegen auf der Sehnsucht Schwingen Dem still erträumten Ziele nach. Doch eh -wir kühn bergaufwärts steigen, Dem Strahl -der Weltenfonne W, Das einz'ge ist, was wir erreichen: Auf Erden Mäh', im -Grabe Ruh'. Oer „Prophet" Häußer gestorben. 46 Jahre alt. Eine der merkwürdigsten Erscheinungen der letzten Jahre, Ludwig Christian Häußer, ist dieser Tage in einem Berliner Krankenhalis hmuberaeschlummert. Wer diesen Mann mit seinem wallenden Vollbart und Apostel- aewand einmal gesehen hat, wird seine Erscheinung nicht vergessen könnend Vor dem Kriege war er Sektreisender. Er Besatz eine seltsame Mischung von Naivität, Fana- tismuch politischem Ehrgeiz und nicht zuletzt ein großes Reklametalent sür seine Person. Wurde doch, lange bevor er ivrach sein Bild von seinen gefügigen Anhängern ver teilt unter dem dann in großen Lettern stand: „Ich rede'" Häußer wollte die Politik entgiften und sich selbst als Volkskaiser", ja sogar als Präsident der Vcr- T-nigten Staaten von Europa sehen. Durch die Grü« einer eigenen Häußer-Partei, die zu den Rerchvtag^ Wahlen istr Jahre 1924 fast 50 000 Stimmen erhielt rst er weit über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt ge worden. Anch bei der Reichspräsidentenwahl nach dem Tode Eberts sollte er aufgestellt werden, aber er kam mit der Einreichung der Liste ein paar -rüge zu spat, Hecen- DZr Gasimstanö im Deuischsn Reich, Folgen der regnerischen Witterung. Nach einer kurzen Wärmcperiode im ersten Drittel del Monats Mai setzte eine ungewöhnlich rauhe, teilweise auck regnerische Witterung ein, die mit Unterbrechung durch einig- wärmere Lage saft bis zum Monatsende anhielt. In Ver bmdung mir dem starken Tcmperaturrückgang traten in aller Gebietsteilen Deutschlands mehr oder minder starke Nacht fröste auf, wodurch in den Saaten einiger Schaden an gerichtet wurde. Die Bestellung der Felder ist bis auf wenige östliche Ge bielsteile beendet. Die Entwicklung des W i n t e r g e t r e i de s ist tnsolg, des nachteiligen Einflusses der kühlen Maiwitterung fast all gemein zurückgeblieben. Als Folge der Kälte zeigen sich nich selten bei Weizen und Gerste gelbe und braune Blattspitzen Auch bei Roggen werden Frostschäden befürchtet. Auf besserer Böden wird der Stand der Wintersaaten noch als verhältnis mäßig gut bezeichnet. Die Sommersaaten sind Vielfack dünn und ungleichmäßig aufgelaufen und in der Entwicklunc noch ziemlich weit zurück. Die Beurteilung lautet je nacb dei Aussaatzeit recht verschieden. Allgemein wird über starke Ver unkrautung geklagt. '' "b -»er Das Auflaufen der Hackfrüchte ist bis jetzt erst in ge- Umfange erfolgt. Kartoffel- und Rübensclder sind seh, oft in starkem Maße verunkrautet. " ""d Wiesen haben sich du bisher guten Aussichten verringert. Mancherorts fehlt da- Bodengras; teilweise hat der Kleekrebs lückige Bestände ver- ursachi. Unter Zugrundelegung der Zahlenquoten 2 — gup 3 mittel, 4 — gering ergibt sich im Reichsdurchschnit! folgende Begutachtung: Wintcrwcizen 2,6 (Vormonat 2,5) Winterspclz 2,5 (2,4), Winterroggen 3,0 (2,9), Wintergerste 2,k (2.7), Sommerweizen 2,7, Somnierroggen 3,6, Sommergerste 2,7, Hafer 2,9, Kartoffeln 3,2, Zuckerrüben 3,0, Runkelrüben 3,0, Klee 2,7 (2,5), Luzerne 2,7 (2,5), Bewässerungswiesen 2,6 (2,4), andere Wiefen 3,1 (2,7). falls wnßte er in Versammlnngsreden die Hörer zu feuern. In der letzten Zeit wirkte er nur noch in einem kleinen Kreise getreuer Anhänger. Bekannt wurde auch die kurze Episode, in der er mit der Tochter des früheren Admirals von Pohl verlobt war. s psIttMr «unüIGsu j Deutsches Leich Abzug von Franzosen aus dem Saargebiet. In Befolgung des Völkerbundratsbeschlusses vom März d. I. hat das zweite Bataillon des 153. Infanterie regiments Saarbrücken verlassen, um sich in seine neue Garnison Forbach zu begeben. Drei Kompagnien des dritten