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Wilsdruffer Tageblatt : 18.12.1921
- Erscheinungsdatum
- 1921-12-18
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192112189
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19211218
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19211218
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1921
-
Monat
1921-12
- Tag 1921-12-18
-
Monat
1921-12
-
Jahr
1921
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 18.12.1921
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Beilage zum Wilsdruffer Tageblatt. Nr 295. Sonntag den 18. Dezember 1921. 80. Jahrgang Betrachtung Zum 4. Advent. Von Pfarrer Weber, Limbach. Phil. 4,4—5: Freuet euch in dem Herrn alle Wege und abermals sage ich: Freuet euch. Eure Lindigkeit lastet kund sein allen Menschen. Der Herr ist nahe. Wer hat das geschrieben? Ein Gefangener, einer, der seiner Verurteilung entgegensah. Denn als Paulus seinen Brief an die Philipper schrieb, saß er gefangen in Rom und sah mit Spannung dem Ausgang seines Prozesses entgegen, der ihm unter Umständen die Märtyrerkrone einbringen konnte. Und doch lebte nicht bloß in ihm selbst die Freude, sondern er konnte auch die Seinen, die sich sorgten und ängstigten, zur Freude auf fordern. Was war der Quell seiner Freude? Der Herr ist . nahe! dieses frohe Bewußtsein hob ihn über alles Schwere und Trübe hinaus. Wollen wir nicht von ihm lernen? Aufs Irdische gesehen, haben wir freilich allzuviel Grund, traurig zu sein und den Kopf hängen zu lasten. Ist doch unser ganzes Volk einem Gefangenen gleich, über den ungerechte Richter zu Gericht sitzen. Und dazu ist Sorge und Mangel in so manchem Hause. Wo soll da die Freude Herkommen? Und doch soll und kann sie in jedes Herz einkehren. Denn der Herr ist nahe. Weihnachten steht vor der Tür mit seiner Frohbotschaft: Auch Euch ist der Heiland geboren. Wo man nach ihm sich'sehnt und an ihn glaubt, da macht er auch heute noch das arme Herz zu seinem Kripplein, und mit ihm zieht die Freude, der Trost, die Kraft, das Leben ein. Ja Freude, Freude über Freude, Christus wehret allem Leide, Wonne, Wonne über Wonne, Christus ist die Gnadensonne. Wenn Du aber selber in ihm die Freude gefunden hast und Dein Herz von ihr hell geworden ist, dann laß die Freude auch ausstrahlen da hin, wo sie nicht ist. Eure Lindigkeit lastet kund werden allen Menschen, so mahnt der Apostel. Helfet mit, daß Weihnachts lichter angezündet werden in den Krankenstuben, den Trauer häusern, den Hütten der Armen, den Bedürftigen, den Sorgen beladenen. Dadurch wird Eure Freude nicht geringer, sondern größer. Denn die schönste und beste Erdenfreude ist, anderen Freude bereiten. Güafanü-ag im Kapp-Prozeß. (Achter Tag.) Leipzig, 16. Dezember. Nack t>er gestrigen Pause brachte ber heutige Tag sosori die Anklagerede des Oberreichsanwalts Ebermayer, nach dem der ScnatSpräsident Mitteilung von einigen eingegange nen Schreiben gegeben hatte. Dann hielt der Oberreichsan walt feine Rede unÄ beantragte zum Schluß: Ich bitte, die Angeklagten schuldig Zu sprechen. Was das Strafmaß betrifft, so kann keine Rede davon sein, daß die Angeklagten, die nur aus politischen Motiven gehandelt haben, vom ehrlosen Standpunkte aus sich betätigt haben. Zuchthaus kommt also nicht in Trage. Die Angeklagten sind allerdings verschieden zu beurteilen. Aber Herr v. Jagow ist schwerer belastet als Herr v. Wangenheim. Ich beantraar gegen den Angeklagten v. Jagow eine FestungSstrafe von sieben Jahren, gegen die Angeklagten v. Wangenheim und Dr. Schiele eine FestungSstrafe von je sechs Jahren. Nach dem Oberreichsanwalt kamen die Verteidiger der einzelnen Angeklagten zu Wort, zunächst der Rechtsbeistand Herrn v. Jagows. * Die Anklagerede des Sberreichsanwalts. Den drei Angeklagten wird zur Last gelegt, es als Mit täter unternommen zu haben, die Verfassung des Deutschen Reiches gewaltsam zu ändern, sich also des Verbrechens des Hochverrats schuldig gemacht zu haben. Der 8 81 bestraft das unternehmen, die Verfassung gewaltsam zu ändern. 