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WMtt fm MNrE 1. Beilage zu Nr. 81. Sonnabend, den 11. Juli 1903. überliefern? Dann kam Weickert ins Zuchthaus, seine Gläubiger hatten dock das Nachsehen, denn neunzehntel des unterschlagenen Geldes waren doch verspekulirt! und eine junge Frau und ein unschuldiges Kind standen dann ganz hilflos auf der Welt. So versprach er denn dem ehemaligen Freunde, den Willen zu thun und Weichert war hinausgestürmt durch die Nacht nach dem Bahnhof. Er hatte vierzehn Tage Urlaub genommen und es so schlau eingerichtet, daß man die Unterschlagungen erst ent- decken konnte, wenn er nach Ablauf seines Urlaubs nicht zurückkam. Während man ihn in Tirol glaubte, schwamm er auf dem Ozean, und als man sein Verbrechen entdeckte und der Telegraph überall hin spielte, um ihn zu suchen, befand er sich auf dem Marsche nach Clondyke. Zwei Jahre blieb er auch für feinen Freund Bernburg verschollen — dann aber schickte er ihm Geld und schrieb, er sei vom Goldlande zurück, habe sich viel zusammen „gediggt", wolle sich nun eine Farm oder ein „Kuwsnsss" kaufen, und, sobald sein Verbrechen verjährt sei, Frau und Kind nach kommen lassen. Das war Herrn Bernburgs Geheimniß, das er ängstlich gehütet hatte — denn wenn es herauskam, so verhaftete man Weichert in Amerika und ihn als Hehler hier. Nun war seit vierzehn Tagen seine Frau hinter die Sache gekommen — so schien es ihm wenigstens — denn sie sagte immer drohend, sie sei nun hinter seine Schliche gekommen. Es war furchtbar peinlich! Was wußte sie denn nun? Wußte sie Alles oder war sie nur dahinter gekommen, daß er an jedem Ersten zu Frau Weichert dinging und ihr das Geld persönlich in's Haus trug? Denn nicht um Alles in der Welt hätte er es in irgend einer Form der Post anvertraut! Und Frau Bernburg hütete sich, das Geheimniß preis zugeben! Ein Fächer und ein Spitzentaschentuch in der Brusttasche von ihres Mannes Paletot — das war doch mindestens verdächtig gewesen! Und wie schön es gewirkt hatte. Den Frühlingshut und das Sommerjacket, welches er sonst immer erst nach Ostern zu bewilligen pflegte — der Tyrann! — das hatte sie nun schon 8 Tage vor Palmsonntag erhalten! O — wie schön war es doch — den Tyrannen so unterzukriegen! Und da fiel ihr etwas Anderes ein: Fritzchen mußte jetzt, elf Uhr — ja wohl aus der Schule kommen und sein Osterzeugniß mitbringen. Wie das wohl ausgefallen war? Der Junge war ein Ausbund von Klugheit und Fleiß — aber leider auch ein Ausbund an Ungezogenheit. Schon das vorige Quartal hatte man gedroht, man würde den elfjährigen nicht nach Quarta versetzen, wenn er nicht im Betragen gewaltige Fortschritte machte. Richtig — da ging die Korridorglocke — etwas schüchtern — das mußte Fritz sein und offenbar hatte er kein gutes Gewissen. Ja er war's. In der einen Hand das blaue Heft — in der anderen mehrere Palmkätzchen. „Mütterchen," sagte er mit dem vergeblichen Versuche, unbefangen zu scheinen, „ich habe Dir hier einige Palmen mitgebracht — morgen ist ja Palmsonntag — ich weiß. Du magst die Dinger so sehr gern — und da — „Komm her, mein Sohn — die Palmen wirst Du nachher wohl besser gebrauchen können," sagte die Mutter ernst, „und nun zeig mir mal Dein Zeugniß!" Na ja, da hatte man's. Betragen: verdient oft zu § sprechen: Sie doch auf mich, Herr, ich bitt' dich, Lenke mich nach deinem Sinn; Dich alleine ich nur meine, Dein erkauftes Erb' ich bin. Laß dich finden, laß dich finden; Gieb dich mir und nimm mich hin. Ium 5. Sonntage nach Trinitatis. . 