Bataillons des gleichen Regiments, die bisher in Sulzbach und Neunkirchen lagen, sind nach Mörchingen in Lothringen abtransportiert worden. Eine Kompagnie des dritten Bataillons des 153. Infanterieregiments wird solange im Saargebiet bleiben, bis die englischen und bel gischen Teile der neuen Bahnschutztruppen eingetroffen sind. Diese werden im Laufe dieses Monats im Saar gebiet ankommen. Die Dauer des Sperrgesetzes. Bis zum 30. Juni d. I. läuft die Verlängerung für das sogenannte Sperrgesetz, das Prozesse wegen der Fürstenabfindung untersagt. Der nächste Woche zusammen tretende Reichstag wird sich alsbald mit der Frage zu be fassen haben, ob eine weitere Verlängerung in Frage kommt. Dem Vernehmen nach soll das Reichsjustizmini sterium nicht beabsichtigen, eine weitere Dauer zu bean tragen. Die Parteien sollen allerdings in dieser Beziehung verschiedenartiger Meinung sein. Für eine weitere Ver längerung wäre wieder eine Zweidrittelmehrheit not wendig. Aus Zn, und Ausland Freiburg i. B. Im Befinden des ehemaligen Großherzogs von Baden ist nach den Mitteilungen des Hosmarschallamrs eine Besserung eingctreten, so daß der Kranke täglich einige Stunden außer Bett zubringen darf. Paris. Der Royalistensührer Daudet, der zum Antritt einer fünfmonatigen Gefängnisstrafe aufgefordert worden ist, hat sich in den Redaktionsräumen seiner Zeitung, die er in ein befestigtes Lager umgewandelt hat, verbarrikadiert. Er will sich mit Gewalt jeder Verhaftung widersetzen. London. Das Gerücht einer bevorstehenden Verlobung des Prinzen von Wales mit Infantin Beatrix von Spanien wird von zuständiger Seite dementiert. Mexiko. Präsident Calles hat die Schließung aller Spiel häuser in Mexiko angeordnet. Außerdem wurden sämtliche Uhren in Mexiko um eine Stunde vorgerückt. Diese Maß nahme soll bleibende Wirkung haben. - Neues aus aller well j Es gibt noch tüchtige Leute in Deutschland! Der 20jährige Student Eiffländer von der Technischen Hoch schule in Nürnberg hat zwei neue Zählmaschinen für Papier geldnnd Hartgeld erfunden. Für das Patent hat ihm die Reichsbank 1,6 Millionen Mark und eine amerikanische Gruppe 6 Millionen Dollar geboten. Eine solche Summe ist einem Zwanzigjährigen wohl noch niemals geboten worden. Notlandung auf den Bäumen. Das von Berlin kom mende Flugzeug D. 368 mußte wegen Motordefekts eine Notlandung auf den Bäumen des Sachsenwaldes in der Nähe von Hamburg vornehmen. Passagiere und Flieger blieben unverletzt. Die Maschine erlitt einige Beschädi gungen. Raubmord in Mecklenburg. An der Beckerwitz- Zierower Grenze wurde der Gutssekretär Strohkirch vom Gut Hohenwieschendorf ermordet und beraubt aukaekun- den. Strohkirch hatte mittags von einer Wismarer Bank gegen 700 Mark Lohngelder geholt, die geraubt wurden. Man fand seine Leiche in einem Roggenfeld ver steckt auf. Er ist allem Anschein nach mit einem dicken Knüppel erschlagen worden. Grotzfeuer in Breslau. Die im Güterbahnhof Ost Hegenden Gebäude und Kohlenlager der Firma Lorenz und Richter wurden durch Feuer vernichtet. Es fielen da bei 1000 Zentner Stroh, 800 Zentner Getreide und mehrere hundert Zentner Briketts den Flammen zum Opfer. Die Entstehung des Feuers ist auf Fahrlässigkeit eines Dachdeckers zurückzuführen, der kochenden Teer überlaufen ließ, der durch das Dach das Strohlager entzündete. Ein Arzneischwindler verhaftet. Der Schreiner Wilh. Häberle wurde vom Stuttgarter Gericht zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, weil er sich durch sein angeblich „totsicheres* Kropfhcilmittel große Geldbeträge er schwindelt hatte. Das Mittel bestand aus gerösteten Eierschalen, gebranntem Badeschwamm und gestoßenem Kandiszucker. Schlägerei in der Wiener Universität. In der Uni versität Wien ereigneten sich anläßlich des Vortrages eines sozialistischen Hochfchülers Zusammenstöße