'Der Be griff des Unternehmens ist umstritten. Die Rechtsprechung hat sich nach mehrfachem Schwanken entschlossen, das Unternehmen als den vollendeten Versuch zu betrachten. Der Oberreichs anwalt geht nun ausführlich auf die zur Zeit des Putsches bestehende Verfassung und die Regierungsgewalt ein, die er als durchaus rechtmäßig anerkennt. Der Führer Kapp habe einen Umsturz zweifellos angestrebt. Es ist mir eigentlich unklar, sagt der Oberreichsanwalt, wie Herr v. Jagow, der doch eine so genaue Kenntnis des Staatsrechtes besitzt, hier nun erklären will, er habe angenommen, daß er sich nicht straf fällig mache bei Annahme eines Ministerpostens, da er der An sicht gewesen sei, Kapp habe eine Diktatur auf legalem Wege erlangen können. Der Anklagevertreter geht aus die Einzel heiten und die Zeugenaussagen ein. Lüttwitz sei treffend ge- .richnct durch die Aussage eines Zeugen, der einen Ausspruch von Lüttwitz hier bekundet hat: „Wenn man mich etwa absetzt, schlagen meine Offiziere alles kaput!" ' Ich kann mir unmög lich denken, daß die Getreuen des Herrn Kapp, nämlich der Angeklagte v. Jagow, Herr v. Falkenhausen, Dr. Traub usw. am Morgen des 13. März nur einen Spaziergang nach dem Brandenburger Tor gemacht haben. Es ist Wohl ausgeschlossen, das; die Herren nicht genau informiert waren, zu welchem Zweck man sie im Tiergarten zusammenberufen hatte. Die Angeklagten behaupten, sie hätten die Verfassung nicht etwa brechen, sie hätten sie im Gegenteil stützen wollen. Ich nehme leinen Anstand, zu erklären, daß ich davon kein Wort glaube. Sie wollten meiner Ansicht nach die Diktatur, um bann, die Verfassung grundlegend zu ändern. Der Ober- rcichsanwalt führt als Beweise die Briese Kapps an. Es ist mir unerklärlich, wie die Angeklagten behaupten können, daß sie mit dem Kapp-Unternehmen nur die verletzte Verfassung wieder Herstellen wollten. Nach meiner persönlichen Anschau ung wäre cs im Interesse der Angeklagten schöner gewesen, wenn sie den Mut gehabt hätten, hier zu erklären: „Wir als gute Deutsche waren der Überzeugung, daß die November revolution unser Land ins Unglück gestürzt hat, und daß es unsere heilige Pflicht war, eine Änderung zu schaffen. Wir kannten die Bedeutung des Unternehmens und wußten, daß wir mit unserer Beteiligung daran unsere Freiheit riskieren, aber wir haben es als unsere heilige Pflicht betrachtet, uns zu beteiligen." Wenn die Angeklagten das erklärt hätten, wie es hier schon mancher andere Putschist getan hat, dann wäre mir daS vom menschlichen Standpunkt aus ungleich sympathischer gewesen. Für viel geringere Vergehen, so z. B-, wenn in irgend einem kleinen Nest kommunale Behörden durch einen Volkshausen verjagt waren, sind Hochverratsverfahren ein geleitet worden, hat man keine Bedenken getragen, anzuneh- mcn, daß auch durch ein solches Unternehmen eine Änderung der Verfassung bezweckt worden sei. Wenn aber bereits solch ein kleines Unternehmen de» TatbestaPs erfüllt, um wieviel mehr ein solches Unternehmen, wie dos Kapps, mit dem aus gesprochenen Ziel die Verfassung zu stürzen. Die Angeklagten sins als Mittäter bei dem Kapp-P^tsch zu betrachten, sie haben das Unternehmen nicht nur gebilligt, sie hatten die gleichen Ziele, es besteht auch kein Zweifel, daß sie Führer gewesen find und deshalb nicht unter die Amnestie fallen. Strafver schärfend füllt ins Gewicht, daß alle drei Angeklagten hoch- intelligente Männer waren, strafmildernd, daß man annehmen muß, sie haben nicht aus ehrlosen Motiven gehandelt. Der Obcrreichsanwalt schließt mit dem Strafantrag. Jagows Verteidiger. Rechtsanwalt Grünspach-Bcrlin spricht zunächst die Überzeugung aus, wie auch immer die Wirkung dieses Pro zesses sein werde, nach