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Wilsdruffer Tageblatt : 22.11.1921
- Erscheinungsdatum
- 1921-11-22
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192111227
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19211122
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19211122
- Sammlungen
- Saxonica
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Zeitungen
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1921
-
Monat
1921-11
- Tag 1921-11-22
-
Monat
1921-11
-
Jahr
1921
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 22.11.1921
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kleine Ieiiunq für eilige Leser. * Die Reparationskommission der Alliierten wurde vor ihrer Abreise vom Reichskanzler Dr. Wirth empfangen. * Der Reichstag nahm die Vorlage über die Erhöhung der Invalidenrente einstimmig an. * Hugo Stinnes ist nach London gereist. Der Zweck der Reis« sollen Besprechungen über Kredithilfe für das Reich sein. Stinnes wird arzch von Lloyd George empfangen. * Der Völkerbundsrat hat in der albanischen Frage die Räu mung des von Jugoslawien besetzten Gebietes vereinbart. * Der Bankier von Rothschild hat sich aus London nach New- york begeben, angeblich, um über die Möglichkeit einer denk schen Anleihe zu verhandeln. * Präsident Harding hat in Washington die Proklamation des Friedens mit Österreich unterzeichnet. LÜi MiMarSen FeWekrag. Man wird es bald ausgeben müssen, die Dinge dieser Welt, wenigstens soweit Deutschland in Frage kommt, ver stehen zu wollen. An dem gleichen Tage, an dem die in Perlin weilenden Mitglieder der Internationalen Garan- lielommission sich zur Rückreise nach Paris anschicken und an dem sie verlautbaren lassen, daß nach dem Ergebnis ihrer Untersuchungen Deutschland wohl imstande fei, die '00 Goldmillionen der Januar-Entschädigungrate zu leisten, an dem gleichen Tage wird die Höhe unseres Reichsdefizits für 1921 auf sage und schreibe 161!^ Mil liarden Mark beziffert. Die Herren, die uns soeben unsere Zahlungsunfähigkeit in dieser Weife befcheinigen, wird doch Wohl auch diese einigermaßen lehrreiche Abschluß ziffer bekannt gewesen sein — nebst manchen anderen, aus denen gleichfalls der ganze Jammer unserer Finanzver hältnisse mit gar nicht mißzuverstehender Deutlichkeit her ausspringt. Aber den Herren ist es möglicherweise auch mehr darauf angekommen, in Berlin ein paar Tage zu verbringen und hinterdrein behaupten zu können, sie hätten die Unterlagen der deutschen Leistungsfähigkeit an Ort und Stelle „eingehend studiert", um hinterher um so rücksichtsloser die fälligen Zahlungen einzutreiben. Genau so, wie sie die oberschlesische Frage, die in Paris längst entschieden war, schließlich an eine Art Schicdsgerichts- instanz verwiesen, von der sie der Welt gegenüber behaup ten konnten, sie sei mit den Bürgschaften des Rechts und der Unabhängigkeit umkleidet — um hinterdrein den Raub dieses wertvollen deutschen Landes der Welt gegenüber mit dem Spruch einer angeblich unparteiischen neutralen Instanz decken zu können, überall dasselbe Spiel auf Kosten Deutschlands! Wie lange die Herren wohl noch glauben mögen, es fortsetzen zu dürfen? Die Schlußabrechnung für 1921 mit dem Riesenfehl betrag von 161^ Milliarden ist bei der Vorlegung des dritten Nachtragsetats an den Reichsrat festgestellt wor den. Die Ausgaben für Reparationszahlungen spielen da bei natürlich eine große Rolle. Aber auch im kleinen zeigt sich die ungeheure Tragweite der fortschreitenden Mark entwertung, mit der wir uns alle Tage beschäftigen müssen. Zur Unterstützung der Rentner aus der Invaliden versicherung und der notleidenden kleinen Rentner werden 1^ Milliarden angefordert. Natürlich werden auch die Beihilfen für unterstützungsbedürftige Kriegsteilnehmer und für Kriegerwitwen weiter erhöht. Der Reichszuschntz für Post- und Eisenbahnen wird gar schon auf 20 Milliar den beziffert. Die Ausgaben für die Interalliierte Kom mission in Deutschland zieren den Nachtragsetat mit 1!4 Milliarden, für die Rheinlandskommission allein mit 198 Millionen, für die Reparationskommssion mit 800 Mil lionen Mark. Dabei wird die Reparationslast im vollen Betrage erst im nächsten Etat erscheinen. Begreiflich, daß bei diesen Aussichten auch die hartge sottensten Zahlenphantasten angst und bange zu werden cmfängt. Man sucht die Einnahmen unausgesetzt durch neue Steuervorlagen zu steigern, aber die Ausgaben sprin gen über die laufenden oder erst noch zu erwartenden Ein gänge ins Ungemessene vorauf. Also was tun? Unnach sichtige Sparsamkeit im großen wie im kleinen, ruft der Reichsrat. Man bekommt das Grauen angesichts der Steuergesetzmacherei, die doch lediglich zur Folge hat, daß die Fülle der Gesetze von niemandem mehr gekannt, ge schweige denn ausgeführt oder befolgt werden könne. Wie der einmal wird nach einer einzigen tatkräftigen, fac^un- digen Persönlichkeit gerufen, die mit allen erforderlichen Machtbefugnissen ausgerüstet, ihre ganze Arbeitskraft in den Dienst der unbedingt notwendigen Einschränkung unserer Verwaltungsausgaben zu stellen habe, wobei nur die Kleinigkeit außer acht gelassen wird, daß wir einen solchen „Finanzdiktator" in dem Geheimrat Dr. Karl schon einmal gehabt, ihn aber nach kurzer Wirksamkeit wieder haben von der Bildfläche verschwinden sehen, ohne daß er auch nur das geringste durchzufetzen vermocht hätte. Die Spitzen der Verwaltung setzten sich gegen seine Arbeit zur Wehr. Der stellvertretende Reichssinanzminister Dr. Hermes sprach von den heißesten Bemühungen der Reichsregierung, nichts unversucht zu lassen, um aus eige ner Kraft zu einer Änderung der gegenwärtigen trostlosen Situation unserer Finanzen zu kommen, und auch er setzte sich, selbstverständlich, für die Notwendigkeit von Erspar nissen auf allen Wegen und Stegen ein. Aber das alles sind Worte, wie wir sie aus gleichem Anlaß, an gleicher Stelle, wenn auch von anderen Männern, schon gar zu ost gehört haben. Der Nachtragsetat wurde dem Neichs- finanzminister bewilligt. Im Reichstag wird das gleiche Schauspiel wiederholt werden — und ein Ende ist vor läufig nicht abzusehen. Bor der Verständigung? Zurückziehung des Eisenbahnplanes durch die Industrie. Die letzten Sitzungen und Besprechungen haben im Neichsverbande der Industrie, wie zitverlässig verlautet, eine Änderung der Ansichten über die dem Reiche zu ge- währende Kredithilfe wachgerufen. Man soll das bis herige Vorgehen nicht mehr für zweckentsprechend halten. Der Umschwung >»mmt in einem Schreiben zum Aus druck, d«S der Reichsverband der Industrie an den Reichs kanzler Dr. Wirth gesandt hat. In dieser Mitteilung stellt sich der Reichsverband wieder auf den Boden der Ent- schlietzung, die von der Generalversammlung in München gefaßt wurde. Dort soll der Jndustrieverband nur eine Privatisierung der Eisenbahnwerkstätten ins Auge gefaßt haben, tvährend die Verwaltung der Bahnen selbst in den Händen des Staates bleiben sollte. Die Verhandlungen mit der Reichsregierung sollen jetzt weitergehen. Innerhalb des Jndustrieverbandes nimmt man an, daß die Besprechungen über das Kredit- angebot und die von den Industriellen daran geknüpften Wünsche mit einem Kompromiß enden werden. Als be deutsam für die Kreditakton hält man auch die Reise von Hugo Stinnes nach London. Die Abfahrt von Berlin er folgte über Rotterdam. In Parlamentskreifen