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— 446 — herrschen und daran denken, daß man kem Kind mehr ist, das der Mutter immer noch an der Schürz hängll So meinte doch der alte Waldarbeiter^ Focke, als ich ihm Adieu sagte und' er mrr ansah, wie schwer mir das Scheiden wurde. Wm genug davon.' Di« Eisenbahnfahrt bot nicht viel Interessantes. Auf der Station angekommen, sah ich mich nach dem Kutscher um, der mich nach Lengefeld bringen sollte. Hin ter dem Stationsgebäude hielt «in netter, kleiner Jagd wagen; .ich fragte, und hatte gleich den Richtigen gefunden. Ein schöner Weg war es dann, Mutterle, immer am Wald« entlang -- er würde dir auch gefallen, wenn du ihn kenntest. Wohl «'.ne halbe Stunde Fahrt. Endlich war das Schloß »rn Sicht. Mutterle, so etwas hab« ich noch nicht gesthen — wke ein Märchen war es mir, dyß ich darin wahren sollte. Ich leg« dir ein« Photographie davon mic ein. Das schönste ist dir Auffahrt zum Schloß — «in breiter Weg, von beiden Seiten mit wundervollen, alten Linden begrenzt — das mutz im Sommer «in Blühen und Duften fern! Mir klopfte doch ein wenig das Herz, als ich dann vor der Gräfin Allwörden stand. Ist das eine schön« Dame' So schlank und f«in und zierlich, wie ein ganz junges Mäd chen — ske ist viel kleiner als ich. Und elegant war sie ge kleidet; sie trug «rn weißes Stickereikleid. Ihr Haar ist rotblond, die richtige Tizianfarbe. Und so zarte, kleine Händ chen hat sie, an denen es von Ringen nur so funkelt und blitzt. Sie war ganz freundlich zu mrr; aber doch «in bißchen herablassend. Nun, dafür ist sie ja eine wahrhaftige Gräfin. D«nl' mal, Mutterle, d«in unbeholfenes, schüchternes Lorchen hat nun schon mit einer Gräfin gesprochen! Den Erbsen Allwörden hab« ich noch nicht gesehen; er ist noch verreist und kommt erst nächste Woche zurück. Die Herrschaften waren in Baden-Baden. Die Frau Gräfin ist eher u»ed«rgekommen, da der kleine Bub nicht ganz wohl lvar; um den kleinen Ottokar dreht sich hier alles. Ein bildhübsches Kind, aber sehr zart für seine sieben Jahre. Er hat lange, blonde Locken und dazu wunderschöne, blaue Augen, die einen fast überirdischen Blick haben. Beim ersten Sehen habe ich mich« in ihn verliebt. Nun sei eifersüchtig, mein Mutterl«. Er tyrannisiert das ganze Haus, ist nervös, und sehr, sehr eigensinnig — kein Wunder, da er so ver wohnt wird. Ottokar ist der künftige Erbe des großen Besitzes — wie «in kleiner Kronprinz kommt er mir vor. Er lernt sehr leicht, und ich unterrichte ihn gern, trotzdem er «s mir schwer macht durch seine Zerstreutheit; er ist zu spielerisch. Nun muß ich dir auch noch die kleinen Komtessen, meine Schülerinnen vorstellen. Komtess« Thekla, die Aelteste, balv vierzehn Jahre, mag ich nicht besonders. Sie ist sehr lau- üenhgst und hochmütig und denkt, sie erweise mir «ine Gnade, wenn sie lernt. "Ich sehe es jetzt schon, daß ich meine lieb« Not mit ihr bekommen werb«. ' Bildhübsch ist sie, sieht ihrer Mutter sehr ähnlich: eine vollendete kleine Dam«. Komtesse Cäcilie, zehn Jahre alt, ist ein liebes Kino mit einem sanften, blassen Gesicht, nicht besonders hübsch, aber sehr sympathisch. Sie hinkt, infolge einer Hüftgelenk- entzündung. .Die Mutter zieht ihr offensichtlich die hübsche Thekla vor, mit der sie Staar machen kann. Cäcilie weint ost heimlich, sie fühlt es und leidet darunter. Thekla ist nicht nett zu ihr. Zu mir hat Cäcilie Vertrauen, weil sie merkt, daß ich «s gut mit ihr meine. Ich hab« «in nettes, kleines Zimmer neben dem Schlaf zimmer d«r Komtessen, mit der Aussicht aus den Park. Nun meine Tageseinteilung: Um sechs Uhr stehe ich auf, da ich von Euch an Frühaufstehen gewöhnt bin, sehe meine Garderoo« nach — jeden Tag, wie Du es mrr gesagt ' hast, ob ein Heftel oder ein Knopf sich gelockert hat, dann bereite ich mich etwas auf meine Aufgaben vor oder schreibe, ws« jetzt z. B. diesen Brief. Halb acht gehe ich dann hinüber zu Titi und Sissi, wir die Komtessen genannt wer den (schön finde ich diese Abkürzungen allerdings nicht) und brn ihnen heim Ankleiden behilflich. Nach acht stühstücke ich mit ihnen — gut, Mutterl«. -Milch oder Kakao, dazu But ter, Marmelade, Honig. "Gegen halb neun beginnt der