Volltext Seite (XML)
Wilsdruffer Tageblatt 2. Blatt — Nr. 47 — Freitag, den 25 Februar 1927 Worte zur Besinnung. Das Glück, das glatt und schlupfrig rollt. Tauscht in Sekunden seine P-sade, W heute mir, öir morgen hold, Und treibt die Narren rund im Rade. Fr. v. Bodenstedt. s poMMe KunOKbsu s Deutsches Reick. Die NrbeitZzeitverordnung. Die Reichsregierung hat nunmehr den Entwurf eines Gesetzes zur Abänderung der Arbeitszeilverordnung fArbeitszeitnotgesctz) dem Reichstag vorgelegt. Inhalt lich bringt der Gesetzentwurf eine Abänderung Ler gelten den Arbeitszeitverordnung in denjenigen Punkten, die besonders zu Klagen über zu lange Arbeits zeit Anlaß gegeben haben. Zu Paragraph 6 der Arbeits zeitverordnung wird vorgeschrieben, daß nach Wegfall eines Tarifvertrages die Behörde noch während dreier Monate keine längere Arbeitszeit genehmigen kann, als sie nach dem Tarifvertrag zulässig war. Ferner wird für behördlich zugelassene Mehrarbeit von Arbeitern ein a n - gemessener Lohnzuschlag vorgeschrisben. Eine Änderung des Paragraphen 9 macht die Verlängerung der Arbeitszeit über zehn Stunden hinaus von einer be hördlichen Genehmigung abhängig, während bisher dem Ermessen der Beteiligten nach dieser Richtung freier Spielraum gelassen war. Die wichtigste der im Entwurf vorgesehenen Änderungen ist wohl die Aufhebung der Be stimmung der Arbeitszeitverordnung, die eine an sich un gesetzliche, aber von den Arbeitnehmern freiwillig ge leistete Mehrarbeit unter gewissen Voraussetzungen für straffrei erklärt. Entwurf eines BerufsauSbildungsgesetzcs. Das Neichskabinett hat den Entwurf eines Berufs ausbildungsgesetzes verabschiedet. Der Entwurf regelt die Berufsausbildung Jugendlicher, und zwar aller Jugendlichen mit Ausnahme derjenigen, die in der Land wirtschaft beschäftigt werden. Es handelt sich um ein Rahmengesetz; vorgesehen ist weitgehende be ruf st ändischeSelb st Verwaltung auf der Grundlage der Gleichberechtigung der Arbeitgeber und Ler Arbeit nehmer. Neue Behörden zu schaffen, ist nicht beabsichtigt, die Regelung soll erfolgen im Anschluß an die schon be stehenden gesetzlichen Vertretungen von Handel, Industrie und Handwerk. Die französischen Truppen im Saargebiet. . . .. Der beim Völkerbundsekretariat eingetroffene Bericht der Regierungskommission des Saargebiets über die Frage der französischen Truppcnbesetzung, der in der Märztagung des Rates zur Verhandlung stehen wird, enthält folgen den Kompromißvorschlag: Die französischen Truppen Wiar den offiziell das Saargebiet verlassen, aber 800 Mann zur Sicherung des Durchgangsverkehrs der Truppen aus dem besetzten deutschen Gebiet im Saar gebiet zur Verfügung einer zu schaffenden Eisenbahn kommission müßten zurückbleiben. Diese 800 Mann würden jedoch als internationale Polizeitruppe organisiert und uniformiert werden. Außerdem könnte die Regierungs kommission auf die in der Nähe des Gebietes statio nierten französischen Truppen im Notfall zurückgreifen. Dieser Antrag ist mit vier gegen eine Stimme von der Negierungskommission angenommen worden. Aus In- und Ausland Berlin. Das Gesetz zur Bekämpfung von Geschlechtskrank heiten vom 18. Februar 1927 tritt am 1. Oktober d. I. in Kraft. Die wichtigste Bestimmung des neuen Gesetzes ist die Ver pflichtung aller an einer ansteckenden Geschlechtskrankheit leidenden Personen, sich von einem approbierten Arzt behandeln zu lassen. Berlin. Der Feme-Umersuchungsausschutz des Reichstages führte die Besprechung über rue vorliegenden Anträge zum Komplex der bayerischen Fälle zu Ende. Die Abstimmung über di« Anträge