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— 372 — Hatte da kürzlich ekn biederer deutscher Bürgersmann «n den Briefkasten ferner Zeitung die Frage gerichtet, weshalb denn bei der Bekanntgabe des versenkten Schiffsraumes immer der Hauptwerk auf die Höhe der vernichteten"englische Tonnage gelegt werde; es sei doch ganz gleichgültig, welcher Nation der versenkte Schiffsraum angShöre, denn die Engländer ver fügten ja doch willkürlich im Verein mit Amerika über den gesamten Frachtraum der Welt, soweit er ihnen zugänglich wäre oder von ihnen erpreßt würde. Die angefragte Schrift leitung klärte in ihrem Brieflasten den Fragesteller in sehr klarer und vernünftiger Weise darüber auf, daß es nur scheinbar gleichgültig wäre, ob englischer oder nichtenglischer Frachtraum versenkt würde. Denn England könne bei dem Wettrennen zwischen Versenkung und Neubau dicht von dem Bestände der Welttonnagr allein ausgehm, sondern müsse für die Zeit des Friedensschlusses und für die ersten Friedens jahre lediglich mit englischen Schiffen rechnen, die ihm zum Eintritt in den Wettbewerb mit den anderen Nationen zur Verfügung ständen. Was nütze es England, wenn es selbst den Krieg gewönne, und nächher mit einem Schiffsraum'übrig bliebe, der nicht annähernd imstande wäre, die Konkurrenz mit den andern, besonders mit der amerikanischen und japanischen Handelsflotte aufzunehmen! So hätte „Daily Chronicle" noch vor wenigen Wochen wörtlich geschrieben: „Es ist für England wichtiger, den Frieden einzuleitest, als den Krieg zu gewinnen, und wenn es nicht wenigstens das relative Verhältnis im Handelsschiffsbau wie im Jahr« 1214 erreicht, so wird es zur Niederlage nach dem Kriege verurteilt sein. Falls wir unsere eigenen Verluste nicht wettmachen, so werden wir nach dem Friedensschluß den Handelsflotten anderer Länder tributpflichtig sein." Die Schriftleimng jener Zeitung wies den Anfrager nn Anschluß daran richtigerweise darauf hin, daß es für Eng land heutzutage eine Unmöglichkeit wäre, sich auf den im Anfang des Krieges eingenommenen Standpunkt zu stellen: „Und wenn der Krieg zwanzig Jahre dauert, England wird Ho lange kämpfen, bis es den Krieg gewonnen haben wadl" England kann einfach nicht mehr sagen: Zunächst den Krieg gewinnen; was später wird, wird sich von selbst finden. Insofern Hai der U-Boot-Krieg dir ganze Theorie des Krie ges, wie England sie sich im Anfang dachte, über den Haufen geworfen. Es führt den Krieg nur sozusagen mit der Uhr in der Hand. Sobald der Zeiger eine bestimmte Ziffer er reicht hat, dann muß es «inlenken, will es nicht seins ganze Zukunft aufs Spiel setzen. So weit der Inhalt jener Briefkastenerörterung. Wir , dürfen zuversichtlich.hoffen, daß der Fragesteller in der er wünschten Weise aufgeklärt worden ist und daß auch alle übrigen Leser, die sich die Mühe gegeben haben, den Ge- dankengängen zu folgen, eine Belehrung mit nach Hause genommen haben, die fruchtbringend wirken wird. Aber wei terhin gibt diese Brieflastenbesprechung einen willkommenen Anlaß, die ganze deutsche Osffrntlichkeit erneut guf diese nütz liche Einrichtung hinzuweisen. Wie mancher wird sich ähn liche Fragen vorgelegt haben, zu deren Beantwortung sein Wissen nicht ausreichte. Und wie gern wird unsere vaterländisch gesinnte Presse im ganzen Deutschen Reich bereit sein, ihren Briefkasten allen denen zu öffnen, und zur Verfügung zu stellen, -die auf anderem Wege die gewünschte Aufklärung nicht erhallen können! Und sollte für den einen oder anderen Fall statistisches Material nötig sein, das auch der betreffenden Schriftleitung nicht zur Verfügung steht, so wissen wir, daß die amtlichen Stellen rn 'Berlin jederzeit bereit sind, dieses zu liefern. kin Märchen Don einem Mitarbeiter wird uns geschrieben: Wenn der Herbst durch die Lande ging und Sturm und Regen auf Len Straßen war, setzte sich die Mutter mit den Kindern rn die dämmerige Stube und erzählte ihnen Märchen. Und di« Kleinen saßen da mit glänzenden Augen und geröteten Wangen und lauschten den Wunderdingen aus Tausendundeine Nacht oder der lustigen Geschichte vom Froschkönig und dem eisernen Heinrich. Auch ich will heute ein Märchen erzählen. Eines für die Großen und Kleinen. Ein Märchen, d,as eigentlich keines ist, weil es sich wahrheitsgetreu zugetragen hat, west