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Wilsdruffer Tageblatt : 11.12.1919
- Erscheinungsdatum
- 1919-12-11
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-191912119
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19191211
- OAI
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19191211
- Sammlungen
- Saxonica
- Zeitungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1919
-
Monat
1919-12
- Tag 1919-12-11
-
Monat
1919-12
-
Jahr
1919
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 11.12.1919
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Amerikas Vorbehalte. — Frankreich ist einverstanden! — . Der offiziöse Pariser „Temps" bat einen Feldzug — wie er es nennt — eröffnet zur Zerstreuung der Legende über die amerikanischen Vorbehalte zum Friedensvertrag. Er sagt, die deutschen Militärs und Diplomaten glaubten, die Front der Alliierten sei durchbrochen. Deshalb sei man gezwungen, sie zur Ordnung zu rufen. „Temps" veröffentlicht die Vorbehalte im Wortlaut und fragt, ob sie die Grundlagen des Friedensvertrages, wie man sage, zerstörten. Er vertritt die Ansicht, daß die 14 Vorbehalte und Auslegungen von einem Vorwort begleitet seien, das die alliierten Mächte unmittelbar interessiere. Der Senat erkläre, die Ratifizierung durch Amerika würde nur in Kraft treten, wenn drei der alliierten Großmächte durch einen Notenaustausch die angenommenen Vorbehalte und Auslegungen gutgeheißen hätten. Es handele sich um eine Formfrage und um eine Grundfrage. Die Formfrage sei dadurch gelöst, daß der Oberste Rat Lie südslawische Delegation ermächtigt habe, einen Vorbehalt zum Vertrage von St. Germain oorzubringen. Es bestehe also ein Präzedenzfall. Betreffs Ler Grundfrage prüft der „Temps" Punkt für Punkt die verschiedenen Vorbehalte und sagt, man habe behauptet, die Vorbehalte bedeuteten eine Ver leugnung des Werkes der Friedenskonferenz. Man habe ferner behauptet, daß die Vereinigten Staaten hierdurch ihren Willen kundgeben würden, sich weder um Europa noch um den Frieden mehr zu kümmern. Das sei eine Legende, der man die Wahrheit gegenüberstellen müsse. Selbst wenn die Amerikaner forderten, daß man an zwei oder drei Stellen das Statut des Völkerbundes umändern solle, was nach Artikel 26 des Statuts erlaubt sei, ent hielten die amerikanischen Vorbehalte nichts, was die Alliierten veranlassen könnte, eine unter diesen Bedingungen angebotene amerikanische Ratifizierung zurückzustoßen. Sie enthielten im Gegenteil gewisse, sehr weise Auslegungen, an deren Gutheißung mau alles Interesse habe. * Englands mäßigender Einfluß. . -Die Pariser Blätter wollen erfahren haben, die Dele gierten Großbritanniens hätten die Verantwortung für die Drohungen, denen die Deutschen ausgesetzt werden sollen, nicht übernehmen wollen und deshalb Instruktionen von ihrer Regierung verlangt. Aus diesem Grunde sei die .gebieterische* Note dem Freiherrn v. Lersner nicht zuge- stellt worden. Oeuffche Nationalversammlung. (124. Sitzung.) 6L. Berlin, S. Dezember. Für heute waren zwei Sitzungen der Nationalversamm lung anberaumt. Die erste sollte zu einer Kundgebung gegen die Zurückhaltung der deutschen Kriegsgefangenen stattfinden. Zu dieser Kundgebung ist es jedoch heute noch nicht ge kommen. Den Grund teilte Präsident Fehrenbach mit, indem er erklärte, daß im Laufe des heutigen Vormittags die Note der Entente eingetroffen sei, die auch die Gefangenenfrage behandelt. Eine eingehende Beratung des Kabinetts habe noch nickt staitfinden können, und darum sei auch der Minister