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Wilsdruffer Tageblatt : 09.02.1927
- Erscheinungsdatum
- 1927-02-09
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192702092
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19270209
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19270209
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1927
-
Monat
1927-02
- Tag 1927-02-09
-
Monat
1927-02
-
Jahr
1927
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 09.02.1927
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plötLenler. Von -unserem ständigen Mitarbeiter. Berlin, im Februar. Die Strafanstalt Plötzensee-Berlin gehört zu den meistgenannten und auch bekanntesten Gefängnissen Deutschlands. Immer wieder erscheint ihr Name in den Spalten der Zeitungen, wenn von gefährlichen Ver brechern, von Hinrichtungen, Fluchtversuchen usw. die Rede ist. Die Strafanstalt Plötzensee ist kein großes Einzel gebäude, sondern eine kleine Stadt für sich mit allen Ein richtungen und Anlagen einer solchen und einer Durch- schnittsbevölkerung von 1500 Gefangenen. Sie ist — wie das Altchinesische Reich — eingeschlossen von ?iner riesigen Umfassungsmauer, welche die vier großen Gefängnisse, das Lazarett, die zahlreichen Arbeitsbaracken, Verwaltungs gebäude, Ställe und Küchengebäude, die zum Gefängnis gehörige große Kirche, ein Gas- und Wasserwerk um schließt. Außerdem befindet sich eine Reihe von Höfen und Plätzen, ja selbst ein Sport- und Spielplatz für Jugendliche innerhalb der Mauer. Um 7 Uhr morgens beginnt das Leben in dieser Stad. 7—8 Uhr ist Wasch- und Frühstückszeit, von 8—0 Uhr Freistunde, in der die Gefangenen auf dem Hofe spazierengehen. Dann folgen, vom Mittagessen und Kaffee unterbrochen, 8—9 Stunden Arbeit bis zu einer abermaligen Freistunde vor dem Abendbrot. Arbeiten muß jeder. Und die Entlohnung richtet sich je nach der Leistungsfähigkeit des Betreffenden. Zwei Drittel dieses Lohnes erhält der Staat, ein Drittel der Gefangene. Von dem Geld des Gefangenen legt die Anstalt die Hälfte als Spargroschen für den Sträfling beim Verlassen der Anstalt zurück. Die andere Hälfte — etwa 2—5 Mark im Monat — darf er als „Zubuße" zur Verbesserung der Nahrung, für Zigaretten, Zeitungen usw. verwenden. Besonders beliebt ist unter den Gefangenen der Kautabak, der — man denke! — erst ausgekaut, dann zerkleinert und zu „Kauki"- Zigaretten verarbeitet wird. Die Arbeiten der Gefange nen bestehen in der Herstellung von Bindfaden für die Neichspost, von Tüchern, Drahtgeflechten, im Flicken von Kleidern und Anfertigen von Beamtenanzügen. Daneben »verden die Schuhmacherei und andere handwerkliche Arbeiten fleißig betrieben. Für das körperliche Wohl der Gefangenen wird aus reichend gesorgt. An Verpflegung bekommt jeder pro Kopf und Tag 550 Gramm Brot, ein Liter Essen zum Mittag — von der guten Qualität dieses Essens konnte Ler Besucher sick selbst überreuaen: am Taae der Besichti ¬ gung gab es Erbsen mit Speck —, 50 Gramm Fleisch wochentags und 100 Gramm Sonntags. Außeroem er halten die Gefangenen zweimal am Tage Kaffee, an drei Wochentagen abends belegte Brote, vor allem mit Leber- wurst, an den übrigen Wochentagen warme Suppe. — Auch auf das geistige Wohl ist man bedacht. So ist bei spielsweise für die Gefangenen bis zum 30. Lebensjahre Schulpflicht vorgeschrieben und alle dürfen auf Wunsch an den regelmäßig stattfindenden Gottesdiensten