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Berlage zu Nr. 18 Dienstag, den 10. Februar 1903 V7 dann begab er sich, verstohlen lächelnd, in die Bibliothek. Hier nahm er wieder Band k 16 herunter und ließ das Brieflein darin verschwinden. Herr Angermann hatte Phantasie genug, sich auszu- malen, was weiter geschah. Noch am selben Tage begab sich Traugott, der Goldfischchenangler, in die Bibliothek, nahm erwartungsvoll E 16 herunter, holte mit schlauem Lächeln das zarte Briefchen heraus und öffnete mit be dächtiger Kaltblütigkeit; diese Tugend verließ ihn jedoch gänzlich, als er den einliegenden Zettel las: „Hiermit sind Sie entlassen. Sie wollen so bald als möglich Ihren Umzug vornehmen. Angermann." Endlich aber kam er zu einen Entschluß. Er begab sich in sein Arbeitszimmer und sandte zu seiner Frau um Verschiedene bei Tische gemachte Aeußerungen lenkten die Aufmerksamkeit der Familie auf die reiche Büchersammlung, und nicht nur die Mutter, sondern auch das Töchterchen des Hauses, die siebzehnjährige Elly, holte sich dieses oder jenes Werk. Daß letztere vabei stets nur in Abwesenheit des Hauslehrers die Bibliothek betrat, konnte nicht ver borgen bleiben. Wenn Herr Angermann nun auch mit dem so korrekten Hauslehrer sehr zufrieden war, so durste man es ihm doch nicht verdenken, daß er sich hier und da selbst einmal von den Leistungen seiner Söhne überzeugte. Er ließ sich daher eines Tages die französischen Ex- temporalienhefte vorlegen, und er konnte feststellen, daß seine Söhne leidliche Fortschritte machten. Eins wußte er sich jedoch nicht zu erklären: fast unter jeder der Arbeiten standen rätselhafte Zeichen, wie L 19, KI 27, L 33 u- s. w. „Du, Fritz, was bedeutet denn das hier?" fragte er den einen seiner Söhne. „Das weiß ich nicht; ich habe es auch schon gesehen und habe Herrn Berseler gefragt, und er hat gesagt, es wäre eine Notiz für ihn." „Merkwürdig!" murmelte Angermann. Nicht lange darauf betrat er seine Bibliothek, um die er sich in letzter Zeit nicht hatte kümmern können, weil er verreist gewesen war. Er freute sich über die schöne Ordnung: die Bücher standen in Reih und Glied auf den Regalen und waren nach Fächern und alphabetisch geordnet. Besonders gefiel ihm die Eintheilung nach Buchstaben und Nummern, jeder Band trug beides auf dem Rücken: V13, U 26, O 37 u. s. w. Das erinnerte ihn doch an etwas, wo hatte er denn das schon gesehen? Ach richtig, in den Extemporalieuheften! Hm, sollte da ein Zusammenhang existiren? „Du, Fritz, gieb mir doch einmal Dein Extemporallen heft! Bekommt denn die sonst noch Jemand außer Euch in die Hände?" „Ja, Elly, sieht sie uns öfters durch." „Hm, also hier steht zuletzt U 16!" Mit beschleunigtem Schritt suchte Herr Angermann die Bibliothek auf und holte sich den Band herunter, der auf dem Rücken ein ? 16 trug. Er brauchte nicht lange zu suchen, bis ihm ein feines, zartes — Brieflein in die Hände fiel. Er öffnete es nicht langsam und las: „Mein geliebter Traugott! Wenn Du wüßtest, wie ich mich darnach sehne, Dir wieder einmal die Hand zu drücken, Deinen zärtlichen Worten zu lauschen! Aber seit Papa wieder da ist, bin ich ja leider zu sehr über wacht und wage es kaum, Dich an unserer verabredeten Stelle zu treffen. Glaube mir aber, Theuerster. . . ." und so ging das Briefchen fort bis zum Schluffe, wo sich — Fräulein Elly mit den üblichen tausend Grüßen und Küssen empfahl. Angermann schlug ärgerlich mit der Hand auf den Brief. „Also Elly!" murmelte er. Eine Zeitlang stand er starr, dann lief er in der Bibliothek auf und nieder. Miome. Roman