des Äußern noch nicht in der Lage, auf die Gefangenenfrage, und wie das Haus es wünsche, auf die übrigen Teile der Note etnzugehen. Dazu müsse das Kabinett erst Stellung nehmen. Die geplante Kundgebung möge daher von der Tagesordnung abgesetzt werden. Sie solle möglichst bald stattfinden. Das Haus war damit einverstanden, und damit schloß die heutige erste Sitzung. Zu ihrem Beginn war der Dank des Staats kanzlers der Republik Österreich für die von Deutschland ge währte Hilfe verlesen worden. Eröffnung -er französischen Kammer. Kundgebung der elsaß-lothringischen Abgeordneten Die neue französische Kammer ist unter dem Vorsitz des Alterspräsidenten Siegfried znsammengetreten. Die elsaß-lothringischen Deputierten hielten nach der Eröffnung in oorpors ihren Einzug, bei dem sich 'amtliche Abge ordnete erhoben und ihnen Beifall klatschten. In seiner Begrüßungsansprache feierte der Alterspräsident die Rück kehr von Vertretern von Elsaß und Lothringen in die Kammer als Kennzeichen einer neuen Aera in der Ge- schickte Frankreichs. Lierauf verlas namens der elsaß- lothringischen Abgeordneten Dr. Francois eine längere Erklärung, in der er auf den feierlichen Protest der Elsaß- Lothringer gegen die Abtretung der beiden Provinzen Elsaß und Lothringen in der Nationalversammlung zu Bordeaux am 17. Februar 1871 hinwies. Schon damals hätten die Abgeordneten verkündet, daß der Friedensvertrag von 1871 für sie null und nichtig sei und für fick und ihre Kinder geschworen, daß sie das Recht der Elsässer und Lothringer, Mitglieder der französischen Nation zu bleiben, dieser unrechtmäßigen Besitzergreifung gegenüber stets geltend machen würden. Jetzt schmiedeten die elsaß-lothringischen Abgeordneten die Kette der historischen Überlieferungen wieder zusammen. Jetzt, wo sie ihren Sitz in der französischen Kammer wieder einnehmen, geben sie Deutschland und der ganzen Welt von neuem zu versieben, daß Elsaß-Lothringen nie mals ausgehört habe, mit seinem ganzen Herzen der fran zösischen Familie anzugehören und daß sie die tiefste Be friedigung darüber empfänden, wieder zu ihr zurückzu- kehren. Nicht mit Unrecht habe Deutschland die Volks abstimmung im Jahre 1918 gescheut. Die neuen Wahlen hätten bewiesen, daß Deutschland auf keinen Fall mehr das Recht habe, Gebiete zurückzuverlangen, die es kraft des Eroberungsrechtes besessen habe. Die Erklärung schloß mit dem Dank an die französische Nation und die Alliierten für die Befreiuung der beiden Provinzen und die gebrachten Opfer. Im Namen der Regierung begrüßt sodann Minister präsident Clemenceau die Brüder von Elsaß und Loth ringen. Der Zufall wolle es, daß er als letzter Über lebender der Protestler von Bordeaux heute dazu bestimmt sei, ein heißes Willkommen auszusprechen. Clemenceau erinnert weiter an die notwendige Organisation des Friedens, die erfolgen müsse. Er sagte u. a., wenn wir etwas anderes sein wollen als Zuschauer, müssen wir beherzt in die Zukunft blicken. Das Werk wartet nur auf den Arbeiter, man muß sich b/eilen, ohne Verzug, denn Frankreich ist wieder aufzubauen. Für die Sozialdemo kraten verlas darauf Albert Thomas eine kurze Erklärung, in der er namens der Arbeiterbeoölkerung von Elsaß und Lothringen zum Ausdruck brachte, daß auch sie die Des- annektion wie eine Befreiung ansehe. Die sozialistische Partei von Elsaß-Lothringen trete entschlossen und ohne Hinterhalt in die französische Gemeinschaft ein. Marloh freigesprochen. LS. Berlin, 9. Dezember. Im Großen Schwurgerichtssaal des allen Kriminal gerichts, in dem die