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ZchMM fiir NlÄrch - s f Beilage zu Nr. 9. Dienstag, den 20. Januar 1903. Vaterländisches. Wilsdruff, 16. Januar 1903. — Einen erfolgreichen Ehestifter nannte sich Gouverneur Leutwein von Deutsch-Südwestafrika in einem Vortrage, den er eben in der Kolonialgescllfchaft zu Leipzig dielt. Und das mit Recht, denn er hat be reits 90 Ehen vermittelt. Oberst Leutwein begrüßte es mit Genugthuung, daß deutsche Mädchen nach Südwest afrika auswanderten, und die Regierung fördere es mit allen Kräften, daß die deutschen Ansiedler auch deutsche Frauen heiratheten. Jedes deutsche Mädchen, das in Swakopmund lande, habe Aussicht, bald unter die Haube zu kommen. Uebrigens verfolge England in Südafrika neuerdings dasselbe System, indem cs englische Mädchen zur Auswanderung nach Südafrika ermuntere, um zu ver meiden, daß die englischen Soldaten Burenmädchen hei ratheten und so das Afrikanderthum gestärkt werde. Die Einwanderung von Buren in Deutsch-Südwestafrika sei hinter den Erwartungen weit zurückgeblieben oder, wenn man so wolle, hinter den Befürchtungen. Er, der Gou verneur, schätze die leistungsfähigen Buren sehr hoch, wenn er felbstverständlich auch auf ihren Farmen lieber deutsche Bauern sähe. — In den 67 deutschen Städten mit mehr als 50000 Einwohnern wurden zu Weihnachten 9501727 Packete aufgeliefert oder bestellt. Das sind 409581 Stück mehr als im Jahre 1901. — Niedriger hängen! Der „Generalanzeigerfür die gelammten Interessen des Judenthums" leistet sich folgende seine Rasse entsprechende Unverfrorenheit: „DaS Königreich Sachsen ist unter den deutschen Bundesstaaten das klassische Land des Antisemitismus. Nicht nur sein Beamtenstand, auch seine Bevölkerung ist fast „judenrein", wenn man vonLeipzig, Dresden und einer oder zwei weiteren größeren Städten absieht, in denen der Handel eine ein flußreiche Rolle spielt. Sogar die Tbiere erfreuen sich in diesem Einzelstaate ein er^ angeblich größeren Rücksichtnahme als die Juden. Ein Schächtverbor ist dort allgemein erlassen. Nun wäre doch sicher ein solches Land vor allem angethan, die arischantisemitische Sittlichkeit und Keuschheit zu ihrer höchsten Blüthe zu entfalten, zu zeigen, bis zu welcher moralischen Höhe ein von „semitisch-orientalischen" Einflüssen befreites Volk sich emporschwingen könne. Die Theorie von den germanischen Thusnelden, welche schon in der Schule durch die unreine Phantasie üppiger Orien talinnen auf Abwege geführt werden, hat durch die „Ehe- irrungen" der sächsischen Kronprinzessin einen starken Knax erlitten." Man würde diesem jüdischen Erguß zu Viel Ehre anthun, wollte man ihn noch glossieren. — Die unter dem 1. Januar d. I. zur Ausgabe gelangten Dienstvorschriften für die königl. sächs. Armee schließen sich im allgemeinen den bisherigen an. Wesentliche Aendcrungen sind in den Bestimmungen über Verehelichung eingetreten. Hauptleute und Rittmeister mit dem Gehalt l. Klaffe bedürfen des Nachweises einer Jahresrente von 750 Mark nicht mehr. Bei Unteroffizieren ist für die Ertheilung der Erlaudniß zur Verehelichung Bedingung, daß neben den zur ersten Einrichtung erforder lichen Mitteln ein Vermögen von 300 Mark; bei Gemeinen, wenn sie eme Inländerin heiratben, von 150 Mk., wenn sie eine Ausländerin heirathen, von 300 Mark vorhanden sein muß. Bisher waren von Unteroffizieren und Mann schaften 600 Mark Vermögen nachzuweisen. — Der Gemeinde Flöha droht ein schwerer wirth- schaftlicher Schlag, den sie nur schwer überwinden wird. Die Güterumladestelle des dortigen Bahnhofes wurde nach Hilbersdorf bei Chemnitz verlegt. Infolgedessen verzogen