von ff. v. ZAreiberrffosrn. leine Hand fest, er hatte so heftig an seine Taffe gestoßen, daß der braune Trank über die weiße Decke spritzte und häßliche Flecke hinterließ. Paul entschuldigte sich hastig und versuchte, die Flecken wegzuwischen. „Ach, laß das nur!" sagte die alte Dame kopfschüttelnd. „Solche Flecken gehen so wenig wieder weg, wie die kleine Antonie jemals wieder eben so makellos wie früher dastehen wird. Es thut mir leid um das kleine Ding, ich hatte sie sehr gern. Und wer hätte das gedacht! Aber die Partie war freilich thöricht —" Paul stimmte eifrig zu. „Eine so schöne, lebenslustige Frau und der alte Mann!" Sie nickte. „Aber der Hosmarschall war ein braver, ehremverther Mann, !und Vernunftheiratben geben häufig die besten Ehen. Schwärmerische Liebe hält selten genug aus, und dann ist nichts da, worauf man zurückfallen kann. Der Hofmarschall thut mir leid, er hielt immer so viel auf Anstand, aber der thut's auch nicht allein. Ja, ja, die Kleine wird auch noch lernen, daß, wer der Welt ins Gesicht schlägt, Ruthenstreiche dafür hinnehmen muß." Der Geheimräthin ging die Sache in der Tbat sehr nahe, sie fühlte sich mit dadurch betroffen und machte Melanie heftige Vorwürfe, daß sie Antonie nicht besser erzogen und einen solchen Skandal nicht vermieden habe. Paul hörte aufmerksam zu, hütete sich aber, auffallendes Interesse zu zeigen, nur ein gespannter Zug um den Mund und sein beschleunigtes Athmen ließ seine innere Erregung errathen. Seine Tante erzählte von An tonies Reife snach der Insel, ihrem Dortbleiben ohne Melanie, der Reise des Hofmarschalls und zuletzt von dem jetzigen Aufenthalt der jungen Frau, wo sie sich sehr zu gefallen scheine. „Es ist ganz gut, daß sie nicht hier geblieben isi; jetzt vergessen die Menschen die Geschichten, und wenn sie nichts Auffallendes thut, kann sie später doch vielleicht wieder ihre alte Stellung einnehmen." Als Paul endlich Miene machte, Abschied zu nehmen, war die alte Dame wahrhaft betrübt darüber. Er hatte igr noch nie so gut gefallen wie heute, er war noch niemals ein so geduldiger, liebenswürdiger und ausmerksamer Zuhörer gewesen. „Bleibe doch noch, Du trifft hernach Erich Waldburg, der sich auch noch verlobt hat. Ja, das war eins groß« Neberraschuna: ich Eene mich aber, die angenehme und wirklich sehr hübsche Person zu sehen. Es ist eine, alte Liebe von Waldburg, und jetzt kann er auch heirathen, wen er will. Ist man einmal so hoch gestiegen wie er, hat man nichts mehr zu befürchten. Also bleibe mir —" „Ich mache mir sehr wenig au? dem Grasen Waldburg", tagte Paul steif, „und möchte ibm eben so gern nicht begegnen." " Frau v. Schallwertb begriff das nicht. „Waldburg war einer der seltenen Männer, die immer gleichmäßig liebens würdig —" „Gegen mich nicht!" rief Paul ungestüm aus, und seine Augen blitzten zornig auf. „Du kannst es ihm meinetwegen agen, es ist mir einerlei; auch daß ich es nie vergessen werde, daß er es war, der uns —". Er stockte, wurde roth und verwirrte sich augenscheinlich unter dein erstaunten, fragenden Blick seiner Dante. Er stand hastig aus, bat, sie möge ihn entschuldigen, aber er habe in der That keine Zeit. Er sei nnr gekommen, um ihr guten Tag zu sagen, und hoffe, sie werde ihm verzeihen. Damit hatte er ihre Hand flüchtig an seine Lippen geführt und war hinausgeeilt, ehe sie ihn znrück- halten konnte. Es war einer der ersien Frühlingstage, die Lust rein und klar, die ersien Lerchen ließen ihre Töne hören, aus den Feldern hüpden einzelne Kröten zwischen den braunen Erd schollen Herting und von Zeit zu