teilnehmen. Das Bestreben der Anstalt zielt Yin auf die Besse- rungderVerbrecher. Ein wohldurchdachtes Stufen system dient diesem Zweck. Nach sechs Monaten kann ein Gefangener bei guter Führung zu Stufe 2 aufsteigen, die ihm eine Reihe von Vergünstigungen gewahrt, beispiels weise die Erlaubnis zur Benutzung der Bibliothek, zum Schreiben von Briefen usw. Nach weiterer guter Führung gelangen die Sträflinge in Stufe 3, die ihnen u. a. die Berechtigung gibt, ein Gnadengesuch einzureichen. In dieser Stufe steht den Gefangener» auch ein Versamm lungszimmer mit Radio zur Verfügung. Für die Weiterbildung der jugendlichen Gefangenen wird durch Unterricht und Vorträge, ja selbst durch Konzerte gesorgt. Trotzdem wäre es sehr falsch, anzunehmen, daß das Gefängnis eine Art behaglicher Heimstätte wäre. Es hat auch seine düsteren Seiten. Schon der Spaziergang der Ge fangenen in der Freistunde erscheint als überaus trostlos. In Abständen von ungefähr einein Meter gehen sie wort los eine volle Stunde lang immer im kleinen Kreise hinter einander her. Immer im Kreise! — Dann gibt es auch strafen für nicht gute Führung, beispielsweise Arbeits- unlust u. dgl., die schwer zu tragen sind. Vor allem die gefürchtete Arreststrafe, die auch heute, trotz der Ab schaffung des Dunkelarrests, noch schlimm genug wirkt und mit der Entziehung einer ganzen Reihe von Ver günstigungen verbunden ist. Dazu kommt der furchtbare Druck der ganzen geistigen Atmosphäre, die häufig genug sie Strafgefangenen zum Selbstmord treibt. Besonders erschütternd ist der Umstand, daß dieses Gefängnis als tageweiser Aufenthaltsort für die zur Hinrichtung bestimmten Verbrecher dient; denn hier im Hofe des Gefängnisses werden die Hinrichtungen voll- wgen. Noch heute, 150 Jahre nach der Erfindung des Fallbeils (Guillotine), wird die Hinrichtung mit dem Handbeil vollstreckt. Hier müßte endlich — auch nach serMeinungderJnspektoren — eine Änderung sintreten. A. H. Beruf»- und Lehrttngsfragen. Heinrich Rode- Grumbach. Alljährlich, wenn die Ostermonate kommen und Söhne und Töchter die Schule verlassen, dann wird über Berufsberatung viel gesprochen und geschrieben. Die Sozialdemokraten und Kommunisten wollen das Pro blem lösen durch folgenden Antrag der soz. Abgeordneten Frau Bohm-Schuch (Drucksache Nr. 1.066), welcher lautet: Der Reichs tag wolle beschließen, die Reichsregierung zu ersuchen, schleunigst Maßnahmen zu treffen, um dem gewerblichen Lehrstellenmangcl für Knaben und Mädchen abzuhelfen. — Der kommunistische Abgeordnete Rödel geht weiter und erklärt, daß 75 Prozent des Handwerks nur noch Reparaturwerkstätten wären, die Lehrlinge j überhaupt nichts lernten und keine tüchtigen Facharbeiter wär- i den. Das Erlernen des Handwerks müßte in Staatsregie über- j nommen werden. Diese Entschließung ist mit Hilse der Kommunisten, Sozial demokraten und des Zentrums angenommen worden. So be dauerlich das ist, so traurig ist es auch. Wenn eine Frau einen derartigen Antrag stellt, das kann man übersehen, wenn aber der kommunistische Abgeordnete Rädel behauptet, daß es nur noch z 26 Prozent Lehrstellen gibt, wo was gelernt wird, dann hat er nicht die geringste Kenntnis von unserem heutigen Lehrverhält nis. sich möchte Herrn Rädels Zöglinge aug der praktischen Staatslehranstalt kennen lernen, was mir leider bei meinem Alter nickst mehr möglich sein wird, denn es gehören doch" zehn bis fünfzehn Jahre dazu, ehe