soll am Sonnabend stattsinden. Berlin. Reichstagspräsidem LSbc ist von einer Blind darmentzündung befallen worden. Sein Befinden hat sich so verschlechtert, daß eine Operation vorgenommcn werden mutzte. Berlin. Der nationalsozialistische Abgeordnete Strasser hat seinen Austritt aus der Fraktion der Völkischen Arbeits gemeinschaft erklärt. Durch diesen Austritt verliert die völkische -Traktion zunächst die Frakttiwsitörke Reichskanzler a. O. Luther in Schweden. Der frühere Reichskanzler Dr. H. Luther (Mittel, der sich zurzeit auf einer Nordlandreise befindet, bei einem Eisjachtausflug des Stockholmer Jachtklubs, un weit Stockholms. Berlin. Anläßlich der Tagung des Kirchensenals der Preußischen evangelischen Landeskirche sand bei Kultusminister Dr. Becker ein Empsangsabcnd statt, an dem die Mitglieder des Kirchensenats unter Führung ihres Präses v. Winckler, der evangelische Oberkirchenrat mit seinem Präsidenten v. Kap- ler und Mitglieder des Landtages teilnahmen. London. Der diplomatische Mitarbeiter des „Daily Tele graph" schreibt, in britischen Kreisen werde angenommen, daß Sir Austen Chamberlain in der üblichen Weise an der Märzragung des Völkerbundes tcilnehmen wird, außer, wenn eine gefährliche Wendung in der chinesischen Lage einireten sollte. Hinrichtung einer »osachen Mörderin. Fünfmal zum Tode verurteilt. Dieser Tage wird in Warschau an der achtzig fachen Raubmörderin Janina Zblonska das Todesurteil durch den Strang vollzogen werden. Die Zblonska hat achtzig Raubmorde gemeinsam mit ihrem Manne in Polen und in Frankreich verübt. Sie war eine Frau von besonderer Schönheit, und lockte ihre Opfer aus offene Felder. Dann erschien ihr Mann, der dem Opfer den LwoesMg gao uns Geld und Wertsachen an sich nahnr. Die Zblonska wurde bereits zum fünften Male zum Tode verurteilt. Ihr Mann wurde im Vorjahr in Wilna hin gerichtet. Die Raubmörderin versuchte während der Haft des öfteren Selbstmord. Sie hat u. a. achtundvierzig große Nägel, drei Eßlöffel und zahlreiche Glasscherben verschluckt. s Neues aus sster Welt I Das große Los. In der letzten Ziehung der^ Preußisch-Süddeutschen Klassenlotterie wurde das große Los gezogen; es siel auf die Nummer 239 783 Der Ge winn von 580 000 Mark fiel in Abteilung 1 nach Efsen,- in Abteilung 2 nach Breslau. Unter Hinterlassung von 80 808 Mark Schulden ge-i flüchtet. Der Leipziger Kaufmann Artur Eisstng ist nach! Hinterlassung von etwa 80 000 Mark Schulden aus Leip-! zig geflüchtet. Eissing war früher bei der Kriegsfell-i A.-G. und der Fellnutzungsgenossenschaft tätig. Vor- seiner Flucht verschaffte er sich noch einen bedeutenden: Posten Rohfelle, für die er das dort übliche Vorschubgeld bezog. Eine dreiköpfige Lehrerfamilie im Eis eingebrochen und ertrunken. Auf dem Langenbrützer See bei Schwerin brach ein 10jähriger Lehrerssohn beim Eislauf ein. Den Vater, der seinem Kinde zur Hilfe eilen wollte, traf das gleiche Schicksal, das schließlich auch die Mutter ereilte, die Mann und Kind aus dem Wasser retten wollte. Alle drei Personen sind ertrunken. Feuer im Kölner Dom. Durch Heißlauf eines Trans formators entstand im Kölner Dom an der Westseite ein Feuer, das die an dieser Seite gelegenen wertvollen Fenster aus dem 16. Jahrhundert in große Gefahr brachte. Da der Brand aber rechtzeitig entdeckt wurde, konnte er noch im Keime erstickt werden. Es ist seit 600 Jahren das erstemal, daß der Dom von einem Brande bedroht wurde. Wölfe in der Steiermark? In den Waldungen des Zisterzienser-Stiftes Rain sind in der vergangenen Woche acht Rehe gerissen worden. Rach