bereits im Jahre 1902 zahlreiche Bahnbeamte von Flöha, und jetzt theilte die Generaldirektion der Staatsbahnen dem dortigen Gemeinderathe auf dessen Vorstellungen mit, daß mit Beginn der Sommerfahrplan periode 1903 die jetzt auf der Annaberger und Reitzen hainer Linie von und bis Flöha verkehrenden Güterzüge von und bis Hilbersdorf durchgeführt werden und daß diese Maßnahme eine weitere Verminderung der Zahl der Beamten und Arbeiter des Bahnhofes Flöha um mehr als 120 Personen zur Folge haben wird. Gegen diese Maßnahme wurde eine Deputation unter Führung des Gemeindevorstandes Lehnert-Flöha bei dem General direktor von Kirchbach vorstellig. Dieser erklärte, er könne in dieser Beziehung keine Zusage machen und müsse es höchstens der zuständigen Betriebsdirektion anheim stellen, eine Versetzung der Beamten nach und nach zu bewirken und an Stelle der in Flöha verbleibenden ledigen möglichst verheirathete Beamte und Arbeiter dort- hin zu bringen. — Während anderwärts alles gethan wird, um die Gemeinden zu heben und wirthschaftlich zu stärken, wird hier der Gemeinde Flöha durch eine einzige Maßnahme ein Schaden von unabsehbarem Umfange zu- gefügt. Die reichlich 3000 Einwohner zählende Gemeinde verliert, wenn man annimmt, daß bei dec Versetzung 120 Familien mit durchschnittlich 4 Köpfen in Frage kommen, etwa ein Sechstel ihrer ganzen Bevölkerung. Man sollte doch meinen, daß sich diese Schädigung der Gemeinde hätte vermeiden lassen, ohne daß das bahnstskalische Interesse darunter gelitten hätte. — Die diamantene Hochzeit feiert am Donnerstag das Posamentirehepaar Weighold in Annaberg. Drei Kinder, 17 Enkel und 13 Urenkel umgeben das Jubelpaar. — Mit dem billigen Fahren auf böhmischen Bahnen ist es aus. Die Fahrpreise sind seit Anfang dieses Monats ganz erheblich erhöht worden. Bei der Einführung des neuen Fahrkartenstcmpels sind gleichzeitig die Tarife er höht worden. Daß die kurzen Fahrten dadurch um genau 50 Prozent vcrtheuert worden sind, ist die angenehmste Seite der Tarifreform nicht. Auf glatter Bahn. Skizze von S. Halm. (Nachdruck verboten.) „Schatz! Schatz! Aber höre doch Maus!" Ueber die glatte Bahn fliegt ein schlankes Mädchen. Die dunklen Locken flattern im Wind. Die Kleider wehen; die lange Pelzboa streift unbeachtet fast das EiS. „Schatz! Irma!" Der leise Ruf wiederholt sich; doch weiter eilen die flinken stahldeschuhten Füße und das Näschen bohrt sich nur noch eigensinniger in den vorgehaltenen Muff. Endlich hat Fritz Ellrodt sein Bräutchen eingeholt und jetzt gicbts kein Entrinnen mehr, denn, wenn auch einigermaßen außer Athem gekommen, ist es für den jungen Mann doch jetzt keine große Mühe mehr, mit dem hübschen Ausreißer Schritt zu halten. „Aber Liebchen, bist Du mir denn noch immer böse?" Flitsch, eine Schwenkung, daß Fritz Noth hat, Irmas wieder habhast zu werden. „Irma! Süße! liebes Stummelchen!" Da bettelt er. Da steift sich der feine Nacken. „Ich bin nicht Ihr Stummelchen, mein Herr!" „Aber Süßes, Liebes, ich bitte Dich . . l" „Latz mich in Frieden!" „Irma, Du bist ein Trotzkopf!" „Schön! Dann bin ich'S und was geht's Dich an?" „Aber Jrmchen, wen sollte es denn angehn, wenn nicht mich, Deinen Gatten m spe." „P p p, meinen Gatten in sps! Glaube nur nicht, daß Du das je wirst." „Irma! Kind!" „Glaubst Du, ich verzeihe es Dir, daß Du mich warten läßt, wie eine Konfektioneuse und derweil mit Grethe Stumpf, dieser albernen Kokette — ich kratze ihr die Augen aus, wenn ich sie mal treffe — zusammensteckst und ihr schöne Augen machst!?" „Irma, wie kann man so die Thatsachen entstellen? Ich sollte als Dein Bräutigam einer Anderen schöne