die staatsgelehrten Handwerker ihren selbständigen Beruf ausführen können. Oder sollten diese Zöglinge gleich als Meister aus der Lehre gehen und dann mit ihren Gehilfen hoffentlich nur noch sechs Stunden arbeiten. Aber -ich bezweifle, daß auch diese Herren eine -Existenz finden, weil man ja alles in Staatsbetrieben ausführt und dem Handwerk den fruchtbringenden Boden abgräbt. Nun, -wir sind auf -dem schönsten Wege und lange wird es nicht mehr dauern, dann arbeitet der Staat aus seinen vielen Regiebetrieben die Steuer selbst für sich heraus und dann, Bürger, ist dir geholfen! Ich empfehle der sozialistischen Abgeordneten Frau Bohm- Schuch sowie dem kommunistischen Abgeordneten Rädel, unter ¬ ziehen Sie sich doch zu Ostern mal der Mühe und besuchen Sie eine fach-gewerbliche Gesellenstück-Ausstellung. Sie werden eines anderen belehrt -werden, und wenn Sie was von Handwerks leistungen verstehen (?), werden Sie zu der lleberzeugung.kommen, baß man nicht -Gesellenstücke, nein, die gediegensten Meister stücke dabei findet. Nur schade, daß diese tüchtigen Menschen -meistens -ihren Beruf nicht ausführen können, weil die vorerwähnten Parteien dafür sorgen. Unsere heutigen -ganzen Lehrverhältnisse sind nur Vorschulen, der ganze Schwalch von Berufsberatung usw. -ist nur ein Schmet- terl-ingsflug, denn 50 Prozent der erlernten Berufe sind umsonst getan, weil die -Hälfte zu anderem Broterwerb -übergehen muß. Es sind die Z-estverhältnisse, -die mitspielen, aber dennoch sollten sich Eltern nicht abhalten lasten, -ihrem Kinde nach Möglichkeit einen Beruf erlernen zu lasten, zu dem das Kind Lust hat. Wenn ich als Berufsberater noch ein Wort sagen will, so ist es -das: Wenn du einen Sohn oder eine Tochter hast, erziehe sie zu -Gehorsam, Fleiß und Ehrlichkeit, dann wird es dem Lehrmeister nicht schwer fallen, auch dein Kind -auf höhere Bahn zu bringen. Z-um Schluß wünsche ich -diel -Glück der neuen staatlichen Be rufslehrfabrik und wenn der gelernte Rcichsfchornsteinfegerlehr- lin-g sein Gesellenstück -an meiner Steigesse gemacht hat, bitte ich Frau Bohm-Schuch, mit Herrn Rädel nachzuprüsen, um -das Reichsg-esellenftück -und die -Urkunde zu vollziehen. i kunMunk-progrsmm 1 Rundfunk Leipzig (Welle 365,8), Dresden (Welle 294). Donnerstag, 1v. Februar. 4.30:Dresd. Funkkapelle. Haydn: Ouo. „Oie unbewohnte 2njel". — Lieving: Alle Tage ist kein Sonntag, Lied — Lehar: Gold und Silber, Wal,er — Mendels sohn: Soniniernachtstraum, Suite. — Becce: Serenata. — Linke: Fraureuther Ponellanvüvpchen — Fall: Potp S 6.05: Aufwertung. S 7: Dr Boeßneck- „Temperament und Tharakter." S 7.45: Bortr. Dr. Tornms: „Goethe und Beethoven." D 8.15: Konzert und Rezitationen. Mitw.: Lotte Mäder-Wohlgemuth lEesang), Prof. Winds . <Rez., Leivz Sim.-Orch. Beethoven: Ouo. Goethes „Eg- mont" Lieder des Klärchen. S,ene zwilchen Klärchen und Bracken-" bürg am „Lgmont". Schlunnens. — Beethoven: Drei Lieber nach Gedichten von Goethe. Sechste Sinfonie (Pastorale). S 10.30: Funkstille. Königswusterhaufen. Donnerstag, 10. Februar. 2.30: „Die Art im Haus" D 3.30: Lehrer H. Bogen: Vom Weg d. Jugend lichen z. BerM <3 4: Pros. Dr. Gins: Förderungen d. öffentlichen Gesundheitspflege u. o Schule. D 4.30: Dr. Delekat: Pestalozzi und die religiöse Erziehung. T 5: Legationsrat Dr. Soehrmg: Gedanken zur Kulturpolitik und Kulturpropaganda. S 5.30: Prof. Dr. Stahlberg: Was wissen wir vom Meere'? V 6: Prof. Dr. Reu mann: Brotversorgung des deutschen Bolles. S 6.30: G. v. Eyseren, L. M Alfieri: Spanisch sür Fortgeschrittene. Q 6.55: Dichterstunde: Rainer Maria Rilke. Gedächtnisfeier. Eins.: Fr. von Rostih. Vor!.: Maria von Faber du Faur. Donnerstag, 10. Februar. Berlin Welle 483,9, 566. 