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Wilsdruffer Tageblatt : 29.04.1921
- Erscheinungsdatum
- 1921-04-29
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-192104290
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19210429
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19210429
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1921
-
Monat
1921-04
- Tag 1921-04-29
-
Monat
1921-04
-
Jahr
1921
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 29.04.1921
- Autor
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London und in Washington seine Wirkung tun soll. Wenn inan ihn hört, wird es sich am 30. April, in der Sitzung des Obersten Nates, allenfalls nur noch um Formalitäten handeln, denn können die Alliierten überhaupt etwas ande res tun als ja und Amen zu sagen zu allen den militäri schen, wirtschaftlichen und politischen Maßnahmen, die Frankreich vorbereitet hat, um das dreimal Vertrags brüchige Deutschland zur Erfüllung seiner Verpflichtungen zu zwingen? Wieder und immer wieder weist er aus unsere Unterlassungen und Verfehlungen hin, und er denkt natürlich nicht daran, sich auf Diskussionen darüber einzu lassen, ob hier Unzuträglichkeiten vorgelegen haben, oder ob wir überhaupt mit Grund bestreiten, was uns vorgewor fen wird. Was er braucht, ist unser böser Wille — und den wird er sich von keiner Macht der Welt wegdisputieren lassen, so leicht auch nur bei einer Spur von Unbefangen heit der Nachweis zu führen wäre, daß es einen besseren VertcagSwillen als den deutschen gar nicht geben kann. Ihm ist es um die Macht zu tun, und nur um die Macht. Und zwar ebenso sehr um seine eigene, die er den unent wegt im Hintergrund wirkenden und wühlenden Poincarb Tardieu und Genossen gegenüber auf das zäheste vertei digt, wie auch diejenige der französischen Republik, die er trotz Entente und Völkerbund unter keinen Umständen aus wärtigen Machteinflüssen ausliefern will. Das schließt natürlich nicht aus, das er Recht und Gerechtigkeit trotzdem unentwegt im Mund führt. Im Gegenteil, je erbarmungs loser seine Politik, desto salbungsvoller seine Rede. Das ist französische „Kultur", französischer Geist. Wir müssen sie bewundern, ohne sie darum auch nur im mindesten schön oder nachahmenswert zu finden. Aber werden wir in der Lage, der wir ausgesetzt sind, auf die Dauer allein mit deutscher Gewissenhaftigkeit, deutscher Ehrlichkeit und deut scher Rückhaltlosigkeit auskommen? Eine Frage, die nach dem 1. Mai wohl auch im Reichstage zur Entscheidung gebracht werden wird. Deutscher Reichstag. G7. Sitzung., LL. Bertin. 27. April. Auch heute waren Haus und Tribünen stark besetzt. Die meisten Reichsminister mit dem Reichskanzler an der Spitze waren erschienen. Die Stimmung war von Beginn an stark er regt. Auf der Tagesordnung stand allein die Aussprache über die auswärtige Politik. Erklärung der Regierungsparteien. Zuerst erhielt das Wort der Abg. Rießer (D. Volksp.j, der im Namen der Reichstagsfraktionen des Zentrums, der Deutschen Volkspartei, der Deutsch-demokratischen Partei und der bayerischen Volkspartei eine Erklärung abgab, in der es hieß: Nachdem die Londoner Verhandlungen abgebrochen waren, hat das deutsche Volk in fester Entschlossenheit die über große Teile Deutschlands verhängten Zwangsmaßregeln ge tragen. Diese Zwangsmaßregeln haben bisher ihren Zweck nicht erreicht. Sie würden, auch verschärft, ihn niemals er