Augen machen? Hälft Du mich für einen Ehrlosen? Daß ich der Tochter meines Chefs die schuldige Artigkeit erweisen muß ..." „Da haben wir's ja," sprudelte der niedliche Mund zornig. „Natürlich nur aus Rücksicht auf Deinen Chef schnallst Du ihr vie Schlittschuhe an, kniest Du vor ihr, machst Du ihr Kratzfüße. Lächerlich!!! Mich wundert es nur, daß Du, da Du doch soviel Rücksichten auf Deinen Chef nimmst, nicht auch Grethe statt meiner erkoren hast! Geangelt hat sie ja genug nach Dir!" „Schatz, bleib' doch bei der Wahrheit!" „Willst Du etwa damit sage«, ich lüge?" Kampfbereit wendet sich Irma dem Verlobten zu; da, ein Ruck, ein Krach, ein Schrei und unter Irma borstet der blanke Eisspiegel des Sees. »Fritz, um Gottes Willen, ich ertrinke!" Der gellende Schrei klingt weit über das Eis hm; doch schon packt Fritz die Hand der Braut, die sich krampf haft an dem weiter und weiter ab bröckelnden Eis hält. Platt liegt er auf dem Eis. Der Angstschweiß steht ihm auf der Stirn. Jetzt klammern sich Irmas Arme um seinen Hals. „Irma, Kind, Du vernichtest uns Beide! Halt Dich ruhig. Das Eis trägt uns. Hülfe kommt schon." Da lallen die Lippen der Halbohnmächtigen: „Fritz, küsse mich noch einmal. Nicht war? wir sterben zusammen." ., Und er küßt sie; dann aber bäumt sich sein Wille zum Leben auf. »Nein, nicht sterben, leben wollen wir." Aber schwerer und schwerer wird die Last, die an ihm hängt und voll Todesangst vernimmt er das verdächtige Knacken unter sich. Wird die Decke sie noch halten, bis Hülfe kommt? Wie im Fluge zieht sein Leben vor seinen geistigen Augen vorbei, durchlebt er die Zeit seines ersten Hiitonle. 7S Roman von ff. V. Schreiberrdolrn. Ungewöhnlich weiche Empfindungen durchbebten sie, jede neue Falte in seinem Antlitz, jedes weiße Haar schienen ibr zuzurufen: „Sieh her, das ist Dein Werk! Mache gut, so lange es noch in Deiner Macht siebt!" Auch seine Augen schimmerten seucht, als er da? junge Weib sah- Sie war bleicher und magerer geworden, ja, sie schien jünger und kindlicher als vordem zu sein, der Unter schied der Jahre war nie so grell hervorgetreten. Er em pfand die große Thorbeit, ein solches Kind zur Gattin be gehrt und in diesem Bündnisse Glück, Ruhe und Zufrieden heit erwartet zu haben. Er war blind gewesen, uniaßück blind . . . Doch die Tbatsache konnte nicht ungeschehen ge macht werden, sie mußte mit ihren schweren Folgen getragen werden. Er hatte das Gerede der Welt über seine späte Heirath einmal über sich ergehen lassen, schwer darunter ge litten, sich gekrümmt unter den Nadelstichen der spitzen und boshaften Zungen, aber er hatte es hingenommen. Nock einmal das Achselzucken und Spottgelächter der Welt ertragen, nein, konnte er nicht. Er hatte das Urtheil der Gesell schaft stets als höchste Instanz anerkannt, sein gesellschaftliches Gewissen verlangte, ihr kein Aergerniß zu geben und ihren Anforderungen zu genügen — wie hätte er das durchführen können — nein, er wußte, was jetzt seine Pflicht war. Sie hatten sich schweigend angesehen, sie bedurften beide der Sammlung. Dann wollte Antonie vorwärts gehen, aber sie blieb mit dem Fuße an der kleinen Matte vor ihrem Nähtische hängen, der Tisch fiel mit lautem Gepolter um. Der Lärm war aut dem teppichlosen Fußboden betäubend, -er Inhalt des Nahkörbchens entlud sich ebenfalls und ver-1 nehrte ihn. Der Hofmarschall zuckte zusammen, hielt beide Hände au l 'eine Obren und sga/e aeresit: „Um'« Himmels willen, welch' gräfliches Getöse! Benimm Dich doch nicht so ungeschickt wie ein kleines Schulmädchen." Antonie stammelte eine Entschuldigung: sie fühlte schon wieder den alten Druck, sie war wieder