12.30: Die Viertelstunde für den Landwirt. * 4.00: Gert Hartenau-Thiel: Si-Ben Jogirano, der Zauberer. 4- 4L0 bis 6.00: Kapelle Gebr. Steiner. 4- 6.15: Dipl.-Ing. W. Hönisch: Moderne Schweißtechnik. 4- 6.40: Otto Zarek: Das Drama der Gegenwart (Die Hauptströmungen im jüngsten Drama). * 7.05: Spanisch. 4- 7.30: Preuß. Wohlsahrtsminister Hirtsieser: Die Lockerung der Wohnungszwangswirtschaft in Preußen. 4- 7L5: Pros. Dr. Adolf Marcuse: Wesen und Bedeutung der Freimaurerei. * 8.15: Dr. Leop. Schmidt spricht über Beet hoven. 4- 8.30 : 200 Jahre Orchcstermusik. Dem Gedenken Beet hovens (1770-1827). Dirigent: Georg SM von der Berliner Staatsoper. Solist: Wolfgang Ross (Bechsteinslügel). 1. Ouvertüre zu „Die Ruinen von Athen". 2. Klavierkonzert Nr. 2, L-Dur, Op. 19. Wolfgang Rosö. 3. Symphonie Nr. 6, ^-Dur. Berliner Funkorchester. Heitere Umschau. Die Schwester. Ein Soldat, der mit seiner Geliebten am Arm in ein billiges Restaurant wollte, begegnete seinem Wacht meister und stellte sie ihm ehrerbietig als seine Schwester vor. »Ja, ja," war die Antwort, „ich weiß es, sie war auch einmal die meine." Ms de' WSdis-t EiseMhne. 's Zügle im Bottwartal. Im Württembergifchen Landtag hat kürzlich- der Abgeordnete Obenland an die Regierung die Anfrage gestellt, ob nicht die Bottwart-albahn, welche von Heilbronn bis Talheim normal- spur-ig, von hier aber bis Marbach schmalfpurig gebaut ist, -ganz als Bollbahn -ausgebaut werden könnte. Die Anfrage wurde be kanntlich verneint. Ais gewissenhafter Staatsbürger -und Steuerzahler wollte ich mich infolge -der Anfrage selber auch -über -die Verhältnisse im Bottwartal unterrichten und machte des halb -einen Ausflug nach Oberstenfeld. Mach -den babei gemachten Erfahrungen find bie Zugverbindungen auf -der Bahn nicht glänzend, aber ich möchte doch bei einem Ambau der Bahn nicht bas Wort reden, -denn -die Gegend verlöre damit eine ganz eigenartige und merkwürdige Einrichtung, wie -sie -die deutsche Reichsbahn wohl nicht mehr aufzuweisen hat, u-nd ein -Stück echt schwäbischer Gemütlichkeit. Laß birs erzählen, lieber -Leser, was ich alles auf meiner Fahrt erlebte. Nur schade, daß sie nicht verfilmt werden konnte. -Um 13.15 Uhr — Verzeihung! Man sagt noch 1,15 -Uhr — -langte ich im Eilmarsch auf dem Sü-dbahnhof Heilbronn an, eigentlich zu spät, -denn ba sollte -der Zug schon abfahren. Ein Eisenbahner, -der mich ankeuchen sah, rief mir zu: „Nur lang sam, Herrle, 's pressiert net, mir wartet, bis -alles do ist". Das freute mich: kann man rücksichtsvoller sein? Und der Schaffner half -mir zudem beim Einst-eigen. Der erste Wagentritt -ist -näm lich 75 Zentimeter -über dem Geleise, so -daß alte Leute nicht gut hi-naufkommen. Das -weiß -der Schaffner und schiebt -dienstbe flissen -die Hintere Seite -der vorderen nach. Die ganze Reise n-ach -Oberstenfeld -dauerte zweieinviertel Stunden; das kann aber nicht Wundernehmen, wenn man be- denkt, -daß -bas 'Zügle in dieser Zeit -23 Kilometer, -das heißt in der Stunde -durchschnittlich volle 10 Kilometer zurücklegen -muß. Za, wenn man -den Aufenthalt auf ben Stationen in Anschlag bringt, so -darf man wo-hl