letzten Verhandlungen siattfanden, wurde heute mittag das Urteil über den Oberleutnant Otto Marloh verkündet. Der Andrang des Publikums war ein außerordentlich starker. Der Zuhörerraum ver mochte kaum die Zahl der Erschienenen zu fassen. Die Sicherheitspolizei hatte auf alle Fälle Vorkehrungen ge troffen, um Demonstrationen zu verhindern. Im Kriminal gebäude waren mehrere Abteilungen von Polizeibeamten untergebracht, und im Flur sah man zwei Maschinen gewehre. Um 1,20 Uhr erscheint das Gericht im Saal. Der Vorsitzende verkündet: Der Angeklagte wird von der Anklage des Tot schlag- freigesproche«. Er wird wegen unerlaubter Entfernung mit drei Monaten Festung und wegen Be nutzung gefälschter Legitimation mit LV Mark Geld strafe bestraft. Zwei Monate Festungshaft werden als verbüßte Untersuchungshaft angerechnet. Marloh nahm das Urteil in aufrechter Haltung entgegen. Als seine Vei wandten und Freunde ihn beglückwünschten, wurde er sichtlich be wegt. In der Urteilsbegründung heißt es u. a.: Die Erschießung dec Matrosen am 11. Mär; sei objektiv unberechtigt. Es habe auch nicht eigentlich eine standrechtliche Erschießung stattgefunden, denn eine stanürecht- liche Exekution muß sofort im Anschluß an tie betreffende strafbare Tat vorgenommen werden. Der Angeklagte bat aber feine Gefangenen erst eingesperrt und ist dann mr Er schießung geschritten. Zuzugeben ist dem Angekiagten. daß ei sich in einer gewissen bedrohlichen Lage befand. Über den Umfang der iVm drobenden Gefahr mag er fick möglicher weise damals einer Täuschung vtngegeve« vave«, aber Ge fahr bestand. Es fragt sich nun, inwieweit der Ange lag« durch Befehle seiner Vorgesetzten gedeckt ist. Hier qt für das Gericht maßgebend, nicht, was bei der Brigade Reinhaid tatsächlich befohlen worden ist, sondern was dem Angeklagten in L irtlichkeit übermittelt wur e. Be-üglick des Befehls, den der Leutnant Wehmeyer dem Angeklagten überbrachte, haben sich absolute und zweifelsfreie Festsü llungen nicht treffen lassen. Das Gericht ist der Anstckt, daß ein Dienstbefehl vorlag, der etwa dahin lautete: .Marloh muß energisch vorgehen und eventuell zum Waffengevrauch schreiten." Es fragt sich nun, wie der Angeklagte den Befehl aufgefaßt bat. Hier darf nicht vom grünen Tuch aus geur teilt werden. Hier muß man sich in die Lage, in der sich damals der Führer der kleinen Schar befand, versetzen. Es war eine Zeit der schwersten Unruhen in Berlin, in der das Asphalt noch vom Bürgerblut getränkt war. Diese Um stände müssen bei dem Angeklagten, als er seine Entscheidung traf, mitgesprochen haben. Der Angeklagte ist, das muß be rücksichtigt werden, nicht wie ei» normaler Mensch za be werte«. Die Begründung nimmt sodann Rücksicht auf die schweren Verwundungen Marlohs und macht weiter folgende Ausführungen: Der Soldat Marloh, der zum Ge horsam erzogen worden war, ist dann mit Reckt zur Ansicht gekommen, es liege ein bindender Befehl für ihn vor. Das gebt auch aus den Äußerungen hervor, die er in der kritischen Zeit zu dem Hauptmann Gentner und dem Stadtkomman danten Klawunde getan bat. Es gebt ferner hervor aus den Erklärungen, die der Angeklagte bald nach Ler Tat dem Staatsanwalt Zumbroich gegenüber getan hat. Zumbroich hat damals gesagt, er leihe nur seinen Beistand zur Ab fassung des Berichtes, wenn Marloh ihm die volle Wahrheit sage, und darauf hat Marloh gesagt, er habe auf Befehl gehandelt. Das Gericht ist daher überzeugt, daß Marloh, als er die Erschießung befahl, der Meinung war, er hätte einen bindenden Befehl dazu. Hat er