der Neißart ist anzu- nehmcn, daß cs sich um einen Wolf handelt. Auffindung deutscher Gcfallenenleichen in den Vo gesen. Einige Erdarbeiter in der Nähe eines Betonunter- standes machten auf der bekannten Höhe 425 bei Stein bach einen schaurigen Fund. Drei übereinanderliegende — den noch gut erhaltenen Stiefeln nach zu urteilen — deutsche Soldaten wurden bei der Wiederherstellung eines Feldweges ans Tageslicht gebracht, jedoch vollständig bis auf die Skelette verwest und ohne jedwedes Erken nungszeichen. Die Sommerzeit in Westeuropa. Zwischen der bel gischen, englischen, holländischen und französischen Regie rung ist vereinbart worden, in der Nacht vom Sonn abend, den 9., auf Sonntag, den 10. April, zur Sommer zeit überzugehen. Die Rückkehr zur normalen Zeit werde in der Nacht auf den 2. Oktober erfolgen. Großer Waffenfund in Paris. Auf der Suche nach einem gestohlenen Auto entdeckte die Polizei dieser Tage ein umfangreiches geheimes Waffenlager, das aus zehn Maschinengewehren, 80 Gewehren, 100 Revolvern, Bajo netten, 16 000 Gewehrpatronen, zehn Kilogramm Pulver, Leuchtraketen usw. bestand. Herkunft und Zweck des Waffenlagers konnten noch nicht festgestellt werden. Nächtliches Jndiancrspicl mit dem Leben bezahlte Ein vierzehnjähriger Knabe in Chaumont in Frankreich, der einmal „richtig" Indianer spielen wollte, stahl seinem Vater ein Gewehr und gab nachts in einem Park mehrere Schüsse ab. Ein Nachtwächter rief ihn an und tötete den Knaben, da er die Flucht ergriff, durch einen Nevolverschuß. Millioncnschaden durch einen Fabrikbrand in Brom berg. In Bromberg brannte die Fabrik „Kabel Polski" mit sämtlichen Gebäuden und Maschinenrüumen bis auf wenige Mauerreste nieder. Die Fabrik, die mit 400 000 Nach dem Roman „Die Elenden" von Victor Hugo. 13j (Nachdruck verboten.) So stand es in der Gegend, als Fantine nach M. zurückkam. Niemand erinnerte sich ihrer mehr. Zum Glück war die Tür der Fabrik des Herrn Madeleine so gut wie das Gesicht eines Freundes. Sie bat um Arbeit und erhielt sie. Fantine war bereits länger als ein Jahr in der Fabrik, als ihr eures Morgens die Aufseherin im Auf trage des Herrn Bürgermeisters fünfzig Frank übergab und ihr zugleich anzeigte, sie gehöre der Fabrik nicht mehr an und möge den Ort verlassen. Fantine war wie vom Blitz getroffen. Von Scham noch mehr als von Verzweiflung niedergedrückt verließ sie die Fabrik und begab sich in ihr Stübchen. Ihr Fehl tritt war also nun allgemein bekannt! Sie hatte nicht die Kraft, auch nur ein Wort zu sagen. Man riet ihr, mit dem Herrn Bürgermeister zu sprechen, aber sie wagte es nicht. Der Herr Bürgermeister gab ihr ja fünfzig Frank, weil er gutherzig, aber er entließ sie, weil er gerecht war. Diesem Urteilsspruche beugte sie sich. Herr Madeleine wußte übrigens von alldem nichts. Er verließ sich in allem auf die Vorsteherin in der Frauen abteilung der Fabrik. In all ihrer Machtvollkommenheit und mit der festen Überzeugung, daß sie wohltue, hatte die Aufseherin den Prozeß gegen Fantine eingeleitet, als sie davon gehört hatte, daß Fantine ein Kind ihr eigen nannte. Sie hatte Fantine gerichtet, verurteilt und das Urteil vollstreckt. Fantine fing an, grobe Hemden für die Soldaten der Garnison zu nähen, und verdiente 60 Pfennig den Tag. Ihre Tochter kostete sie 50 Pfennig. In dieser Zeit fing sie an, bei Thenardiers im Rückstände zu bleiben. In der ersten Zeit hatte sich Fantine so sehr geschämt, daß sie nicht auszugehen wagte. Wenn sie aus der Stratze ging, fühlte sie, daß man sich hinter ihr umsah und mit den Fingern aus sie