der einen Richtung scheine sie sicher: Die ser Prozeß wird das Vertrauen des deutschen Volkes zu der Rechtssprechung und zum Richtcrtum befestigen und tief in der Seele aller Volksgenossen verankern. Die Leitung des Pro zesses lehrt uns auch, daß es den Begriff des politischen Pro zesses für deutsche Richter nicht gibt, und daß die Pforten des Kcnchtssaales sich für Erwägungen politischer Art nienials öffnen» daß der Nechtsnehmer — welcher politischen Richtung er auch immer angehört — mit vollstem Vertrauen den Spruch des Gerichtes entgegennehmen darf. Der Verteidiger kommt dann auf die Anklage gegen Herrn v. Jagow. Er ist angeklagt, in Gemeinschaft mit Kapp das Verbrechen des Hochverrats unter nommen zu haben. Hiervon kann nur dann die Rede sein, wenn v. zzagow Die gleichen Zwecke verfolgt hat, die Kapp zu erreichen suchte. Ich unterstelle zunächst, daß Kapp die Ver fassung gewaltsam brechen wollte. Die Frage ist: Hatte Herr v. Jagow den gleichen Vorsatz? Die Beweisaufnahme bat nichts dafür erbracht, daß Kapp auch nur irgend einer Person die von ihm in dem vorerwähnten Schreiben erörterten Ziel« kundgetan hat." Der Verteidiger geht die Zeugenaussagen durch und fragt: „Wie kann man annehmen, daß Herr v. Jagow, der nach der ganzen^Vorgeschichte des Unternehmen- mit Kapp nur in losem Zusmmnenhang stand, nun seinerseits KappS Ziele kannte. War aber der Vorsatz Kapps ein anderer alt der Vor satz Jagows, so fällt die Anklage insoweit, als sie Herrn v. Jagow vorwirft, die Tat als Mittäter Kapps und Lüttwitz' begangen zu haben." Der Verteidiger beantragt Freisprechung. Für den Angeklagten v. Wangenheim sprach Fustizrat Görres-Berlin. Er betonte, daß nicht der leiseste Beweis erbracht sei, daß Freiherr v. Wangenheim tn irgend einer Weise sich am Vorstadium des Unternehmens be teiligt habe. Es sei nicht zu bestreiten, daß sich die öffentliche Gewalt in Deutschland konsolidiert hatte. Aber aus der and»» ren Seite müsse doch festgestellt werden, daß sich Kapp und Lütt witz, wenn auch nur für ganz kurze Zeit, durchgesetzt hatten, und daß auch Freiherr v. Wangenheim glauben mußte, daß die Durchsetzung erfolgt sei. Herr v. Wangenheim hat in reinster Vaterlandsliebe gehandelt. Justizrat Görres schloß seine Aus führungen mit den Worten: „Sehen Sie in Herrn v. Wangen heim einen Hochverräter? Sehen Sie diesen Mann, der ein Edelmann vom Scheitel bis zur Zehe ist, ein Edelmann in geistiger Beziehung, der seine ganze Kraft ein Menschenalter dem Volke geopfert hat, der ein Freund des Volkes ist. Hätten wir viele Männer, wie er es ist, stände es besser um Deutsch land. Ich beantrage den Freispruch für meinen Klienten." Nun wurde die Verhandlung vertagt. das L i von KsepvslsKorf. G c s ch ä f s j l e n n v e und Leumundszeugen. 8 Hirschberg, 16. Dezember. Ilm di? Glaubwürdigkeit Wilhelm Grupens, des Bruders des Angeklagten, entspann sich gestern noch ein kleines Geplänkel zwischen dem Vorsitzenden und den Verteidigern. Wilhelm, der Mann, der nichts weiß, weiß auch nicht, wann und wo er zuerst von dem Verschwinden seiner Schwägerin ge hört hat. Auch über Dinge geschäftlicher Natur kann er nur unsichere, zum Teil sehr verworrene Auskunft geben. Aus allen diesen Gründen bleibt >dcr Zeuge zunächst unvereidigt. Hein rich Grupeg, ein anderer Bruder des Angeklagten, hat von dem Verschwinden der Schwägerin nur durch die Zeitungen ge hört, da er als Schiffsführer in Kiel lebt und mit der Familie dcö Bruders nur in sehr lockerer Verbindung stand. Recht interessant gestaltete sich die Vernehmung des folgen den Zeugen, eines echten, kernhaften holsteinischen Bauern au- Mehlbeck bei Ottenbüttel. An diesen Mann, per sich Hinrich Maas nennt, wollte Peter Grupen das Gut Äleppelsdors ver kaufen, obwohl es ihm gar nicht gehörte. Es war schon alle- zur Fahrt nach Schlesien vorbereitet, aber die Sache zerschlug sich, da die