reichen. Unseren Volksgenossen danken wir für ihre Treue. Wir sind überzeugt, daß sie auch in Zukunft, wenn es not» wendig sein sollte, dieselbe Festigkeit und Opferwilligreit be weisen Würden. Das enthebt uns aber nicht der Pflicht, alles zu tun, um neue Gewalt abzuwenden. Schweren Herzens, aber im Vollgefühl unserer Verant wortlichkeit sprechen wir unser Einverständnis damit aus, daß die Regierung den Weg, der sich ihr bot, betreten hat, um die Vermittlung des Präsidenten der Vereinigten Staaten von. Amerika zu erlangen. Wenn der Präsident diese Aufgabe übernimmt, so eröffnet sich damit die Aussicht, der Welt den Frieden zu geben, nach dem sie ruft, und die friedliche Ent wicklung Deutschlands in ruhigen Bahnen zu sichern. Die Vorschläge, die dem Präsidenten der Vereinigten Staaten mitgeteilt worden sind, muten uns Ungeheuerliches zu. Das deutsche Volk ist aber gewillt, rückhaltlos zu leisten, was es überhaupt leisten kann. Es wird mit uns der Aus fassung sein, daß für rückstchauende Betrachtungen jetzt nicht die Zeit ist. Schlägt auch dieser Versuch sebl, so ist vor der Geschichte sestgestellt, daß Deutschland alles getan hat, was in seinen Kräften stand, um der erschöpften und verstörten Welt den Frieden zu verschaffen. In diesxm Bewußtsein würde das deutsche Volk allem Schweren, was die Gewalt verhängen kann, furchtlos und ungebeugt standhalten. Diese Erklärung wurde von der Mehrheit mit Beifall aus genommen. Der nächste Redner Müller-Franken (Soz.) leitete seine Ausführungen mit dem Bemerken ein, es dürfe doch nicht der-, gessen werden, daß, wenn sich der Minister des Auswärtigen in einer wenig beneidenswerten Lage befände, die frühere Politik der Rechten die Schuld daran trage. Der eroberungs süchtige Imperialismus der Rechten trage die Verantwortung. (Stürmische Unterbrechung und Pfuirufe seitens der Rechten.) Sodann ging der Redner auf die Note an den Präsidenten der Vereinigten Staaten ein und bemerkte, daß wir bis an die Grenze unserer Leistungsfähigkeit werden gehen müssen, wissen wir. Gegenüber der Behauptung des französischen Ministerpräsidenten, daß wir den Wiederaufbau Frankreichs absichtlich verzögert hätten, stellt der Redner fest, daß wir be reits im August 1919 der französischen Regierung die Liefe rung von 69 000 Holzbaracken gegen die ärgste Wohnungsnot nebst der erforderlichen Mobiliarausstattnng angeboten haben. Frankreich hat dies abgelehnt. Immerhin sei es mit Sach lieferungen allein nicht getan, wir müßten auch Bargeld zahlen, und wenn es in Österreich möglich war, auf inter nationalem Wege Geld zu schaffen, werde dieser Weg auch uns nicht verschlossen sein. Hierauf wandte er sich abermals gegen die Rechte und sagte, es sei ein Skandal, daß die Dcutschnationalen sogar das Begräbnis der Kaiserin für ihre Parieipropaganda ausgenutzt hätten. (Großer Lärm und stürmischer Widerspruch rechts.) Es ist behauptet worden, bemerkte der Redner, daß alle Regimenter der Reichswehr da zu Deputationen entsandt hätten. Ich lenke die Aufmerksam keit des Ministers auf diesen Punkt. Wir müssen, um falsche Eindrücke im Auslande zu verhüten, diese Sache im Reichstag klarstellen. (Zuruf: „Denunziant".) Sodann ging der Redner auf die Entwaffnungsfrage ein und erklärte, wenn Militär auf eigene Faust eine Mobilisation im Osten vorbereiten werde, so müßte schleunigst eingegrifsen werden. Ich warne die Arbeiter, so schloß der Redner, sich an