sagen, es «kommen streckenweise -nicht weniger als 15 Kilometer auf die Stunde, eine fabelhafte Ge schwindigkeit angesichts -der 5 Kilometer, welche ein Fußgänger leistet! Vom Süd-bahnhof -an -gings zuerst -auf die Normalspur. Das wußte das Züglein; es warf sich in bie Brust und verkün dete es mit -lautem Bubbubbubb! Dann zvgs wacker an und brachte auch richtig alle seine Wagen fort — eine Viertelstunde später als der Fahrplan besagt, -doch hatte kein Reisender Elle. Zwischen bem -Südbahnhof -und Oberstenfeld liegen noch sechs Stationen, -deshalb kann man es -verstehen, baß man auf -der Strecke zweimal umsteigen und breimal die Fahrkarten vorzeigen muß. Einzelne Reisende schimpfen darüber; mit Unrecht, bie Lisenbahn-direftion weiß jedenfalls gut, weshalb das so sein muß. Der Schaffner nahms auch mit Gelassenheit auf; er kennt das seit vielen -Fahren. Zuerst -mußte man in Talheim umsteigen; -denn der Nor- maiz-ug kann bloß bis hierher fahren und geht bann wieder zurück; dafür kommt aus -dem Bottwartal -das eigentliche Se- kundärzüglein oder der Orientexpreß, wie böse Leute bas arme Ding nennen. Aber es kam nicht gleich, also gads einen langen Aufenthalt; -und -als es endlich baherschn-aufte, mußten vier Zentner Frachtgüter, 12 Postpakete und zwei Briefboutel einge- laden werden, -das «kostet Zeit. Z-u-dem wollte sich eine Sau, -die auch mit mußte, bas nicht gefallen lassen; sie entsprang, und nun gabs eine lange Hetzjagd, an der -sich zuletzt -auch die Reisenden beteiligten, bis sie endlich ein Beamter am Schwanz erwis-cht-e und trotz allem Widerstreben unter allgemeinen Bravorufen rück wärts an den Wagen zog. Jetzt, ba muß man -doch sagen, -daß ein solches Züglein seine Berechtigung hat; bei einem normalen Au-g -wäre die Sau einfach nicht mehr mitzubringen gewesen. Der Zugmeister sah noch schnell das Untergestell -der Wagen -durch, ob sie die aufgehalsten Lasten auch tragen könnten, bann fuhr das Züglein flott weg und kündigte mit freudigem -Bimmeln -durch den ganzen Ort durch und noch lange nachher an, daß es seiner Aufgabe gewachsen sei. Aber bald begann die Steigung nach Schozach; da wurde es kleinlaut, fing an zu keuchen und zu stöhnen und immer langsamer ging die Fahrt, höchstens noch sechs Kilometer in -der Stunde, so «daß wir Reisenden es uns über legten, ob wir nicht «a-ussteigen und bie Steige hinauf zu Fuß gehen wollten-, -um -das brave Züglein zu erleichtern. Doch der Schaffner sagte: sie hätten zwar heut 15 Zentner Fracht und in jedem der -drei Personenwagen sitzen auch noch -mindestens 10 Reisende, da -gehe es eben langsam, aber er garantiere uns, daß wir den Buckel hinaustommen. Der Heizer legte auch zwei große Briketts nach; ba bekam -die Lokomotive neuen Mut, -unb mit gewaltigen Buff, buff, buff, zog sie frisch an, aber babei ließ sie einen Ton hören, wie -ein sterbender -Schwan, -und eine schwarze Wolke zog wie eine lange Trauerflagge -angesichts solcher Ar beit hinter ihr -her. Wir hatten wirklich Mitleib. ,«Indessen behielt der Schaffner recht: Wir -kamen -den Buckel hinauf -und glück lich nach Ilsfeld. Daß das Züglein nach solcher Anstrengung r-uhebedür-ftig war, versteht sich -von selbst, unb darum gabs hier etwas Aufenthalt, so -daß man den schönen Marktflecken besich tigen konnte. Nachher gings wieder weiter, wieder langsam, langsam, so daß ich ärgerlich rief: Ach, -das erlebt man ja gar nicht, bis man -da nach