seine Geschichte erst wemge 'Jahre zurückliezt. Aber besonders die Kleinen, denen Welt und Krieg ein Begriff ist, da sie eine Zeit ohne Krieg noch nicht kennen gelernt haben, würden meine Geschichte ohne weiteres als Märchen anerkennen, wenn sie sie lesen könnten. Also: „Es war einmal" — so fängt's ja wohl an — „erne Zeit, da Friede war. Friede mit Kirschen und Erdbeeren in den Schaufenstern, mit saftigen Schinken und geräucherten Würsten bei den Metzgern, mit braunen Brezeln, Lustigen Kuchen und knusprigen Brötchen bei den Bäckern. Es war ein mal eine Zeit ohne Reichsbekleidungsstelle, da die Schneider noch Aitzüge fertigen konnten und alle Regale voll blauer, schwarzer, grauer und anderer Stoffe hatten. Es war einmal eine Zeit, da kamen dir jeden Morgen Wunderftauen vom Lande in dir Wohnung und brachten Butter und Eier, so viel du haben wolltest, und andere Frauen kamen auch, die brachten Milch in großen Kannen und gossen die pnt- lichen Behälter, die du ihnen hinhieltest, davon voll. Nicht wahr? Das Ningt wie ein Märchen. Und doch ist es noch gar nicht so lange her. Zeitungen aus dem Juli 1914 beweisen es. Da inseriert ein hiesiger Bäcker: „Täglich zweimal frische Brötchen und Torten. Spe zialität: Aerztlich empfohlenes Weizenbrot." Ein Händler empfiehlt: „la. -neue Kartoffeln, 10 Pfund nur 49 Pfg."; ein anderer: „la. gute Naturbutter, das Pfund von 1,14 M. an." Ich wische mir die Augen aus, um besser sehen zu können. Als das nicht hilft, blicke ich auf das Grün vor meinem Fenster — Grün soll ja die Sehkraft stärken; und wie ich auch jetzt nichts anderes lese, rufe ich jemand zu Hilft und lasse mir von ihm bestätigen, was da steht: la. gute Naturbutter, das Pfund von 1,14 M. an. Es ist also kein Phantom. Und weiter wandert mein suchender Bli-. Zur Dickebohnenzeit empfiehlt einer Kasseler Rippenspeer, hoch fein, mageren Speck, nußsüß, roh und gekocht, sowie la. Pariser Lachsschinken. Aber was ich dann sehe, raubt mir fast das Bewußtsein. Die Buchstaben tanzen vor meinen Augen, die Feder in meiner Hand schreibt Hieroglyphen, und in meinem Magen vollführen sämtliche Säfte, die arg mal- traitierten, eine förmliche Revolution. Und wenn ich. dir, lieber Leser, nun dazu verhelfe, daß dir 'das Wasser aus "dem Munde tropft, dann verzeihe mir freundlichst. Mir ist selbst ganz mies zumute. Denn hrer steht: „300 westfälische Nund- schnitt-Schinken, Pfund 1,25 M., westfälischen Kronensckin- ken, besonders kurz und dick ausgeschnitten, ganz ohne Hacke, Pfund 1,45 M., fest, mager und mild, westfälische Roll schinken, Stück 5—8 Pfund, zum Rohessen, Pfund 1,45 M." ' Grausam das Schicksal, das mir, der ich Rundschnitt- oder Rollschinken heute nur noch als eine Erfindung bos hafter und schadenfroher Menschen halten muß, gerade dieses Inserat in die Augen spielen muß; denn ich habe seit Frre- densgedenken keinen Schinken mehr gegessen. Aber ich ttöste mich mit der stillen Hoffnung, daß es dir, lieber Leser, nicht anders geht. Und weiter der lüsterne Blick. Weißt du was Käs« ist? Tilsiter Käse, schöne schnittig« Naturware? Es war einmal eine Zeit, da konntest du 9 Pfund für netto 3,50 M. kaufen. Oder kannst du dich, so du kein Kriegsgewinnler, gott begnadeter Hamster oder Schieber bist, erinnern, wie es aus sieht, wenn du 100 Lier aus «inen Haufen tust? Ich hab« eine ganz unklare Vorstellung davon und sehe nur etwas wie eine verschwommene weiße Masse. Aber vor vier Jähren konntest du sie kaufen, hundert Stück auf einmal. Und sie kosteten nur 7 M„ noch dazu im März, wohlverstanden. Latz mich nun schließen, lieber Leser, nebenbei nur noch, datz es in einem hiesigen Kaufhaus zur Dickebohnenzeit ein- mal ein Pfund dicke Bohnen und «in halbes Pfund Speck Zusammen für 95 Pfg. gab. Und wenn du mir den Vorwurf machst, daß es bos haft war, dieses Märchen zu erfinden, so wisse, ich brn bereits gestraft. Denn wohin ich auch immer gehe, sei es in die Kirche, sei es ins Theater, ins Kino oder in den Stadtpark: überall tanzen mir 300 westfälische Rollschinken vor den Augen herum, daß es mir geht, wie ernst Lem ' hungrigen Schneider im Märchen, der den Himmel voller Mettwürste sah. Und Las ist kein Märchen. W. 'H. Verantwortlicher Redakteur: Ernst Roßberq in Frankenberg i.S. — Druck und Verlag von C. G. Roßberg in Frankenberg i.8.