Selbstschutzorgani- sationen im Osten zu beteiligen. Wir wollen unser Volk gegen wirtschaftliche Versklavung und politische Zerreißung jchützen. Abg. Dr. Helfferich (Deutschnatl.) Der ganze erste Teil teurer Ausführungen war fast ununterbrochen von den lär menden Kundgebungen der Linken begleitet. Abg. Helfferich begann seine Ausführungen damit, daß er dem Abg. Müller- Franken vorwars, dieser habe in seinen Ausführungen gegen den deutschen Militarismus, gewollt oder ungewollt, der En tente Hilse gegen Deutschland geleistet. (Die Linke rief hier dem Redner zu, daß er ein Kriegsschuldiger sei.) Weiter ging der Redner aus die Kriegsursachen ein und gedachte dabei der jüngsten Veröffentlichung Scheidemanns und führte des fer neren aus, daß der frühere deutsche Kaiser immer den Frieden gewollt habe. Das fortwährende Verlangen der Sozialdemo kraten nach Entwaffnung bedeute die Bewaffnung unserer Feinde. (Lebhafter Beifall rechts, Unruhe links.) Als der Redner hierauf die Ausführungen des Abg. Müll er-Fran ken über die Beisetzung der Kaiserin als ein Zeugnis niedrig ster Gesinnung bezeichnete, kam es zu stürmischen Auftritten. Minutenlang mußte der Redner seine Ausführungen unterbre chen. Als der Abgeordnete Dr. Helfferich weiter sagte, Deutsch, land bedürfe einer moralischen Reinigung, riefen ihm verschie dene Mitglieder der Linken zu: „Mit Ihnen muß angesangen Werden." Ms der Redner sodann auf die Kriegsursachen zu sprechen kam, bemerkte der Abg. Müller-Franken: „Sie lügen ununterbrochen." Der Redner kam dann Mr Be sprechung des jetzigen Vorgehens der Negierung. Wir sind bereit, sagt der Redner, schwere Opfer zu bringen, um umer Volk vor einer Katastrophe zu bewahren. Wir bringen diese Opser aber nicht mit dem Gefühl einer Verpflichtung, wie es leider aus der gestrigen Rede des Ministers des AuswaMgen hervorging. Wir sind damit einverstanden, daß dem Präsides ten Harding das Vermittleramt angeboten wurde, aber es muß sestgestellt werden, daß die Schuld an den entsetzlichen Folgen des Friedens der frühere Präsident Wilson trägt. In dem Telegramm an den Präsidenten Harding verurteilen wir das Angebot, ihm das Schicksal unseres Volkes ganz auszu liefern. Durch Ablehnuna dieses Angebotes bat der Präst- dent mehr Gefühl für die Würde Deutschlands bewiesen als die Staatsmänner, die das Telegramm abgesandt haben. Der Minister des Auswärtigen hat schon in London die ihm ge zogenen Grenzen in seinem zweiten Angebot überschritten, Diesmal aber ist er noch weiter gegangen. Wir protestieren auch dagegen, daß er nicht vorher die Aufhebung der Sank tionen verlangt hat. Der Minister des Auswärtigen hat zweifel los den besten Willen, aber wenn er die Grenze der Leistungs- sähigkeit zum Gegenstand eines Schachers macht, kann er im Auslände nicht aus Vertrauen rechnen. Je mehr wir zurück weichen, um so unerhörter wird die Sprache des französischen Ministerpräsidenten. Es ist erbärmlich, einen Wehrlosen fort während mit Gewalt zu bedrohen. Unser Minister traut den fremden Ministern dieselbe Ehrlichkeit und Aufrichtigkeit zu, die er selbst besitzt. Wer die Politik aus der Geschichte kennt, weiß, daß man damit nicht durchkommt. Der Redner ging dann näher auf die französische Politik gegen Deutschland ein und schloß: Die Weltgeschichte, die mit dem Jahre 1807 nicht zu Ende war, wird auch mit dem Jahre 1921 nicht zu Ende sein. (Beifall, Händeklatschen auf den