das Kind, dessen Be nehmen fortwährendem Tadel unterworfen war. Mit ge- sinktem Hauvte und Tbränen der Beschämung stand sie vor ihm, wie ein Kmd, wie ein Schulmädchen. „Du wirst niemals lernen, daß eine vornehme Dame auch das Neberraschendste mit Ruhe und Gelassenheit wie etwas längst Erwartetes hinnimmt." Der belehrende Ton, die alte Art seiner gewöhnlichen Strafpredigt tödtete mit einem Male jedes weiche Gefühl in ihr und weckte die frühere Bitterkeit und Gereiztheit. Aber was bisher kein Vorwurf, keine Ermahnung bewirkt, thaten 'eine Worte jetzt; Antonie iah ein, er hatte Recht. Die Empörung darüber machte sie mit einem Male ruhig; sie wollte ihm zeigen, sie kenne so gut wie er das Benehmen einer vornehmen Dame. Sie bob den Tisch auf wef die Jungfer und lab mit äußerer Gelassenheit zu, wie das Mädchen wieder die Ordnung herstellte. Erst als sie wieder allein waren, lud sie den Hm- marschall durch eine Handbeweaung ein, Platz zu nehmen, indem sie fragte, was ibn heraesimrt habe. Er nickte wohlgefällig, ihre Rube tbat ihm wobl, so batte er er immer gewünscht. Er setzte sich und sah sich uni. Die Zimmereinrichtung erregte sein Erstaunen, er meinte, Antomes Schwärmerei für diele primitive Insel sei doch noch wie ihr übriges Benehmen ungemein kindisch. „Dachtest Du in der That, es sei genug,, wenn Du die Gräfin Waldburg in" die fatale Lage brächtest, allein aom reisen, mich dadurch zu einem Schritte zu bewegen, der eben so ungewöhnlich wie penlich für mich wäre? Ich baoe meinem tbeuren verewigten Freunde gelobt, siir Dich zu sorgen und werde dies halten. Nach unseren kirchlichen An- jchauungen und Gesetzen ist eine Scheidung nicht möglich." „Dann eine Trennung", das Wort ist ja gleich", sagte sie schnell. , , Er lächelte überlegen. „Recht wie em eigenwilliges Kind, das sich etwa? in den Kops gesetzt hat." Ihre Antwort, die ruhiger iind selbstbewußter war, als er sie erwartet, über raschte ihn. „Sollte Melanie Recht haben", entfuhr es ihm, und sein Blick lag forschend auf ihr. Wieder war er er staunt; denn sie wurde nicht heftig, vertheldlgte sich mcht auf gebracht, verklagte Melanie nicht als Verläumdenn, sie blickte ihn stolz und abweisend an, aber sie verschmähte es, sich zu vertbeidigen. Er trat an das Fenster und sah hinaus auf die grauen Sandhügel und die darüber hinziehenden Regenwolken. Eine ^hnnna wie groß und tiefgehend die Veränderung in Antoni« sii drängte sich ihm ans. Diele wenigen Wochen der Trenn ung hatten sie aus einem Kinde zur selbstbewußten Frau gemacht, gerade io, wA es immer sein Bestreben gewesen war. Ich verlange meine Freiheit, weil ich in diesem Ver- hältM zu Grunde gehe. Du kannst es nicht vergeßen haben, daß ick> dieses Verlangen schon einmal ausgesprochen habe", sagte Antonie laut und bestimmt. „Ja, als Du ärgerlich über das gestörte Maskenfest wärest", erwiderte er ungeduldig. „In meinem Alter wägt man sein« Worte und ändert seine Ansicht nicht im Handumdrehen." sgäite er koch Melanies Bitte nicht nachgegeben, sie nicht allein mit Antonie reisen lassen! „Eine Vermählung ist sür Leute uwere? Standes etwa? Unantastbares. Stellt sich »päter heraus, daa die Charaktere nicht harmoniren, so trügt man das mit Anstand." Ec strich die kahle Stirn und sah ernst auf-An!cmie. Natürlich mußte es so seiu. Nugläubn. sgsiunoslos, ja entsetzt sah Antonie ihn an. Jede Spur^ von Farbe schwand aus ibrem Antlitz, sie wich nirück und streck'e wie voll Abscheu die Hände gegen ihn aus. Was sie iaate, wußie er später nicht mehr, ihre letzten Worte macl teu einen so tiesen Eindruck auf ihn, daß sie alle! Andere in seinem Gedächtniß auslöschten.