nimmt man an, daß Sünnes auch in Rotterdam Besprechungen mit holländischen Großindustriellen gepflogen bat. Die Reise von Sünnes nach London gilt vor allem Besprechun gen mit englischen Finanzleuten. Die bayerische Negie rung sprach sich gegen die Entstaatlichung der Bahnen aus. Neue Protestnote wegen der Dieselmotoren. Eingriff in das Wirtschaftsleben. Die Interalliierte Kontrollkommission hat neuerdings beanstandet, daß in Mannheim eine bestimmte Art schnell- laufender Dieselmotoren hergestellt werden, und hat den Bau dieser Maschinen untersagt. Gegen diesen unberechtig ten Eingriff der Entente in das deutsche Wirtschaftsleben richtet sich daher eine neue deutsche Protestnote, die in Paris überreicht wurde, und in der es heißt: „Die Kontrollkommission verläßt das ihr einzig und allein zugewiesene Feld der Abrüstungskontrolle und unternimmt es, in die wirtschaftliche Betätigung und Ent wicklung Deutschlands auf das empfindlichste einzugreifen. Sie will einen Fabrikationszweig der deutschen Industrie unterbinden, der seine natürliche Bedeutung auf dem Gebiet der Friedenswirtschaft hat und immer haben wird. Die deutsche Regierung ist nicht in der Lage, der Forderungder Kontrollkommission Folge zu geben, und bittet ans Gründen des Rechts und der Gerechtigkeit, die Kommission anzuweisen, von ihrem Ver langen Abstand zu nehmen." Amerika gegen Deutschlands Bankrott Stundung der Zahlungen. Übereinstimmende Nachrichten aus Washington be sagen, daß die amerikanische Regierung der Ansicht ist, daß die von den Alliierten von Deutschland geforderten Zah lungen zu hoch sind und daß Frankreich und Italien in eine Ermäßigung einwilligen müßten. Die amerikanische Regierung sei der Ansicht, daß die Zahlung, die Deutsch land am 15. Januar zu leisten habe, vielleicht den Bankrott Deutschlands verursachen würde. Man müsse Deutschland Stundung oder Nachlaß gewähren. Aus Newyork verlautet weiter, es bestehe die Wahr scheinlichkeit, daß auf die Washingtoner Konferenz, wenn sie erfolgreich verlaufen fallt«, unmittelbar eine Konferenz zur Wiederherstellung der Währung folgen werde. Auch in England und Italien soll man vollständig davon über zeugt sein, daß mit der nächsten Zahlung am 15. Januar die Finanzkräfte Deutschlands erschöpft seien, selbst wenn die Industrie die Anleihen bekäme. Es sei daher die Hoff nung nicht von der Hand zu weisen, daß nach dieser Zah- lnug Deuückland ein Aufschub gewährt werde. Ein Appell an Amerika. Geldentwertung und Arbeitslosenfrage. Auf der Internationalen Arbeftskonferenz wuchs die Debatte über die Arbeitslosigkeit zu einer großen Kund gebung zur allgemeinen Wirtschaftslage und zur Valuta frage aus. Eine große Rede Hielt unter dem Beifall der Ver sammlung der französische Arbeitervertreter Jouhaux, der auf die inneren Zusammenhänge zwischen Arbeitslosigkeit und Valutakrise zu sprechen kam. Er empfahl aus das Nachdrücklichste die Kredithilfe für die Länder mit ent werteter Währung, wie Deutschland. Die Festlegung der Währungen sei gegenwärtig die wesentlichste Aufgabe. Die Lage sei gegenwärtig ebenso gefährlich für die wäh rungsstarken wie fürdiewährungsfchwachenLänder. Diein folge ihrer niedrigen Währung wegen ihrer billigen Liefe- rungsfähigkeit stark beschäftigten Länder (Deutschland) müßten daran denken, daß ihre industrielle Vorzugs stellung nur eine vorübergehende Erscheinung sei und zum Bankerott führen müsse, wenn nicht an die Gesundung der gegenwärtigen Verhältnisse gedacht würde. Jouhaux wie auch andere Delegierte traten der Legende von der überproduktton der Welt entgegen. Es handelte sich nicht um Überproduktion, sondern um geschwächte Kaufkrast der Völker. Das