Tribünen.) Präsident Loebe rügte diese Kundgebungen der Tribünenbesucher. Hierauf sprach der Abg. Dr. Breitscheid (U. Soz.). E' wies in erster Lime aus die moralische Pflicht zur Wiedergut machung hin und ging dann auf die frühere imperialistische Po litik Deutschlands ein. Die ganze militärische Clique, bemerkte er, war stärker als der Kaiser von Gottes Gnaden. In meinen Händen befindet sich ein Aktenstück, mit phantastischen Friedens- Plänen des Kaisers, der Belgien und die Seeküste für uns ver langt und England selber Malta nimmt, der Amerika 20 Mil liarden Dollar und Frankreich 40 Milliarden Franken Kriegs- jchaden auserlegt. An solchen Plänen ist die päpstliche F-riedensvermittlung zuschanden geworden. Mit solchen Plänen sind aber auch die Wege der Entente gepflastert, die wir jetzt zu beschreiten haben. Den Arbeiter trifft keine Schuld am Kriege, trotzdem muß er mit bluten. Die Amsterdamer Beschlüsse sind diesen Gesichts punkten entgegengekommen. Vielleicht ist die Regierung sich inzwischen darüber klar geworden, daß sie mit den Arbeitern besser fettig geworden wäre als mit den Kapitalisten. Natürlich will die Arbeiterschaft auch bei der Entente neu« Rechte er langen. Das nimmt Zeit in Anspruch, aber es geht vorwärts- In Frankreich wird bald der Tag kommen, wo die Arbeiter schaft ihr Wort in die Wagschale werfen kann. Die jetzige Ge waltpolitik der Entente hat zu der Arbeitslosigkeit in England und zum dortigen Streik geführt. In feinen weiteren Aus führungen betonte der Abg. Breitscheid u. a., dem Lösungsver such der Entente mit den Gewaltmitteln hätte die deutsche Re gierung recht zeitig Lösungsvorschläge entgegensetzen müssen, bei denen nicht die Arbeiterschaft die Kosten zu tragen hätte. Wir haben nichts dagegen, wenn jemand der verstorbenen Kai serin seine Pietät beweist. Was der monarchistische Mob aber in Potsdam getan hat, das war eine Leichenparade, das war eine Demonstration, bei der sogar ein amerikanisches Ehepaar blutig mißhandelt wurde. Weiter machte der Redner der Re gierung Vorwürfe über ihr Verhalten in den letzten Wochen und tadelte es ebenfalls, daß die Note an Amerika ohne jede vorherige Mitteilung an den Auswärtigen Ausschuß abgeschickt sei. Die amerikanischen Geschäftsleute, die hier weilen, haben unserer deutsche Politik geschäftskundig in die Hand genommen und nach ihren Geschäftsinteressen geleitet. Das ist keine deutsche Politik, sondern eine Politik von Karlchcn Miesnick. Wir erwarten nichts von der Vermittlung, denn einen Erfolg kann es nur dann geben, wenn den Pariser Wünschen sehr nahe gekommen wird. Die Regierung sitzt schon jetzt im Schnell zuge nach Paris, dahin hätte sie auch ohne Amerika kommen können. Die Regierung hat kostbare Zeit verloren und uns in eine Zwangslage gebracht. Ob die Negierung bleibt oder nicht, ist gleichgültig, aber jeder kommenden Regierung werden eben falls die Hände gebunden sein. Hierauf sprach Abg. Fröhlich (Komm.) Er zog gegen den Kapitalismus zu Felde und gegen Herrn Stinnes, wobei er bemerkte, die Franzosen sollten sich nicht etwa einbilden, wen» in Deutschland eine sozialistische Regierung ans Ruder käme, daß dies eine ebenfalls kapitalistikche sein würde. Frankreichs Wisd.?raufbmz. Eine deutsche Richtigstellung. Bei der Ministerbegegnung in Lympne war die Rede von dem Angebot der deutschen Negierung zur Mitwir kung bei dem Wiederaufbau der zerstörten Gebiete. Nach "" Der