Un terricht und dauert bis halb elf Uhr. Dann ist Frühstücks pause und die Komtessen begrüßen ihr« Mutter, die um diese Zeit erst sichtbar wird. Sie schläft sehr lange. Von elf bis zwölf unterrichte ich klein Ossi, während d«e Mädchen Handarbeiten machen oder Musik üben. Um ein Uhr wird Mittagbrot gegessen — alle Tage Suppe, Braten, E«müse, Kompott, Mehlspeise, Obst. Da siehst Du, ! Mutterl«, wre ich „bon" lebe! Nun freust Du dich, daß Du s recht behalten hast. Und es schmeckt mir gut. Fast schäme ich mich meines gesunden Appetits, wenn ich sehe, wie wenig die Gräfin ißt! Besonders gemütlich ist es allerdings bei Tische nicht. - Nachmittags Habs ich wieder zu unterrichten. Bis zum Fünf- ührtzre — dann sind wir fertig. Ich gehe mit den Kindern danach im Park spazieren. Di« Zeit von acht Uhr an gehört mir. Ich lese manch mal, bm aber 'meistens so rechtschaffen müde, daß ich schon um neun Uhr mein Lager aufsuche. Das ist so im großen und ganzen — natürlich mit klei nen Aenderungen — meist Tageslaus. Ich hab« es mir schwerer gedacht; vorläufig kann ich nur sagen, daß ich k«i- i nen Grund zur Unzufriedenheit habe und daß ich froh bin, ' es so gut getroffen zu haben. - Die Gräfin sxhe ich wenig; sie kümmert sich nicht viel um die Kinder. Nachmittags fährt sie häufig aus, nimm! ! manchmal Thekla und Ottokar mit, Cäcilie nie. Und das sind mir die liebsten Stunden, die ich mit dem Kind« allein bin. Sissi ist sehr musikalisch, und wir benutzen die Ab wesenheit d«r anderen zum Musizieren. Einige Male bin ich mit Sissi auch schon im Wirt- schastshofe gewesen, der abseits vom Schlosse liegt. Wu werden gern dort gesehen. Die Mamsell schlägt uns schnell köstlichen Schlagrahm — Du weißt, wie gern ich den esse. Die Mamsell erzählte mir, daß ihr Vater ein sehr berühm ter Maler ist. Das große Bild o«r Gräfin im Empsangs- saal, das mir gleich aufgefallen war, wurde von ihm ge malt. Uebechaupt dieser Raum! Ein großer Saal nn Barock stil, mit schweren, goldgestickten, roten Vorhängen — ordent lich feierlich wurde mir, als ich ihn zum ersten Male betrat. Die alten Allwördens sind beide tot. Eine Kapelle m romantischer Bauart wölbt sich über ihrer letzten Ruhe stätte; die Familiengruft befindet sich in dem weit ausge streckten herrlichen Park, der fast schöner ist, als Erichs Wald. Sissi sagt, im Sommer ist immer viel Besuch da. Jetzt ist es stiller, und ich bin froh darüber. Ich muß mich doch erst in alles hineinfinden. — Ich folge Deinem Rat, mög lichst wenig zu reden, dafür um so schärfer zu beobachten. Mir fehlt doch noch manches! Auf den Grafen Aklivörden bin ich nun neugierig; Sissi schwärmt sehr von ihrem Papa. Mein Gehalt, das ich am Ersten bekomme, schicke ich Dir. Erich gibt dazu, und Du bekommst von uns einen schönen Wintermantel, den Du in diesem Jahre unbedingt haben mußt. Ich brauche hier kein Geld, habe gar keine Gelegen heit, etwas auszugeben. Lebt min wohl, Ihr Lieben! Schreibt mir bald wieder. Erich auch — sonst darf er meine Brief« nicht lesen. Euer liebes Häuschen! Im Geist: sehe ich es vor mir. Bleibe gesund, mein liebes Muttchen, schone Dich. Di- Rosa ist doch ganz anstellig, und kann Dir die meiste Ar beit abnehmen. Ist Frau Oberförster von Eggert jetzt mit ihrer Toch- tr« zurück? Schad«, daß ich sie nicht kennen gelernt habe! Bitte, grüßt alle! Und Euch beiden Lieben einen Herz lichen Kuß von Eurer Lori. Der erste Brief von der Tochter! Mit zitternden Händen hatte Frau Maria Berger ihn erbrochen und die eng beschriebenen Blätter fast verschlungen. Eine Enttäuschung chatte er ihr gebracht; Ottokar Allwörden war nicht zu Hause, sie chatte nun noch nicht erfahren können, welchen Eindruck er auf die Tochter gemacht — wie er s aussah. Fast Groll fühlt« sie, daß Lore so herzliche Worte für j die Kinder gefunden — besonders für den Knaben! — Ach, > sie wußte ja selbst nicht, was sie wollte. — Ihre Tränen strömten auf den Brief, auf das- in ihrem Schoße liegende , Bild des Schlosses Lengefeld. Wenn die Tochter wüßte, welche Erinnerungen sie mit ihren Worten herausbeschwortn hatte! Als ob sie den Weg nach Lengefeld nicht kannte! Die- s«n W«g, der voller Leidensstationen für sie gewesen war!