Problem könne daher nur international gelöst werden., Es sei im Grunde ein Finanzproblem, und das Heilmittel sei die interna t i o- na le Kreditorganisation. Es gebe gegenwärtig Länder, die in ihrem Goldreichtnm, wie andere in ihrer Armut, sterben. Dieser Zustand stehe im Widerspruch zu den Grundsätzen der Völkcrsolidarität, die am Ausgang des Krieges anerkannt wurde. Der Geldumlauf in der Welt müsse wiederhergestellt werden. Jouhaux richtete einen dringenden Appell an Amerika, dessen Arbeitslosen zahl beweise, daß auch der größte Goldbestand wirtschaft lichen Süllstand nicht verhindern könne. Amerika müsse den bedürftigen Völkern solidarisch seine Hilfe bringen Deutscher Reichstag. f147. Sitzung.) Berlin, IS. November. Die Tagesordnung der heutigen Sitzung war sehr mannig faltig. Zuerst wurde von dem Berichterstatter Aufschluß ge geben über die Vorschläge des Ausschusses zur Förderung des Wohnungsbaues. Demgemäß sollen in den näch sten beiden Jahren je sechs Milliarden ausgesammelt werden, wofür jährlich WO 000 Wohnungen neu zu schaffen feien. Sollte es nicht möglich sein, die Baukosten unmittelbar durch Erhö hung der Wohnungsabgaben aufzubringen, so soll es den Län dern überlassen sein, die neuen Einnahmen unmittelbar zu Zuschüssen oder zur Verzinsung und Tilgung der notwendigen Beträge zu verwenden. Die Mehrheitsparteien haben sich bei dieser Vorlage auf eine gemeinsame Erklärung, des Inhalts geeinigt, wonach der Bericht nur zur Kenntnis zu nehmen und eine grundsätzlich« Stellungnahme der einzelnen Parteien da mit einstweilen nicht zu verbinden sei. Diese Erklärung wurde gegen eine kleine Mehrheit angenommen. Es folgte die Beratung eines auf gemeinsamen Antrag aller Parteien eingebrachten Gesetzentwurfes zur Ergänzung des Gesetzes über Abänderung des Versicherungsaesetzes für An- gestebte. Nachdem über die zwischen den Parteien stattge- simdenen Verhandlungen Bericht erstattet worden, wurde der Gesetzentwurf in allen drei Lesungen angenommen. Nun kam man zu dem Ausschußbericht über die Erhöhung der Unterstützungssätze für Erwerbslose. Reichsarbeitsminister Brauns erkannte an, daß die Leistun gen den Anforderungen der Jetztzeit angepaßt werden müssen. Darauf wurde der Bericht mit dem Ausschußanttage ange nommen, die bisherigen UnterMungsbeträge durchschnittlich um ein Drittel zu erhöhen. Weiter versagte das Haus die Genehmigung zur Straf verfolgung des Ab«. Puchta (U.-Soz.) und des Abg. Schulze-Berlin (Deutschnal.) wegen Beleidigung. Die Entschließung des Ausschusses wurde angenommen, wonach die Einstellung von Beamtenanwärtern in allen Zweigen der Reichsverwaltung bis zur nächsten Haushattsberatung zu untersagen ist. Bei dem Anttag der Kommunisten zur soforti gen Besprechung des Hungerstreiks von Strafgefan genen in Lichten bürg entstand eine lebhafte Geschästs- ordnungsdebatte. Sie gab Anlaß zu großem Lärm, woran sich auch mehrere Tribünenbesucher beteiligten. Präsident Loebe rügte das und drohte die Ruhestörer aus dem Hause entfernen zu lasten. Die Debatte eirdete mit dem Beschluß, den Untrem er Lusiizreform und Amnestie. Die Pläne deS neuen Reichsministers. Reichsjustizminister Pros. Dr. Radbruch hat, wie .. in einer Zeitschrift darlegt, die Absicht, außer den ver schiedenen Aufgaben, die mit der seit langer Zeit schwe benden großen Strafrechtsreform Zusammenhängen, sich in erster Linie der Nachprüfung aller von den Sonderge- ver Kommunisten mit der ersten Beratung des Gesetzentwurfs zur Erweiterung des Anwendungsgebietes der Geldstrafen zur Einschränkung der Freiheitsstrafen zu verbinden. Reichsjustizminister Radbruch hatte sich vorher bereit erklärt, über die Zustände in Lichtenburg Auskunft zu erteilen. Zu dem Gesetzentwurf erklärte der Abg. Rosenfeld lU.