Doppelgänger «les Derrn kmil Schnepke. Roman von Carl Schüler. Es war ihm überhaupt wüst zumute. Die Beschreibung da in der Zeitung klang so scheußlich verbrecherisch. Na — we nigstens hatte die Opiumzigarette weiter keinen Schaden ange- richtet; das war die Hauptsache. Daß über den Verlust von Geld und Wechseln — hm, von dem Bries sagte der Zeitungs bericht nichts! — tiefe Trauer in die Seele des Herrn Labwein eingezogen war, na, darüber regte er sich nicht im geringsten auf. Cs freute ihn sogar, daß er dem Spitzbuben das Geld noch nicht zurückgeschickt hatte, mochte er ruhig noch zappeln. Aber — aber dieser Emil Schnepfe! Es war doch ein unerträgliches Gefühl, den armen Teufel so fürchterlich hineingelegt zu haben: sich selbst aber so sicher zu wissen, so gewiß zu sein, daß keine Verkettung von Umständen den eigenen Sprung ins Verbrecher tum zur Entdeckung bringen konnte. Denn vor einem Erkannt werden dem Aussehen nach schützte ihn ja die polizeiliche Legi timation. Alle übrigen Spuren hatte er verwischt. Aber — Jawohl! diesem Emil Schnepfe ging es an den Kragen! Gräßlich — gräßlich ... Zum Donnerwetter, die Sache ging einem an die Nerven! Kannst du augenblicklich diesem Emil Schnepfe helfen?" fragte sich Dorival endlich. „Nein, offenbar nicht." „Kannst du die Sachlage ändern?" Unmöglich!" „Schön, mein Junge! Dann zerbrich dir auch gefälligst den Kopf nicht über Dinge, die nun einmal sind, wie sie sind. Fertig! Schluß!" Es war aber nicht fettig. Ein neuer Gedanke plagte ihn: Wenn nun dieser Emil Schnepfe wirklich gefaßt wurde? Wenn man ihn verurteilte? Dann — dann hatte ein anständiger Mensch die Pflicht — pfui Deibel ...! Aber einen Emil Schnepfe fängt man nicht so leicht. Der saß womöglich in aller Gemütlichkeit in einem Luxushotel, na, in Singapur oder Kapstadt oder sonstwo, und rupfte unschuldige Hennen vom Schlage der Frau von Maarkatz. Selbstverständlich! Natürlich war Schnepfe schon längst ins Ausland geflohen, sonst hätte ihn die Polizei in dieser langen Zeit doch sicher schon erwischt. Daran hatte Dorival noch gar nicht gedacht. Und er pfiff sich eins. Er wurde sogar sehr vergnügt. Eine Stunde später war Dorival auf dem Weg zu dem Cafe in der Kurfürstenstraße. Am Großen Stern bot ihm ein Blumenmädchen Veilchen an. Er kaufte ein Sträußchen, um es Ruth mitzubringen. Die Zeitung mit dem Bericht über das Attentat auf den Bankier Labwein hatte er zu sich gesteckt, denn vielleicht hatte ihn Ruth noch nicht gelesen. Als er über die Korneliusbrücke ging, warf er die Opiumzigaretten in den Land wehrkanal. Es schauderte ihn, wenn er daran dachte, daß er gestern den Schutzmann um ein Haar mit dem Zeug beglückt hätte. Eben hatte er noch an ihn gedacht, da sah er auch schon den Schutzmann. Breit und behäbig kam er langsamen Schrittes daher, den Bauch umgürtet mit dem gelben Riemen. Ob er den Spender des Zwanzigmarkstückes wiedererkennen würde? „Guten Morgen!" hörte er in diesem Augenblick eine liebe Stimme sagen. Ruth stand neben ihm. Hübscher noch als früher erschien sie ihm in ihrem kecken Frühjahrshülchen, in ihrem eleganten Schneiderkleid. „Ich danke Ihnen, daß Sie so pünktlich sind!" sagte er und küßte ihr die Hand. „Nicht Sie haben mir zu danken," wehrte sie ab, und er sah, trotz des Schleiers, daß /sie rot wurde. „Ich habe Ihnen zu danken, daß Sie Wort gehalten haben." Sie drückte ihm fest die Hand. „Wollen wir jetzt nach unserem stillen