1. Petri 3, 8: Seid allesammt gleichgesinnet, mitleidig, brüderlich, barmherzig, freundlich. Der Thatbeweis des Christenthums — das ist es, was der Apostel von Denen fordert, die sich Christen nennen. Ein elendes Ding ist es um ein Christenthum, das in Worten — und wären es selbst hochtrabende und wohl klingende Schlagworte — besteht. Beweisung des Geistes und der Kraft, das ist s, was die Christen heutzutage in sonderheit nöthig haben, soll anders die Welt für Christum gewonnen werden. Thätige Liebeserweisung in Christo - ist sie bei uns zu finden? Haben wir ein Reichsziel? Sind wir gleichgesinnet untereinander? Auf Erden sind ja kaum zwei Menschen gänzlich einer Gesinnung. Aber hier hat der Apostel eine höhere Einheit im Auge, die Einigkeit in dem Einen, was noth ist. Gottes Wille, Plan und Weisheit soll die Christen regieren. Das Lob seiner herrlichen Gnade, der einmüthige Bau seines Reiches soll ihr Ziel sein. Die Welt ist gleichgesinnt in dem Haß gegen den Herrn und die Seinen; die Gläubigen sollen eins sein in der Liebe zum Herrn, ein einig Volk von Brüdern. Eintracht macht stark, Ein tracht baut auch das Reich des Herrn. Sind wir solche, die seines Reiches pflegen, daß er unsrer schwachen Hand armes Werk lohnen kann mit reickem Segen? Haben wir ein Mitgliedschaftsgefühl, sind wir mit leidig? Verderben sind wir entronnen, einen Brustschmerz haben wir gefühlt, eine Gnade hat das Herz gestillt, ein Geist hat uns gezeugt, ein Glaube belebt, eme Liebe beseelt, eine Hoffnung erfüllt uns — wie sollte da das Mitleid fehlen, das Mitfreuen mit den Fröhlichen, das Mitweinen mit den Weinenden, das thatkräftige Mit leid, das allein der Beweis ist, daß ein Herz an der Liebe Christi entzündet ist? Einer für Alle und Alle für einen, Traaen wir^ das an uns? Leisten wir einander treue Vilaerhilfe auf dem Wege zur himmlischenHei- math? Sind wir brüderlich? Sind Christen wahr haftig Kinder Gottes durch Jesum Christum geworden, so geht all ihr Werk, Denken und Wesen aus dem Be wußtsein der Zugehörigkeit zu einer Familie hervor. Aber ist es nicht auffallend, daß die Menschen viel eher in irdischen Dingen sich brüderlich erweisen, als in himm lischen Dingen? Liegt es daran, daß der Butzweg und die Bußzucht bei jedem einzelnen Menschen verschieden und selten dem andern ganz recht ist? Alle Kinder eines Hauses fügen und schicken sich ineinander und klammern sick bei aller Selbstständigkeit doch nicht an ihre Eigen heiten, haften nicht an ihren Gewohnheiten, sondern üben die Selbstverleugnung durch die That: Das erbaut nach außen, das kräftigt und fördert innerlich, das erzeugt je mehr und mehr aufrichtige Herzensgüte. Hat die der Herr nicht auch an dir bewiesen, da er dich rettete, als du noch vor seinen Feinden warst? Stehst du aber in der Erfahrung der Liebe, mit welcher er dich aus der Nacht des Todes erhoben, sollte dir das nicht einen barm herzigen, einen herzhaften Sinn geben, der dich unwider, stehlich zu Thaten drängt und dich unbarmherzig aus dem Schwelgen in Gefühlen herausreißt? Mitleidige Worte sind tröstlich, aber auf die Dauer würdest Du ein leidi- -«'M«» in der Stadt zu nehmen. Dke Sorge für das Familiengut konnte bei der magern Rente einerseits und solchen Vorteilen andererseits nicht in Frage kommen. Ringelmann war bereits in Beziehung zu leitenden Per sönlichkeiten getreten, auf welche sein schlichtes, offenes Wesen, wie der Schwager behauptete, den besten Eindruck machte. Jeden Tag konnte die Gesellschaft sich endgiltig konstituieren und die Wahl des Aufsichtsrates war dann das nächste. Und mitten in diese erwartungsvolle, große Zeit fiel nun der Besuch in Langselden. Johanna hatte sich den ganzen Winter daraus gefreut, sie konstatierte diesen Umstand zu ihrer eigenen Rechtfertigung, jetzt aber kam ihr die Reise ungelegen. Eine leise Anspielung, ob der Papa nicht allein reifen wolle, wurde von diesem mit so sichtlichem Verdrufse