Ereignisse sich überstürzten. Hinrich Maas machte seine Angaben in sehr vorsichtiger, bedächtiger Weise und muß erst durch zwei andere Zeugen aus Mehlbeck, den Lehrer Witt- m a ck und den Kaufmann Wich, daran erinnert werden, d«ß er von dem in Aussicht stehenden Gutskaus mehrmals ge sprochen hat. Auch Maas wurde unter Aussetzung der Bel eidigung vernommen. Es kamen nun mehrere Leumundszeugen an die Reihe: Lehrer, die Peter Grupen früher unterrichtet hatten, und Stras- anstalLSbcamte, die während der Voruntersuchung Gelegenheit gehabt hatten, ihn genauer zu beobachten. Sie alle stellten ihm recht günstige Zeugnisse aus. Die Lehrer rühmten seinen Fleiß — einer nannte ihn strebsam und ehrgeizig. Die Beamten er klärten, daß er sich im Gefängnis musterhaft benommen, immer seine Unschuld beteuert und bisweilen geweint habe. Auf Wunsch des Staatsanwalts wurde nun noch einmal die alte Frau Eckert aufgernfen. um sich über den Ebarakt-r der Ursula zu äußern. Die Sachverständigen. Es ist möglich, daß noch neue Zeugen vernommen werde»? groß dürfte aber ihre Zahl auf keinen Fall sein. Vorläufig gilt die Zeugenvernehmung als abaeschloilsn. und es boaann . 1 1! »«M»! 0ME"' Die Grafen von Freydeck. 18j Roman von A. Ostianb. Ganz dunkel, wie aus weiter, weiter Ferne, dämmerte ein Erinnern auf in ihr: sie hatte einst, wahrscheinlich als ganz kleine» Kind, dieses selbe Gesicht gesehen, sie hatte den Blick dieser Augen gefühlt. Hatte sie nicht einmal in einem schönen, sonnigen Zimmer gewohnt und in einem weißen Bettchen ge schlafen, und war aufgewacht, weil jemand sanft über ihre Augen strich? Hatte nicht neben ihrem Bettchen eine schlanke Gestalt gekniet, und dieses selbe liebliche, süße Gesicht hatte sich über sie geneigt, und dieser Mund hatte sie geküßt? Es geht uns wohl allen manches Mal so. Jahre und Jahre lang schlummert eine Erinnerung tief auf dem Grunde unserer Seele. Nichts rührt daran, und das Ver gessen breitet seinen schweren, dichten Mantel darüber. Aber da — nach langer, langer Zeit kommt etwas, ein Zufall, ein Nichts, ost nur ein leiser Ton, ein ferner Duft, ein Bild, und siehe: die Erinnerung war nicht tot, sie hatte nur geschlafen. Nun aber hebt sie sich plötzlich empor, wird stärker, wächst und ermahnt uns: das war einmal! Hattest du es wirklich ganz vergessen? Und es hat doch gespielt in deinem Leben, und der Eindruck war so stark, daß er nie mehr völlig verwischt werden kann! — Ganz so ging es Hilda Wentheim, als sie nun das kleine Bild ansah, welches Onkel Hugo wahrscheinlich gestern aus irgend einem Winkel seines Schreibtisches her- vorgetramt hatte. Das Bild sprach zu ihr und mahnte sie: hattest du mich vergessen — ganz vergessen? Hilda Wentheim schüttelte den Kopf, als spräche sie in Wahrheit mit dem Bilde. Vergessen' Ja, dis heute. Aber nun weiß ich es wohl, daß i ich einst, vor langen Jahren, gekannt habe, daß du ls einen großen Raum einnahmst in meinem Ki. -itsdasein. Aber sonst weiß ich nichts mehr, gar nichts mehr! Sie wendete das Blatt um. „Grete" stand da mir fester, klarer Schrift rückwärts geschrieben. Und darunter, weit kleiner, ein Datum. Das junge Mädchen stand noch immer in tiefem Sinnen. Da begann drüben im Kloster wieder die Glocke zu läuten. Aber diesmal klana es anders, als wenn sie zum Gottesdienst rief. Sie klang so, als wäre es überhaupt eine andere Glocke, eine kleinere, schrillere. Unwillkürlich hob Hilda Wentheim den Kopf und horchte. Und nun wußte sie es: das war die zweite Kloster glocke, welche nur dann geläutet wurde, wenn jemand hier oben im Sterben lag. Aber wer sollte gestorben sein? Oder läuteten die frommen Schwestern jetzt für den toten, alten Grafen von Freydeck? Aber die Glocke sollte doch nur erklingen, wenn jemand im Kloster verschieden war. Also dort drüben lag jetzt auch ein Mensch, der den groß m, letzten Kampf ausgerungen hatte. Der Gedanke