aber einen Befehl gehabt, dann wäre er nur strafbar gewesen, wenn er gewußt hätte, daß die Ausführung des Befehls ein Verbrechen dar stellt. Es war dem Angeklagten nicht dec strikte Gegenbeweis zu führen, daß er aus anderen Motiven, als Lenen des über brachten Befehls gehandelt habe, daß ihn etwa der Vorwurf der Schlappheit zu der Tat getrieben bade, und da dieser Gegenbeweis nicht geführt worden ist, mußte noch ange nommen werden, daß der Angeklagte geglaubt bat. einen Befehl auszuiühren. Der Angeklagte war daher von der An klage des Totschlags freizusprechen. Duellforderung v. Kessels an Pfarrer Rump. Der im Prozeß beionders hervorgetretene Hauptmann v. Keil el hat nach Schluß der Verhandlung an den Haupt zeugen Lio Pfarrer mump eine Pfftolenforderung unter schwersten Bedingungen gerichtet, und zwar auf öffentlichem Wege mitten unter Lem aus der Verhandlung strömenden Publikum. Der Pfarrer bat sich jeder Belästigung von Kessels Seite verbeten und diesem die Fädigkeit abgesprochen, eine Forderung zu stellen. Außerdem hat Pfarrer Rump sofort den Oberstaatsanwalt Mitteilung von dem Vorfall gemacht, damit er das Nötige veranlasse. Herr v. Kessel soll die Forderung damit begründet haben, daß Rump vor ihm ausgespuckt bade. Hauptmann v. Kessel ist vom Dienst entbunden worden und bat die Einleitung eines Verfahrens gegen sich vor einem Zioilgericht beantragt. Letzte Drahtberichte des »Wilsdruffer Tageblattes". Verwendung der Eiserne« Division zn« Grenzschutz. Königsberg, 1V. Dez. (tu.) Von der Eiserne» Division wird der jetzt eingetrofiene erste Teil zum Schutze der Grenz« Ostpreußens nach Memel geschickt merde«. Auch die später eintressenden Teile der Eisernen Divisto» sollen laut Verfügung des Wehrkreiskommandos zu» Grenzschutz verwendet werden. Vormarsch der Amerikaner bei Verweigerung der Unterschrift des Protokolls. London, 10. Dez. (tu.) Eine Meldung besagt: Da» Auswärtige Amt teiltmit, daß die 120VV Amerikaner, die sich in dem besetzte» Gebiet im Rheinland« befinden, von Marschall Foch für den Vormarsch der Alliierte« verwendet werde« können, wenn Deutschland die Unter« schrist des Protokoll» verweigere. Die amerikanische« Behörden erklären, die Regierung besitze Beweise, aus denen hervorgehe, datz Deutschland absichtlich die Ab lehnung der Ratifikation selten» de» amerikanische« Vas kulendaus. 14) Roman von E. Marlitt. Er lachte. „Das ist zu hoch, kleiner Schelm, da hinauf können wir nicht! Aber sieh, wie die blauen Augen auch -funkeln können! — Ich glaube nicht, daß sich das sanfte Sternenlicht in den Augen meiner schönen Urgroßmutter je so verwandelt hat . . . Bei den Neuhäuser Gerolds ist der Frauenkopf mit dem aschblonden Lockenhaar nicht wieder auf getaucht; keine der weiblichen Nachkommen hat das Gesicht ge erbt, so viele Töchter auch in Neuhaus gefreit worden sind . . . Ich meinte deshalb immer, die Frau sei einzig in ihrer Art gewesen. Erst später, viel später überzeugte ich mich, daß jenes Gesicht Erbeigeutümlichkeit der Altensteiner sei — das war an unserem Hofe ... Ich war mit dem Herzog auf der Jagd gewesen und wir kamen spät, gerade in dem Augen blick in den Salon der Herzogin-Mutter, als eine neue Hof dame an den Flügel trat, um ,Das Veilchen' von Mozart zu singen." — Er bog sich vor, — „Sie erinnern sich selbstverständlich Les Abends nicht —?" Sie schüttelte mit einem lebhaften Erröten den Kopf. „Nein. Ich habe,Das Veilchen' so ost singen müssen, datz sich keine besondere Erinnerung für mich daran knüpst." Er hatte für einen Augenblick den