mit völkischen Studenten, bei denen sieben Studenten leicht und einer schwerer verletzt wurden. Die Schlägereien fanden ihre Fortsetzung auf der Straße und die Polizei hatte große Mühe, die raufenden Studenten voneinander zu trennen. Der Rektor hat die Schließung der Universität bis auf weiteres angeordnet. De Pinedos Rückkehr nach Italien. De Pinedo hat von Horta auf den Azoren aus seinen Probeflug ange treten. Nachdem er den Punkt erreicht hatte, wo er seiner zeit aufs Meer niederzugehen gezwungen war, kehrte de Pinedo um, überflog nochmals Horta nnd setzte seine Reise nach Ponta Delgada fort. Der Atlantikflug der Brieftaube. In der Nähe von Montreal in Kanada hat ein Bauer eine Brieftaube auf gegriffen, die an ihrem Fuß einen Ring mit der Aufschrift „Lille" (Frankreich) trug. Der schwierige Flug Europa— Amerika, den Byrd demnächst vornehmen will und an dem Nungesser scheiterte, ist also zunächst einer Taube ge lungen. Bunte Tageschronik Wien. Der Ingenieur Marek, dessen Prozeß wegen an geblichen Versicherungsbetruges großes Aufsehen erregte, hat mit der Versicherungsgesellschaft einen Vergleich geschlossen, wonach er für sein abgehacktes Bein 240 000 Schilling erhält. 50 000 Schilling betragen allein die Anwaltskostcn Mareks. London. Der bei Scapa Flow versenkte 23 000 Tonnen große deutsche Schlachtkreuzer „Moltke" konnte nackt acht stündiger Arbeit gehoben und nach dem Abbruchsort ge bracht werden. Die mit den Hcbungsarbciten betraute Firma erklärt, daß oic „Moltke" das größte Schiff ist, das jemals gehoben worden ist. Peking. In der chinesischen Hauptstadt trafen 56 Mis sionare nach einer 28täaigen Reise von Kansu ein. Den größten Teil ihrer Fahrt hatten sie auf gebrechlichen Flößen aus Ziegenfellen zurückgelegt. Auf ihrer Reise hatten sie mehrere Zusammenstöße mit Räubern. Schlawe (Pommern). In StolpmQnde wurde in einem Lafü der Kapellmeister des Casös von einem dort beschäftigten Geiger durch zwei Messerstiche getötet. Warschau. In dem ostgalizischen Dorfe Zabie hat ein Bauer seine aus sieben Köpfen bestehende Familie durch Karabmer- scbüsfe getötet. Der Mörder ist flüchtig. Der vermutliche Beweggrund zur Tat sind Vermögensstreitigkeiten. dei X. Torn, ^Vilsckruff, Dresdner 81r. rvüscttt nnck plättet kriScirick Hri sk-ecjepirisnizcjiLp k-omsn von Volkqsnq Ns^er, <33. Forlleßungu , «Nachdruck verboten.) „Alter, Ihr scherzt. Ich hab' kein Schloß. Meine Schlösser liegen auf dem Monde. Ich bin ein armer Teufel, nur des Königs Rittmeister." Doch der Alte lächelt. „Ew. Gnaden, bin ein alter Mann, aber ich weiß es noch. Wir haben damals das Lied gespielt, das Lied von der Seele. Ew. Gnaden werden schon wissen." „Nichts weiß ich, Alter," fährt ihn der Rittmeister an. „Für wen haltet Ihr mich?" . Der Alte schweigt einen Augenblick und sieht icheu auf die Gesichter der Lauschenden. „Redet ganz offen!" „Ew. Gnaden sind Prinz Augnst, Graf zu Hohnstein." Stille ist mit einem Male. Zer Rittmeister lacht hell auf. „Sagt's noch einmall Wer soll ich sein?" „Prinz August, Graf von Hohnstein." Der Rittmeister hat sich wieder beruhigt. Lächelnd sieht s er auf den Alten. --Hört, mein Freund! Ich bin der Rittmeister Friedrich von Augsburger. Ich kenn' den Prinzen August nickt, ich bm es nicht, kann es nicht sein. Hab' ich Aehnlichkeit mit dem hohen Herrn?" „4Us ob's Ew. Gnaden wären," sagt der Musikant demütig. „-ckst gut, Alter! Jetzt spiel' Er!" Und dann spielen sie weiter. Mit einem Male scheint s allen, als sei ein anderer Ton in die Lieder gekommen. Eine zarte, innige Weise schwingt durch den köstlichen Herbsttag. Marlene sieht, wie der Rittmeister lauscht. In seinem Antlitz ist jeder Nerv gespannt. Um seinen weichgeschnitte nen Mund zuckt es. Unruhe kommt in seine halboffenen Augen. Blaß wird er mit einem Male und atmet schwer, rme wenn