entgegengenommen, daß sie von jedem weiteren Versuche abstand; auch die Mutter drang zu ihrer Ueberraschung in sie, allerdings aus einem Beweggründe, welcher sie heftig erschreckte, als sie ihn erfuhr Sie sollte nämlich Regina im geheimen zu dem Verkauf des „Adlers" zu bestimmen suchen. Mit der hohen Kaufsumme, die sich dafür erzielen ließe, könnten die Leutchen ja völlig sorglos sich in das Privatleben zurückziehen. Man könnejdoch einem Grasen Leining nicht zumuten, daß er eine Wirst» zur Schwägerin bekommen soll. Sie wisse bestimmt, daß dieser Um stand den Entschluß des Grafen wesentlich erschwere. Diese Zumutung der Mutter zerriß sogar auf einen Augenblick den rosigen Drift, der für sie alles umgab, und ließ sie klar sehen. Sie dachte des Abschiedes von Regina, der mahnenden Worte der Schwester, ihres Versprechens, immer treu zu bleiben der alten Heimat. Sie dachte der biedern Veroni, der lieben Küche mit den blinkenden Kesseln. Das ganze Märchen ihrer Jugend blühte auf in ihrem Innern, in -seinem ganzen heimlichen Zauber. Und sie sollte die Schwester aus diesem sichern Heim, däs über ein Jahrhundert im Besitze der Familie ihres Mannes, vertreiben? Nimmermehr könnte sie das über das Herz bringen, selbst wenn es wiMch ihre ZMnft galt. ger Tröster, wolltest du es bei ihnen bewenden lasse». Barmherzige That ist die Krönung des mitleidigen Wortes. Wahres Christenthum ist eminent praktisch, greift mächtig ins Leben, läßt auch die un-scheinbarsten Bezieh ungen des Lebens nicht unberührt. Wahre Christen sind freundlich. Freundlichkeit ist der Wahlspruch im Wandel der Christen, der sich in seinen Verbindungen mit den Menschen überall bewährt, in welcher Stellung sie auch leben mögen. Bei wahren Christen trägt Alles, Herz und Hand, Auge und Mienen das Zeugniß und Gepräge der Jnnewohnung dessen, den sie einst nannten „die Freund lichkeit von Nazareth." Solche Freundlichkeit ist im Grunde nichts anderes als die Demuth vor Gott und den Menschen, daß man das Dienen als eine Erhöhung, nicht als eine Erniedrigung ansteht. Wie stehts um dein Christenthum, mein lieber Leser? Jst's Schein oder ists Kraft, That, Wahrheit? Sei es, was es wolle, ich weiß für dich und mich nichts Besseres als hinzutreten vor unsern Herrn und Meister und zu ihm Sein Geheimmtz. Novellistische Skizze von Leo P. Eichel. (Nachdruck verboten.) Im Hause des Herrn Rechtsanwalt Bernburg herrschte Mißstimmung! Der Herr Rechtsanwalt liebte es, den Haustyrannen zu spielen und in dieser Eigenschaft machte er jetzt ein über das andere Mal Fiasco. Seine Frau fing nämlich an aufsässig zu werden, seine dreißigjährige, wunderhübsche Frau. Sie sagte immer, sie wisse etwas von ihm und das setzte ihn in Angst und Schrecken. Er war eine durch und durch moralische Natur — aber er hatte ein Geheimniß vor seiner Frau. Das war eine sehr dunkle Geschichte: Ein Freund von ihm, der Kassirer bei einer großen Bank gewesen war, hatte umfangreich: Unter schlagungen begangen und war nach Amerika geflüchtet, Frau und ein vierjähriges Kind mittellos — wie man glaubte, zurücklassend. Ehe er die Flucht ergriff, hatte sich ihm fein Freund Weichert anvertraut und ihm von den unterschlagenen Geldern einen Theil anvertraut für sein Weib und sein Kind. „Wenn ich's meiner Frau da lasse, so werden sie mir's nehmen," hatte er gefleht — „nimm Du's und bring's den Meinen monatsweise. Zwei Jahre kommen sie damit hin — und dann werde ich hoffentlich soviel haben, daß ich schicken kann — und ich werde schicken — verlaß Dich draus — aber nicht an meine Frau — das könnte Verdacht erregen! Dir werd ich's schicken — und des Namens Freeman werde ich mich bedienen drüben — ick nehme mir nur soviel mit, daß ich die Reise nach dem Westen bestreiten und mir dort eine Farm oder sonst etwas kaufen kann. Dann laß ich die Meinen kommen." In Bernburg hatte es gekocht. Was sollte er thun? Sollte er den Verbrecher packen und ihn der Gerechtigkeit Vie Sonne. 