erschütterte das einsame, junge Mädchen. Sterben! Abschied nehmen für immer! Seit wenigen Stunden drängte sich dieser Gedanke, weicher sonst der Jugend so fern liegt, zum zweiten Male an sie heran. Unwillkürlich faltete sie die Hände über dem Bild des schönen Mädchens mit den ernsten Augen, und ihre Lippen bewegten sich in einem stillen Gebet. Und noch immer klang durch die Morgenstille ringsum die schrille Stimme der kleinen Glocke. Sterben! Sterben! Ein Frösteln überlief das Mädchen. „Grete!" sagte sie laut vor sich hin und sah aus das Bild nieder. Ihr war es, als hielte sie eine wärme Menschen hand zwischen ihren Fingern, als sei jemand bei ihr, an den sie sich halten könne. „Gi ete I" Hilda Wentheim dachte zurück an jene Stunde aus ihren Kindertagen, in welcher sie diese Augen auf sich ruhen gefühlt. Aber alles andere blieb dunkel in Erinnerung. Und noch immer sang das Glöckchen vom Kloster turm das Sterbelied Wieder schüttelte ein Schauer das Mädchen. Ein Ahnen überkam sie, daß der Zufall oft seltsam spielt im Menschen leben, und eine innere Stimme sagte ihr, daß es oft einen Zusammenhang gibt zwischen den Ereignissen, von dem wir auch nicht die entfernteste Ahnung haben. Oft und oft — nach langen Jahren — dachte Hilda Wentheim an diese stille Stunde 'm Arbeitszimmer ihres Onkels, da sie in der Hand jenes Bild hielt und das Sterbeglöcklein sie mahnte, an eine Seele zu denken, Lie vor kurzem der irdischen Hülle entflohen und zurüctgekehrt mar zu dem Schöpfer aller Dinge. — Ueber dem weiten Forst und den Bergen lag der Morarnnebel gleich einem dickten, weißen Sckleier. durck oen nur yler uno oa em Sonnenstrahl sich seinen Weg erkämpfte. Dann flammten die roten und gelben Blätter am Wege plötzlich auf, der Nachttau glitzerte auf Ast und Zweig, wie Diamanten funkelte der Reif auf dem dürren Grase. Hier und da brach ein Nudel Rehe aus dem Dickicht, ein Hase rannte quer über die breite Fahrstraße, eine Amsel hüpfte am Wegrand. Aber alles Lebendige war mit einem Male fort, weg- gewischt, als sei es niemals gewesen, als nun, von fern her sich nähernd, ein Laut hörbar wurde — ein Menschen schritt. Einsam, vollständig verlassen lag die Fahrstraße. Und nun tauchten schon aus dem Nebel zwei Gestalten auf, welche rasch näher kamen. Voran schritt ein schlanker, hochgewachseuer Mann von ungefähr vierundzwanzig Jahren. Er ging schnell dahin, als sei er diesen Weg schon unzählige Male gegangen, als kenne er jede Dieguno und Abzweigung genau. Der junge Mann hatte den Hut abgenommen und ließ den scharfen Morgenwind ungehindert mit seinem dichten, braunen Haar spielen. Jetzt wandte er sich zurück und rief, einen Augen blick stehen bleibend: „Nun, Käthe? Ick soll wohl ein wenig helfen? Wie? Der Weg steigt hier sehr stark an? Na, warte —" Er sprang zurück und war mit wenig Sätzen dicht neben einer schmächtigen, kleinen Gestalt, welche nur mit sichtlicher Mühe vorwärtskam. Die schmalen Wangen brannten in einem jähen Not, welches gegen die Blässe des zarten Gesichtes seltsam abstach. Dieses Gesicht war so edel geschnitten, der Ausdruck desselben so hochintelligent, baß man das Mädchen obns weiteres für schön hätte gelten lassen müssen, wenn nicht der Körper vollständig verkrümmt gewesen wäre. Die rechte Schulter war viel höher als die linke, der Gang mühsam und schleppend. Bei den Worten des jungen Mannes war das Mäd- chen einen Augenblick stehengeblieben. Ihre Brust ar beitete stark, aber ihre graue», warme» Augen sahen lächelnd, froh in sein Gesicht, in dem jetzt deutlich ein Zug ernster Besorgnis stand. _ „Wie konnte ich auch so lausen!" sagte er halb arger- lick, halb entschuldigend. „Und dabei dich ganz vergeßen, Kälhel Das macht die Heimatlust. Und dann die Sorge: wie steht's zu Hause? Ich komme nickt über Vaters letzten Brief hinaus. Da war
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