-Soz.) u. a., die Geldstrafen müssen sich den Vermögensver- bältniffen anpassen. Welcher Arbeiter ist in der Lage, 50 000 Mark Geldstrafe aufzudringen, wenn er wegen Diebstahl zu Gefängnis verurteilt ist. Das Gefängnis ist moralisch die höchste Gefahr für den Unbescholtenen. Besonders trübe sind die Verhältnisse in Boyern. Mg. Koenen (Komm.) äußerte ebenfalls Bedenken gegen den Entwurf, weil die Arbeiter keine Geldstrafen zahlen können. Mitunter sind Mißhandlungen in den Gefängnissen zur Selbst verständlichkeit geworden. Der Hungerstreik in Lichtenburg lei der Beweis, daß die Qualen unerträglich geworden feien. Die Arbeiter sind entschlossen, einzugreifen. Jedenfalls wird sich die Arbeiterschaft bei dem Gutachten des Rechtsausschusses des Reichstages nicht beruhigen. Neichsjustizminister Dr. Radbruch erklärte: Auf den Gesetzentwurf bin ich stolz. Er bringt Lin derungen, er bringt eine Fülle von Segen. Wegen des Strafvollzuges habe ich Anweisungen erteilt, eine Re vision der einschlägigen Bestimmungen vorzunehmen. Für Bayern werde ich das Recht der Reichsaufsicht in Anspruch nehmen. Die Art, wie Genosse (große Heiterkeit) Rosenfeld die Sache behandelt, ist nicht als unbedingt richtig anzusehen. Jedenfalls will ich nicht mehr als nötig in die bayerischen Än- zeleaenbeiten eingreifen. Stürmische Unterbrechungen. Der Hungerstreik von Lichtenburg ist eine heroische Torheit, aber er bleibt eine Torheit. Angesichts der zahlreichen noch ungesühnten Verbrechen von rechts gegen links (große Unruhe rechts und lebhafte Zurufe, so daß der Minister einige Minuten lang seine Ausführungen nicht fort- setzen kann), ist diese Torheit vielleicht etwas verständlicher, aber ich hätte, nach den früheren Besprechungen mit den Füh rern der Kommunisten, eher eine Abmahnung an die Streiken den erwartet als eine Verherrlichung. So aber wird der Streik nicht zu einer Verzweiflungstat, sondern zu einer leeren De monstration. (Die am Fuß« der Rednertribüne stehenden Kom munisten und Unabhängigen erheben hier einen ungeheuren Lärm. Der Minister wurde fortwährend unterbrochen und mußte wiederum warten, bis Präsident Loebe die Ruhe eini germaßen wieder hergestellt hatte.) Ich gedenke, fuhr der Mi nister fort, vor dieser Demonstration nicht zurückzuweichen. Eine Lebensgefahr besteht für keinen der Kranken. Im übri- gen sollen die Kranken ins Lazarett kommen, ohne daß da durch die Strafe unterbrochen wird, denn dazu werden wir uns nicht zwingen lassen. (Wiederum Zurufe seitens der äußersten Linken, verbunden mit Pfui-Rufen.) Falls sie aber ein Gnadengesuch einrcichen, soll sofort die Angelegenheit ge prüft werden. Im übrigen sollen die einzelnen Fälle im nächsten April und von da ab wiederkehrend in halbjährlichen Pausen aufs neue geprüft werden. Gnadenerweise sind bisher erteilt worden, in 766 Fällen zum Beispiel wurden Zuchthaus- in Gefängnis- oder Festungsstrafen umgewandelt. Nur in 560 Fällen wurde von einer Gnade abgesehen. Im übrigen soll das Begnadigungsrecht namentlich im Hinblick auf die Mit läufer weiter ausgedehnt werden. Daher die vielen Nach prüfungen. Der Hungerstreik will die vom Reichstage abge lehnte Amnestie erzwingen. Eine Amnestie erscheint mir auch heute noch nicht möglich, so lange sie auf der äußersten Linken nicht auf das Kampfmittel der Gewalt verzichten, können sie von uns nicht «inen Verzicht auf Strafverfolgung verlangen. (Wiederum ungeheurer Lärm auf der äußersten Linken und lebhafte Pfui-Rufe.) Mg. Dr. Rosenfeld (U.