63 Roman von Anton Freiherr von Perfall. „Gar vichis Unrechtes," entgegnete Johanna, „ich bin nicht so engherzig." „Das weiß ich, Sie reiten ja auch mit Graf Leining, un bekümmert nm ras Gerede einiger Spießbürger . . Johanna wurde feuerrot, er rächte sich für ihre Bemerkung — also stand ihm das Mädchen näher — es mar seine Ge liebte. „Ein sonderbarer Vergleich, Herr Treuberg," entgegnete ! sie, sichtlich verletzt sich abwendend. , Di e Ouvertüre begann. Treuberg erhob sich. „Verzeihung, Fräulein Johanna," flüsterte er, „es war nicht böse gemeint." s „Ich verzeihe Ihnen alles bis auf eins. . . Lassen Sie ! sich nicht von Ihrem guten Herzen aus der Bahn drängen, — ich steife mich einmal darauf, Ihre Vorsehung zu sein — noch dazu jo nahe am Ziele." „Nicht so nahe, w e Sie, fürchte ich." „Glauben Sie!" si as prickelnde Gefühl des Erfolges durch- j schauerte sie. „Wer weiß!" Ter Akt begann. Treuberg ging. Seit dieser Zeit hatte > sie ihn nicht wehr gesehen. Die Ausführung der „Sonne" i wurde für Mitte Mai an gekündigt. Das Interesse daran wurde - erstickt durch die Fülle der der Saison entsprechenden Ver gnügen, zu allem Nebenfluß sanden zur selben Zeit die großen i Mairennen statt. Gras Leining war daran hervorragend be- j teiligt. ! Die Reklame für das Sladterweiterungknnternehmen füllte l bereits die Spalten aller Zeitungen. Eine neue Aera für M. wurde von allen Seiten verkündigt, eine Tat, würdigdergroßen Huwanitütsidee, welche die ganze Bevölkerung beseele. Baron Sternau war unermüdlich tätig, er war entschlossen, im Falle des Gelingens, seines Planes seinen Aufenthalt ganz Eine saubere Zukunft, die auf der Verleugnung, auf dem Verrat der ganzen Vergangenheit fußte. Die ganze Hohl heit der Anschauungen ihrer Mutter war ihr mit einmal klar. DasSchlimmstewarnur, daßsiesehrwohleinsah, die ganz« Gesellschaft teile dieselbe, ja, ohne Zweifel, Leining selbst. Eins Liebe, die an so lächerlichen Vorurteilen strandete. Heilsam«: Eckel faßte sie. Sie ließ die Mutter bei dem Glauben, ver Auftrag werde von ihr gewissenhaft vollzogen. Sie wollt« wenigstens verhindern, daß die Mutter selbst an Regina diese schmähliche Forderung stelle. Jetzt reiste sie gern. Es war ihr, als ob sie ein Unrecht abzutragen hätte an der alten Heimat, an allen Lieben dort, deren sie die Zeit über so wenig gedacht. Darunter drängte sich auch Marius, so sehr sie sich auch bemühte, nicht an ihn zu denken. Auch die Eitelkeit hatte ihr Teil an der plötzlichen Reiselust. Ein Blick in den Spiegel sagte ihr, daß sie Aufsehen machen müsse in Langfelden. Graf Leining begleitete sie und den Vater auf den Bahn hof. Johanna machte scherzhafte Anspielungen auf den „Adler", der sie jetzt auf zwei Wochen beherbergen sollte. Wie sie sich auf die saftigen Braten frene, direkt aus dem Rohr, auf die berühmten Langfelder Würste, die Spezialität ihres Schwagers, des Adlerwirtes, auf die gute Veroni und ihre blitzblanke Küche — alles, um ihn auszuforschen. Doch er lachte herzlich mit, bedauerte nur, nicht mit von der Partie sein können. Ja, ja, das ist eigentlich das Ideal, so eine gediegene, seste Existenz auf dem Lande, so vm Dorfmagnat, sagte er sogar zuletzt. Johanna war verblüfft. Entweder die Mutter hatte ge logen, der Graf dachte gar nicht daran, in dem Adlerwirt ein Hinderns seiner Werbung zu sehen, oder — der Graf, dachte überhaupt an keine Werbung. Bei dieser letzten An nahme beschlicb sie doch ein recht schmerzliche? Gefühl ein Ahschiedsweh von eLyem liebgewordenen Gedanken.