ihm ein Erinnern überkäme, als folge er einem Ge danken, mühevoll, und könne den Grund nicht finden. Da — springt er plötzlich auf und fährt den Alten an. ! „Alter, was spielt Ihr da?" Erschreckt läßt der weißhaarige Musiker das Horn sinken. „Ew. Gnaden," stammelt er, „des Prinzen August Lied." Augenblicke lang steht der Rittmeister wie geistesabwesend da, dann schüttelt er den Kopf und drückt sich an den Schläfen. „Spielt, spielt!" ruft er den Musikanten zu und wirft ihnen einen Gulden hin. Sie spielen! Und mit einem Male schwingt ein Ton von unaussprech licher Süße durch den goldenen Herbsttag, daß alle wie ver zückt lauschen. Der Rittmeister ist zusammengezuckt wie unter einem Schlage. Seine Augen sprühen und seiner Kehle entquellen die Töne. Augsburger singt! strahlt die Welt im goldenen Lich', Wenn mein Liebchen zu mir spricht: Will dich lieben, all mein Leben. Was der Seele Eigen ist, Will ich dir, Geliebte, geben, Wenn dein Mund mich innig küß . Wie das Licht der goldnen Sonne, Tief beglücket Tal und Höh'n, Soll im Herzen sel'ge Wonne Durch mein Lieben dir ersteh'n." Alle sitzen still und rühren sich nicht. Die Macht der Töne zwingt ihre Herzen in Bann, daß kaum einer zu atmen wagt. Der Wirt, der eben der fröhlichen Gesellschaft zwei neue Flaschen guten Erdbeerwein bringen wollte, wagt keinen Schritt zu gehen und lauscht verzückt. Marlene preßt die Hand aufs Herz. Die tiefbraunen Augen hängen an Friedrichs Antlitz. Der Welt entrückt steht er, den Blick in uferlose Weiten gerichtet, und singt. Sein starkes Gefühl bricht machtvoll durch, und alle Sehn sucht seiner Seele klingt in dem Liede aus. Der letzte Ton verklingt. Das Lied ist aus. Da drängen sie sich um den göttlichen Sänger, der von seinem eigenen Sang noch benommen, weltentrückt dasteht, als lausche er einem fernen Klingen. Der Iube! um ihn führte ihn in die Wirklichkeit zurück. Als er wieder am Tische saß, tat ihm die Zuneiquna, dir aus den herzlichen Dankesworten der Freunde sprach, so wohl. Nur Marlene schwieg still, und als er ihr Auge juchte, sah er, daß sie zitterte und zu Boden blickte. Bitternis kam in seine Seele Die fröhlichen Kinder wurden mit einem Male b!aß, als sie sahen, wie des Ritt meisters Züge hart wurden. Eine kurze Weile floß die Unterhaltung trübe hin, dann entschloß inan sich zum Aufbruch. Als der Wagen fortrollte, sah der alte Musikant ihnen nach, bis sie ihm aus den Augen entschwunden waren. Unverständliches murmelten seine Lippen. Die Sonne stand tief, ihre letzten Strahlen brachen sich in den müden Augen des Alten. Unterwegs fragte Anneliese den Rittmeister leise: „Warum sind Sie so still mit einem Male? Sind Sie uns ! böse?" Augsburger schrak aus seinem Sinnen auf und blickte der Jüngsten in die bangen Augen. „Böse? Nein, nein, Baronesse! Wie könnt' ich das. Ich bin Ihnen dankbar sür die Stunden. Das menschliche Herz ist ein kurioses Ding Erst sckwingt's in Freude, und dann ! kommt ein Ton in uns zum Klingen, der uns traurig macht, i und wir wissen nicht warum." Anneliese verstand ihn nicht und wußte darum nicht recht, was sie weiter sprechen sollte. Was red' ich? dachte sie krampfhaft. Will nur mit ihm sprechen, daß ich seine Stimme höre. „Sie müssen noch ein Liedchen singen, Herr Rittmeister." Er schüttelte lächelnd den Kopf. „Heute nicht, Baronesse. Wenn Sie es an-einem anderen Tage in Ihrem schönen Zuhause wünschen, dann will ich's tun" „Hat Sie das schöne Lied so traurig gemacht?" „Traurig — vielleicht. Wer weiß, was mich mit einem Male so müde gemacht hat. Vielleicht ist cs der scheidende Sommer, der kommende Herbst, der unsere Seelen wund macht." Die Schwestern hingen an seinem Munde. Sogar Mar lene sah ihn an, und er fühlte es. „Wollen Sie mich das schöne Lied lehren, Herr Niir- meister?" fraate Anneliese wieder. lForttckuna tolm.»