Zeit erklang das ferm Krähen der Hähne aus den vereinzelten Bauernhöfen. Antonie hatte sich durch die herbe, frische uno doch sc wohichueudr Luit verleiten lassen, ibren Spaziergang veil über seine gewöhnlichen Grenzen auszndehnen. Veemrschtes. * Ein stolzer Spanier über deutsche Touristen. Ein geschätzter spanischer Litterat, Don Juan Garcia del Rey, hat, wie die „Basler Nachrichten" mittheilen, in seiner Heiniath über die Eindrücke berichtet, die er auf einer Schweizer Reise gesammelt hat. Von Bern schreibt er u. A.: „Auf dem Bahnsteige war ein mörderisches Gedränge und Geschiebe. Ich unterschied eine Unmenge von ungraziösen Menschen in etwas lächerlichen, rauhen, erdbraunen und vor allem krautgrüuen Anzügen, stumpf- kegeligen, jägerhutartigen Kopfbedeckungen von derselben Farbe, viele mit kühn geschwungenen Hahnenfedern ge schmückt, zu welcher Kühnheit die biederbürgerlichen, theils fahl aufgedunsenen, thcils rothpausbäckigen Gesichter und die nicht selten an Petroleumfäffer erinnernden Rümpfe einen eigenartigen Gegensatz bildeten. Auffallend war bei diesen, mir sehr fremdartig und darum fast komisch wirkenden Leuten ferner, daß sich die Frauen in ihrer Kleidung, ja sogar in Gebärden und Gesichtsausdruck von ihren nmnnlichen Begleitern kaum unterschieden, indem sowohl Schnitt und Farbe ihrer Gewandungen denjenigen der Männer völlig angepaßt waren, als auch die Ge bärden und Gesichtszüge vielfach dieselben Härten und Derbheiten aufwiesen. Uns Spaniern, die wir gewohnt sind, selbst bei jedem Bauern Haltung und Manieren eines Hidalgos zu treffen, die wir nach einem Worte unseres Dichter-Phönix Lope de Vega alle so wohlgeboren sind, daß bei uns blos die Nothwendigkeit zu dienen den Armen vom Neichen unterscheidet, — uns müssen solche Leute seltsam naiv und unfertig vorkommen. Alle diese Menschen nun, Männlein und Weiblein, waren schwer beladen mit Säcken, Taschen und Tornistern aller Art, und alle trugen sie etwa zwei Meter hohe Tournierlanzen vor sich her, so daß man, wenn der Blick über das Ge dränge und Geschiebe hinwegstreifte, des Glaubens sein konnte, die „Lanzen" unseres Velasquez (auf dessen Bild die „Uebergabe von Breda") vor sich zu haben. Wer waren diese seltsamen Menschen? Waren es Landsknechte? Waren es Eseltreiber? Oder waren es Witzbolde (gra. ciosos)? Ich erfuhr hernach, daß es deutsche Touristen gewesen seien, welche allsommerlich die Wunder der Ge birgsnatur zu genießen in Schaaren nach der Schweiz wallfahrteten, wobei ihnen die etwa zwei Meter hohen Stöcke behilflich seien. Nun begriff ich auch, weßhalb diese Leute fast ausnahmslos Brillen und Zwicker trugen, sich in sein Arbeitszimmer und sandte zu seiner Frau um was ja doch auf Naturbetrachtung und überhaupt auf ein kleines Kouvert. Währenddessen schrieb er einige Bildung 'hinweist." — Stolz will ich den Spanier! Zeilen auf ein Papier und steckte es in den Umschlags * Am 7. Februar 1903 waren 25 Jahre verflossen „Passion ist eine viel bessere Bezeichnung dafür, als unser ernsthaftes, schwerwiegendes deutsches Wort Leidenschaft", sagte sie lächelnd. „Bei unseren deutschen Bezeichnungen kann nie ein Zweifel an ihrer Bedeutung auskommen, alles Doppel sinnige und Zweideutige haben wir von unseren welschen Nachbarn entlehnt. Ich meine, es isi ein ganz gutes Zeichen für uns nur sollten wir nicht auf Borg ansgehen." „Dein musikalischer Kreis ist wohl noch derselbe wie früher?" bemerkte Paul etwas zerstreut, indem er seinen kleinen schwarzen Schnurrbart zwischen n..aumen und Zeigefinger glatt strich. - „So ziemlich! Aber hin und wieder machen uch Aender- ungen von selbst. Eltville treibt die Musik nur noch als Broderwerb, er liebt sie nicht mehr; da isi elgard ganz anders angeleat. Und seit Eltville sich mit Bensen einge- l"" — doch der ist jetzt eine verfloßene Große, er ^lück keine Nolle mehr. Aber Du hast ihn wohl Asi Du nicht wahr? Aber den guten Hofmarschall y Kewisi .