-Soz.) erklärte, daß er durch die Ausführungen des Ministers geradezu erschüttert worden sei. Er erblicke in diesen Ausführungen einen Beweis dafür, daß ein Sozialist im Bunde mit bürgerlichen Parteien für die Arbeiterschaft verloren fei. Er, der Redner, halte an der For derung der Amnestie fest, man woSb kein« Gnade, man wolle Recht. Reichsjustizminister Radbruch erwiderte, er stelle fest, daß der 'Abg. Rosenfeld die Hungerstreiker zum Erfolg führen wolle, statt sie zur Vernunft zu bringen. Der Minister schloß mit der Frage: Sollen wir etwa unseren Feinden durch eine Amnestie das Spiel erleichtern? (Abermals furchtbarer Lärm aus der äußersten Linken.) Abg. Levy (Komm.) und Abg. Koenen (Komm.) greifen Minister Radbruch heftig an. Koenen sagt, im Hause sei eine Abordnung der Großbetriebe gewesen, die den Minister hätten sprechen wollen. Nach der heutigen Rede des Ministers aber habe die Abordnung jede Hoffnung ausgegeben, das Ohr der Minister zu finden, und habe auf die Unterredung verzichtet. Hier ries der Abg. Lübbring (Soz.) dem Redner zu: „Das ist ein Schwindel, die Unterschriften habt ihr wohl selber ge macht." Mg. Hoellein (Komm.) hielt daraus dem Abg. Lübbring die Faust unter die Rase rwt dem Ruse: „Das kann nur so ein verkommenes Subjekt We du." Nach diesem Zwischenfall fuhr der Abg. Koenen fort, Hr Minister Radbruch habe sich als der typische Stinnes- Mlister gezeigt. (Stürmische Heiterkeit.) Abg. Ledebour (U.-Soz.). Alle Parteien von den Deutsch nationalen bis zu den Mehrheitssozialisten lassen sich durch Yen Justizminister vertreten, ein Umstand, den die Arbeiter jwöhl beachten mögen. Der Redner bedauerte den Reichsjustiz- tzEinister wegen seiner Äußerungen. Wenn Abg. Lübbring von Mchwindel gesprochen habe, so könne er sagen, er, der Redner, sÄ von Arbeitervertretern aller sozialen Parteien bevollmächtigt worden, der Empörung über das Auftreten des Ministers und das Behalten der Mehrheitssozialisten Ausdruck zu geben. Abg. Dr. Haas (Dem.) bezeichnete die Beschuldigungen gegen die bayerischen Gefängnisse als erfunden. Darauf wurde beschlossen, einen Untersuchungsausschuß einzusetzen. Dagegen churde der vorliegende kommunistische Antrag abgelehnt und die Vorlage auf Erweiterung des Geldstrafengebietes wurde dem Rechtsausschuß überwiesen. Russische Schiffe in deutschen Häfen. Abg. Plettner (Komm.) behandelte die kommunistische Interpellation über das Verbot des Landens russischer Schisse in deutschen Häfen. Einem russischen Lazarettschiff fei die Lan dung im Stettiner Freihafen untersagt, es durste nur unter polizeilicher Bewachung im Jndustriehafen ankern, und das Schiff wurde mehrfach polizrilich untersucht. Ähnlich sei es einem russischen Schiffe in Hamburg ergangen. Es mutzte laut polizeilicher Vorschrift in dem sogenannten „Friedhof" landen, wo nur Wracks liegen. Der Reichsminister des Innern, Dr. Köster, beantwortete die Interpellation, indem er ausführte, daß unsere Beziehun gen zu Rußland ohne jede Sentimentalität wcchrgenommen werden müßten. So wenig sich die Sowjetrepublik einen Ein griff in ihre innere Politik gefallen lassen würde, so wenig können Wir uns derartige Eingriffe gefallen lassen. Zu den Reibungen, aus di« die Interpellation Bezug nimmt, sei es dadurch gekommen, daß die Sowjetrepublik für ihr« sämt lichen Staatshandelsschiffe das Recht d«r Exterritorialität ver lange. Das sei etwas völlig N«ues, und der Minister glaubt nicht, daß die Sowjettegierung mit den Ansprüchen durchdrin gen werde. Wetter deutete der Minister an, daß die Vertreter der Sowjetrepublik, die sich aus den russischen Schiffen be fanden, nicht nur wirtschaftliche Beziehungen Pflegen, sondern auch politische Werbetätigkeit entfalten wollen.
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