zeigte. Sie mußte sich an die Geringachtung gewöhnen, wie sie sich an die Armut gewöhnt hatte. Allmählich faßte sie sich. Rach zwei oder drei Monaten schüttelte sie die Schani ab und ging aus, als wisse sie nichts. „Es ist mir alles gleich," sagte sie. Die übermäßige Arbeit griff Fantine an und das trockene Hüsteln nahm zu. Früh aber, wenn sie mit einem halb zerbrochenen Kamme ihr schönes Haar kämmte, das wie goldige Seide um sie floß, hatte sie eine Minute glückliche! Koketterie. Sie war gegen Ende des Winters entlassen worden; der Sommer verging, aber der Winter kam wieder. Die Gläubiger drängten Fantine. Sie verdiente zu wenig. Ihre Schulden nahmen zu. Thenardiers schrieben alle Augenblicke Briefe, deren Inhalt sie tief betrübte, „Wieviel geben Sie mir für die Haare?" während sie das Porto kaum erschwingen konnte. Eines Tages schrieben sie ihr, die kleine Cosette habe in der schrecklichen Kälte ganz und gar nichts anzuziehen, sie brauche ein wollenes Röckchen und sechs Frank wenigstens müsse die Mutter schicken. Sie empfing den Brief und hielt ihn den ganzen Tag zitternd in den Händen. Abends ging sie zu einem Barbier an der Straßenecke und nahm ihren Kamm ab. Ihr wunderbar schönes blondes Haar „rieselte" ihr bis über die Hüften. „Wieviel geben Sie mir dafür?" fragte sie. »Zehn Frank." „Schneiden Sie es ab!" Sie kaufte ein gewirktes wollenes Röckchen und schickte es an Thenardiers. Diese gerieten außer sich darüber. Geld hatten sie haben wollen. Das Röckchen gaben sie eine, ihrer Töchter und die arme Cosette mußte weiter frieren. Fantine aber dachte bei sich: „Nun friert doch mein Kind nicht mehr. Mit meinem Haar habe ich es gekleidet." In ihrem Herzen aber arbeitete eine finstere Macht. Lange hatte sie die Verehrung aller für Vater Made leine geteilt; jetzt wiederholte sie sich solange, daß er sie doch vertrieben habe und an ihrem Unglück schuld sei, bis sie auch ihn haßte und ihn ganz besonders. Eines Tages erhielt sie von Thenardiers einen Brief folgenden Inhalts: „Cosctte hat die Krankheit bekommen, die bei uns umgeht. Das Friesel nennt man es Die Ärzte verschreiben teure Medizin. Wir können sie nicht mehr bezahlen. Wenn Sie nicht vierzig Frank binnen acht Tagen schicken, muß die Kleine sterben." Sie lachte laut auf. Als sie über den Markt ging, sah sie viele Leute um einen seltsamen Wagen stehen, von dem herunter ein rot gekleideter Mann eine Rede hielt. Es war ein '- rum- reisender Marktschreier und Zahnarzt, wclr'e dem Publikum vollständige Gebisse, einzelne Zähn., Zahn pulver und Zahntinkturen anbot. Fantine mischte sich unter die Leute und lachte mit den anderen über die Art, die für die Gemeinsten und für die Vornehmen zugleich eingerichtet war. Der Markt schreier sah das lachende schöne Mädchen und sagte plötzlich zu ihr: „Sie, mein Fräulein da, die Sie lachen, Sic haben wunderschöne Zähne. Wollen Sie mir sie verlaufen, zahle ich Ihnen zwei Napoleons dafür." „Alle?" fragte Fantine. „Die beiden vorderen oben und unten," antwortete der Mann. „Das ist ja gräßlich!" Fantine eilte schnell hinweg und hielt sich beide Ohren zu, nm die heisere Stimme des Mannes nicht mehr zu hören, der ihr zurief: „überlegen Sie sich's, schönes Kind. Kommen Sie heute abend in die „Silberne Linde", da finden Sie mich." Am anderen Morgen früh, als die gute Nachbarin Margarete vor Tagesanbruch in das Stübchen Fantines kam — denn sie arbeiteten immer zusammen und er sparten so ein Licht — saß Fantine blaß und kalt au' ihrem Bette. „Jesus!" rief Margarete aus. „Was ist Ihnen Fantine?" (Fortsetzung folgt.)