Oberstenfeld kommt! Doch der Schaffner tröstete mich, ich sähe ja noch gesund aus, wenn ich -auch schon älter sei, da sei keine -Gefahr. Wir kämm nach Beilstein, wo wieder alles aussteigen mußte. Dafür wurde uns aber verraten, daß in zwei Wirt schaften Metzelsuppe mit neuem Riesling -sei; wir hatten eine halbe Stunde Zeit, man warte übrigens auf uns. Also gingen wir ins Städtiein, die einen zu diesem, die anderen zu jenem Wirt; ich dahin, wo -die -kleinere Schweinsblase hing.' Natürlich bestellte ich das Heilbronner Nationalgericht: -Kesselbrühspätzie und Griebenwurst. Aber wie ich -noch im besten drin war, hörten wir einen Pfisf -von der -Ä>komv1ive -un-d der Wirt sagte uns, jetzt müßten wir gehen, er wolle -uns aber unser Essen aufheben, bis wir abends -zurückkommen. Also stiegen wir -wieder ein. Auf dem Heimweg, da gin-gs nun freilich ganz anders. Es pressierte -dem Züglein wie einem Gaul nach dem Stall. Seine großen Lichteraugen funkelten, als wolle es sagen: Wartet nur, jetzt will ich euch etwas vormachen: jetzt fällt -die Bahn. Es schlug auch sogleich einen flotten Trab an -und ließ -uns kaum Zeit in Beilstein, -unsere Metzeisuppe vollends zu erledigen. -Ja, von -Ilsfelld bis Talheim hinab, da „sauste" es wirklich, wenn man diesen Heilbronner Ausdruck benutzen darf; mit «Stolz sagte der Schaffner: Wir machen eben 19 Kilometer in der Stunde und seine Schnurrbartspitzen richteten sich -dabei himmelhoch jauchzend in die «Höhe. -Ein paarmal ließ bie Lokomotive einen 'langge zogenen Pfiff hören, wie wenn sie den Leuten hätte sagen wollen: Seht, so fahren -wir Schnellzüge! And in Talheim wäre das Züglein -vor Acbermut fast aus den Schienen- gesprungen, hätte nicht unser braver «Schaffner noch rechtzeitig scharf gebremst. Aber dem Züglein war noch ein -großer Schmerz b-eschieden. Von Sontheim nach -Heilbronn st-eigts nämlich wieder etwas, und es fuhr deshalb langsam, beim Uebergang über die -Straße in Sontheim sogar -sehr langsam. Tas benützten zwei zwölf jährige Mittelschüler -von Heilbronn, um auszusteigen und einen Wettlauf mit dem Züglein zu unternehmen. Der Loko motivführer merkte -es und stellte seinen Hebel sofort auf Voll dampf und der Heizer warf zwei Schaufeln voll Kohlen ins Feuer. Das Züglein schnob und keuchte, und die -Wagen ächzten ob -der unerhörten Anstrengung. Wetten wurden abgeschlossen, wer zuerst ankomme, der Schaffner schimpfte auf die beiden Lausbuben -mit ihrem verwegenen Unternehmen, das ja doch vergebens sei. Aber -siehe da, als wir auf -den Südbahnhof ein fuhren, da standen die beiden schon da und erhoben ein Tri umphgeschrei. Welche Blamage für das Züglein trotz aller An strengung! Die Schnuibartenden «des Schaffners hingen ,^u Tode betrübt", schlaff, wie zwei verregnete Trauerflore herab- Als ich ausgestiegen war, sah ich mir bie Lokomotive an, sic gab keinen Laut mehr von sich, war ganz feucht, wie ein schaum bedecktes Rennpferd, und vorn am Rad flossen -große, schwarze Tropfen Oels wie Tränen herab. Kein Wunder! Sie dauerte mich -und ihr «Züglein mit. Wir hatten aber auch -die Heimfahrt mit ihren 23 Kilometer in 1 Stunde 58 Minuten zurückgelegt. Meine Erfahrungen mit dem Bottwartalbähnlein fasse ick dahin zusammen: Es gibt nichts Gemütlicheres, als eine Fahrt darauf, wer aber Eile hat, der tut doch besser, wenn er zu Fuß geht. Rektor G. A., Heilbronn.
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