^annt?" nicht"todt?" — 'st ihm — ist er krank, oder gar — doch D-m- M« sehr - -E "4 --bl-» >-»d Kaffee eingoß. „Es wird ihr gut g/nug qeh-n 2 Sie ist aber auf und davon, will sich^ von'ihrem trennen — aber Paul, was machst Du deun'W «ie' B§im GoLdstschchenangeln Humoreske von A. Thiele. (Nachdruck verboten.) , Der Kandidat der Mathematik Traugott Berseler war em guter Rechner, wie er dies seinem Studium gemäß ja auch sein mußte, besonders Kombinationen in weitere Ferne hinaus „lagen ihm", dafür hatte er Talent. Als er nun nach Beendigung seiner Universitätsstudien den Entschluß gefaßt hatte, sich in der Stellung eines Hauslehrers auf das Examen vorzubereiten, kalkulirte er genau, welche von zwei ihm angebotenen Stellen er an nehmen sollte. Sowohl dem Rittergutsbesitzer Schröter wie dem reichen Fabrikbesitzer Angermann stellte er sich vor und versäumte es nicht, sich vor diesem feierlichen Akte ganz genau über die Fsmilienverhältnisse beider zu er kundigen. Als er nun vernahm, daß der Rittergutsbesitzer zwei Jungen und zwei kleine Töchterchen besäße, während der Fabrikant mit ebensoviel männlichen Sprößlingen und einem Töchterlein von — siebzehn Lenzen beschenkt war, so neigte sich die Waage schnell zum Vortheil des letzteren. Der neue Hauslehrer trat an und stürzte sich mit Eifer auf seine Aufgabe, die zwei Knaben des Herrn Angermann für die mittleren Klassen des Gymnasiums vorzubereiten. Bald jedoch entdeckte man weitere Fähigkeiten in ihm. Der junge Mann, der eine gute Figur machte und sich elegant trug, zeigte sich bei den Gesellschaften, welche die Familie in ihrem vornehmen und gastlichen Heim veran stalteten, als leidlich gewandter und dabei doch bescheiden zurücktretender Gast und — was unendlich mehr galt — als Besitzer zweier wohlgeschulter schier unermüdlicher Tanzbeine. Ein solcher Mann war Goldes werth, es konnte daher auch nicht fehlen, daß Traugott bei seinem Hausherrn „lieb' Kind" wurde, umsomehr als er auch beim Unter- richt bessere Früchte zeirigte als sein Vorgänger, der auyer Kopfnüssen und Ohrfeigen wenig andere Früchte produzirt hatte. Und bei alledem fand besonders noch eins die Billigung des Ehepaares: obwohl Traugott in Gesellschaft natürlich bei der Tochter des Hauses einen oder ein paar Pflicht tänze absolvirte, so schien er ihr doch nicht im Mindesten näher treten zu wollen, er hielt sich stets in jener Entfern ung, die das Elternpaar gern sah. Und wie sollten sie auch etwas Anderes vermuthen, wußte doch der scharf kalkulirende Mathematiker seine Pläne unter einer durchaus harmlosen Weise zu verbergen. Ueberhaupl schien er sich für diese Gesellschaften, wenn er auch daran — aus Pflichtgefühl — theilnahm, doch nicht so zu interessiren, wie für die Bibliothek des Herrn Anger mann. „ Der reiche Industrielle hielt es vernünftigerweise für seine Pflicht, die Wissenschaft und Litteratur durch An schaffen von Büchern zu unterstützen, doch kam er nicht ost dazu, sich seiner Schätze zu erfreuen, und so lagen diese denn im Bibliothekzimmer in trauriger Unordnung durch einander. Berseler stellte dies seinem Hausherrn eines Tages vor und wurde gebeten, die Bücher zu ordnen. Nun begann er in der Bibliothek eine rege Thätigkeit.