Schritt angehalten; aber nun ging es in beschleunigtem Tempo wieder vorwärts. Für ein Künstlerauge wäre diese wandernde Gruppe auf der Waldfährtstraße ein anziehender Vorwurf zu dem Bild einer flüchtenden Familie gewesen. Der sein Pferd am Zügel führende schöne, tannenschlanke Mann, der das ermüdete Kind so sicher und mühelos aus dem Arme trug, und die weibliche Gestalt, die schwebenden Fußes neben ihm her schritt, das schlicht niederfallende Kind um des rascheren Lau fens willen halb geschürzt durch den Gürtel gezogen, und oas üppige, aufschwellende Wellenhaar unbedeckt, so Laß jeder durch das Buchengezweig schlüpfende Sonnenstrahl Goldbichter ans dem dunkeln Blond lockte, — diese zwei sahen aus, als gehörten sie zusammen und teilten Freud und Leid, wie die jenigen, „die Gott zusammengefügt". Nicht lange mehr, da schimmerte das bunte Blumenfeld des Gartens durch das lichter werdende Unterholz, und das Gebell des Hundes klan^ herüber . . . Herrn von Gerold mochte doch nachträglich das plötzliche Erscheinen seiner Schwester in der Glockenstube und ihre hastige Frage nach dem Kinde nachdrücklicher zum Bewußtsein gekommen sein; er hatte wohl auch ihr ängstliches Rufen gehört und sich schließ lich selbst aufgemacht, zu suchen. Denn er kam jetzt eilenden Schrittes daher, und zwischen den Eibenbäumen des Garten einganges bog sich scheu ein mit Kompressen umwickelter Frauenkopf in der Nachthaube — Fräulein.Lindenmeyer,hatte sich in ihrer Herzensangst selbstvergessen bis an die äußerste Grenze des Grundstückes gewagt; jetzt freilich rannte sie beim Erblicken der hohen »fremden Männergestalt wie besessen, mit fliegenden Röcken und das Schaltuch schleunigst über den Kopf geworfen, nach dem Hause zurück. Noch vor wenigen Tagen würde Herr von Gerold an dem Neuhäuser fremd und unberührt von irgend oinem ver wandtschaftlichen Ge ühl vorübergegangen sein, wie es ja auch auf der Universität stets geschehen; gestern aber hatte Baron Lothar seiner Schwester einen ritterlichen Dienst geleistet und heute trug er ihm ein vermißtes Kind entgegen. Er eilte deshalb mit dem Ausdruck warmen Dankes auf ihn zu, und nach einigen vorstellenden und erklärenden Worten von feiten Klaudines schüttelten sich die beiden Männer herzlich die Hände . . . Und Baron Lothar machte durchaus keine An stalten, das Pferd wieder zu besteigen und seines Weges zu reiten, nachdem Herr von Gerold ihm die Kleine abge nommen. Er schritt im Gespräch zwischen den Geschwistern weiter und weiter bis zur Gartentür, und da nahm er Herrn von Gerolds Einladung, näher zu treten und sich den inter essanten Wachsfund anzusehen, ohne Zögern, als ganz selbstver ständlich an. War er doch, wie er selbst sagte, heute geflissent lich dieses Weges geritten ,um des Eulenhauses willen, das gestern einen eigentümlichen Reiz für ihn gehabt habe. Klaudine eilte den anderen voraus nach dem Hause. Auf der Türschwelle gesprochen wandte sie sich noch einmal zu rück; sie mußte lächeln. Baron Lothar hatte von König Drossel bart und Aschenbrödel gesprochen und war sie nicht in der Tat er in schlichtem Rock und führte sein Pferd an Heinemanns für den Handel gezogenen Blumen hin, ängstlich darauf achtend, daß die Hufe keines der nutzbringenden Blütenblättchen be rührten, er, dessen ritterliche Gestalt sie bei Hofe zuletzt von einem Glanz umflossen gesehen, wie er nur selten einem Sterblichen zuteil wird — und sie, das damalige sogenannte Hätschelkind der Herzoginmutter, das gleichsam wie auf Samt gegangen war und von keinem rauhen Lüftchen