Winkel gehen, oder wäre es Ihnen recht, wenn wir im Tiergarten —?" „Nein, ein," unterbrach sie ihn ängstlich, „es ist wegen Ihrer Sicherheit besser, wenn wir in das Cafe gehen. Aber wir müssen einen Umweg machen. Dort steht ein Schutzmann, der immer zu uns herübersieht." „Wir wollen ihm zeigen, daß wir ihn nicht fürchten!" lächelte Dorival. „Bitte, Ihren Arm!" Sie schob ihren Arm unter den seinen, und sie gingen auf den dicken Schuhmann zu. Der hatte ihre Begegnung mit an gesehen und in Dorival den Spender des Goldstücks wieder erkannt. Als die beiden an ihm vorbei gingen, grüßte er natürlich. Und dann — der Herr war ja gestern so gemütlich gewesen — sagte er verständnisinnig: „Wünsche gehorsamst viel Glück!" Dorival dankte. Ruth sah Dorival erstaunt an. Schließlich entschloß sie sich zu der Frage: „Der Polizist kannte Sie?" „Gewiß. Er grüßte mich doch, wie Sie gesehen haben." „Sehr respektvoll sogar. Und dann hat er Ihnen Glück - gewünscht. Wozu eigentlich?" Ein zärtlicher Blick Dorivals streifte seine schöne Begleiterin. „Ja, wozu soll er mir Glück gewünscht haben?" lachte er. j „Zu meinem Erfolg gestern bei Labwein natürlich!" Ruth blieb stehen und starrte Dorival an. „Dazu gratuliert Ihnen die Polizei?" „Sie haben es ja selbst gehört." „Sie sind ein merkwürdiger Mensch. Sie scherzen, wen» Sie in schlimmster Gefahr sind. Aus Ihnen werde ich nicht klug." „Wirklich? Na, mir geht es manchmal ebenso; ich werde aus mir selbst nicht klug. Das kommt, weil ich krank bin. Seelisch, s nicht körperlich." „Warum gehen Sie nicht zu einem Arzt?" „Ich bin zu ihm gegangen. Heute morgen." „Und was hat er gesagt?" „Das hoffe ich jetzt von ihm zu erfahren." Sie zog ihren Arm unter dem seinen hervor. „Wir wollen lieber jeder für sich gehen." Sie traten in das Cafe und nahmen ihre alten Plätze ein. Der Kellner erkannte sie und lächelte freundlich. Er zog sich diskret zurück, nachdem er den Kaffee gebracht hatte. „Darf ich Ihnen diese Veilchen überreichen?" sagte Dori val und hielt Ruth das Sträußchen hin. Sie nahm die Blumen dankend an und befestigte dar Sträußchen an ihrer Jacke. „Haben Sie die Zeitung schon gelesen?" fragte Dorival lächelnd. „Ja. Ich weiß ja nicht, wie ich Ihnen danken soll —" „O, bitte!" „Es muß fürchterlich gewesen sein —" „O nein!" „Sie sind sehr geschickt gewesen —" „Danke!" „Und haben Sie — haben Sie den Brief gefunden?" Aengstlich zögernd stellte sie die Frage. Gespannt blickte sie ihn an. Tapfer ging sie ohne Umschweife auf ihr Ziel los- Aber es bangte ihr vor der Entscheidung. Hatte er den Bries gefunden, oder nicht? Und wenn er ihn gefunden und an sich gebracht hatte, was würde er jetzt von ihr verlangen, ehe er den Brief herausgab? Nicht die Forderung in barem Geld, die er machen konnte, schreckte sie. Sie wußte, ihr Vater würde in dieser Beziehung nicht kleinlich sein. Aber sein Benehmen ihr gegenüber war nicht mißzuverstehen. Und er gefiel ihr. Sie mußte sich zusammennehmen, um stark zu bleiben. Sie mußte sich ins Gedächtnis rufen, daß der Mann innen verderbt war. Er war ein Verlorener, ein Ausgestoßener, der seine äußeren Vorzüge benutzte, um Frauen zu belügen und zu betrügen. Eigentlich mußte sie ihn verachten. Und sie wunderte sich über sich selbst, daß sie das nicht konnte. Und — wie würde er sick jetzt benehmen — jetzt, da er den großen Trumpf gegen sie i» der Hand hielt?
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