angeweht wer den durfte, sie eilte jetzt die dunkeln, ausgetretenen Steinstufen hinab, um einige der wenigen Flaschen Wein, die noch von der Großmama her im Kellerwinkel lagen, für ihn Heraufzu bolen ... Er führte sein Pferd in eine kühle, schattige Ecke der Kirchenruine und band es an einen starken Holunderbaum, der sich da eingenistet hatte und sein dunkles Grün liebevoll über die entheiligten Mauern breitete; dann betrat er das Haus. In den Wachskeller warf er nur einen flüchtigen Blick; man sah, die prosaische Hinterlassenschaft der Nonnen war es nicht, was ihm das Eulenhaus plötzlich in einem interessanten Lichts zeigte; er gestand auch ganz offen, daß er einen Blick von der robenumsponnenen Zinne des Zwischenbaues, aus. dem Einblick tn vas ehemalige hausbackene, auf den materiellen Gewinn gerichtete Tun und Treiben der gottgeweihten Jungfrauen weit vorziehe. Klaudine stellte deshalb ein Tischchen mit Flasche und Gläsern und einem frischen Blumenstrauß draußen neben die Glastür, die aus dem Wohnzimmer ins Freie führte. Da stand, hart an der Mauer des Zwischenbaues, der letzte Aus läufer einer ehemaligen Allee, eine uralte Steinlinde mit nahezu abgestorbener Krone. Der einzige Ast, in dem noch der Saft flutete, reckte sich über das Geländer herein; er aber strotzte von jungem, kräftigem Laub und bildete im Verein mit einem ausgespannten schmalen Zeltdach eine schattig« Ecke. Man sah von da aus zwei schlanke, einsam in die Lüfte ragende Pfeiler, die letzten der herrlichen, die einst das Mittelschiff der Kirche getragen, und hinter ihnen wölbte sich ein scheibenloses Spitzbogenfenster in der östlichen Seiten mauer. Durch die anderen Fenster zwängte der im Lauf der Jahre dicht an das Gemäuer herangerückte Wald sein Ge äst, und von seinem Boden herauf kroch luftiges Geranks, um diesseits über die Simse hinweg neugierig mit festhaftendeu Füßchen in das Gotteshaus hinabzuklettern. Die Pfeiler und der Fensterbogen dagegen umfaßten ein schmales, umdun- keltes Stück Waldwiese draußen, ein stilles, grünes Eiland, über welches das Wild sorglos hinwandelte. Mit verschränkten Armen trat Baron Lothar an das Geländer und sah in die reizvolle Aussicht hinein. „Auch deutscher Wald ist schön," sagte Herr von Gerold, der Vielgereiste, mit seiner milden, weichen Stimm« neben ihm. „Was?" fuhr der Angeredete herum. „Auch? Ich sage: nur deutscher Wald ist schön! Was frage ich nach Palmen und Pinien, was nach der weichen Südluft, die mein Gesicht widerwärtig umschmeichelt, wie die Liebkosung einer unge wünschten Hand! — Ich habe mich krank gesehnt nach dem Thüringer Wald und seiner herben Luft, nach seinem tiefen Schatten und feuchten Gestrüpp, das sich trotzig gegen den Jäger wehrt — krank gesehnt nach dem Wintersturm, der feind lich durch die Aeste fährt, der mich hart anfaßt und mein« Kraft herausfordert. . . Nein — und ich gestehe, selbst auf die Gefahr hin, daß ich mich damit zum Barbaren, zum deutschen Bären stemple, auch die Kunstschätze konnten mir mein Herz weh nicht überwinden helfen; denn ich verstehe sie nicht, ver stehe sie so wenig, wie die meisten der alljährlichen großen Völkerwanderung nach dem Süden, wenn sie auch verzückt tun und sich vor lauter Begeisterung nicht zu lassen wissen." Herr von Gerold lachte belustigt auf; er kannte diese Laienheuchelei sattsam; Klaudine aber, die eben den Wein in die Gläser goß, sagte mit einem Blick auf den am Ge länder Stehenden: „Von der Musik verstehen Sie desto mebr."
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