Suche löschen...
Wilsdruffer Tageblatt : 28.12.1918
- Erscheinungsdatum
- 1918-12-28
- Sprache
- Deutsch
- Vorlage
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- Stadt Wilsdruff
- Digitalisat
- SLUB Dresden
- Lizenz-/Rechtehinweis
- Urheberrechtsschutz 1.0
- Nutzungshinweis
- Freier Zugang - Rechte vorbehalten 1.0
- URN
- urn:nbn:de:bsz:14-db-id1782027106-191812286
- PURL
- http://digital.slub-dresden.de/id1782027106-19181228
- OAI-Identifier
- oai:de:slub-dresden:db:id-1782027106-19181228
- Sammlungen
- LDP: Bestände des Heimatmuseums der Stadt Wilsdruff und des Archivs der Stadt Wilsdruff
- Strukturtyp
- Ausgabe
- Parlamentsperiode
- -
- Wahlperiode
- -
-
Zeitung
Wilsdruffer Tageblatt
-
Jahr
1918
-
Monat
1918-12
- Tag 1918-12-28
-
Monat
1918-12
-
Jahr
1918
- Titel
- Wilsdruffer Tageblatt : 28.12.1918
- Autor
- Links
- Downloads
- Einzelseite als Bild herunterladen (JPG)
-
Volltext Seite (XML)
Eine deutsche Regierungskrisis. Rechts oder links? Aus bürgerlich politischen Kreisen wird unS ge schrieben: Die Revolution bat das Wahlrecht zur National versammlung gebracht, die, an keine schon bestehende Ver fassung, an keines der zahlreichen Gesetze gebunden, wirklich souverän sein und also die Bedingungen, unter denen wir leben, von Grund aus neugestalten soll. Sie soll ent scheiden, ob wir uns dauernd als Republik einrichten, ob wir dieser einen demokratischen oder einen sozialistischen Charakter geben, wie wir das Verhältnis unter den deutschen Bundesstaaten regeln, die verschiedenen Reichs gewalten gegeneinander abgrenzen wollen und tausend andere Dinge mehr — kurz, sie wird zuständig sein für alles und jedes, für größtes und kleinstes, und jeder Deutsche, ohne Unterschied des Geschlechts, er braucht nur das 20. Lebensjahr vollendet zu haben, wird berufen sein, an ihrer Zusammensetzung auf Grund des gleichen Wahl rechts mitbestimmend teilzunehmen. Fürwahr eine Auf gabe, des Schweißes der Edlen wert! Viel Zeit zur Vorbereitung ist nicht gegeben; schon am 19. Januar wird das Volk an die Wahlurne treten und seinen Willen festlegen. Das Volk! Ein kurzes, aber wohl so ziemlich das inhaltschwerste Wort des ganzen deutschen Sprachschatzes. Von den rund 65 Millionen Bewohnern unseres Landes werden etwa 40 Millionen berufen sein, sich an dieser grundlegenden Staatshandlung zu beteiligen — gegen 12 bis 13 Millionen, denen nach dem Reichstagswahlrecht die Befugnis zur Wahl von Volksvertretern zustand. Früher war man manchmal um eine Wahlparole verlegen; die Zeitdauer des alten Parla ments war abgelaufen, und ein neues mußte gewählt werden. Heute wissen wir alle, daß ein tiefer Einschnitt in unser Volks- und Staatsleben geschehen ist. Was vergangen, kehrt nicht wieder — aber wie soll das aussehen, was wir an seine Stelle zu setzen haben. Die Sozialisten haben die Revolution gemacht, sie Huben sich der öffentlichen Gewalt bemächtigt, und sie streben nun auch danach, in der-n Besitz! zu bleiben, möglichst ungeteilt und möglichst unbes trankt, um endlich das Deutsche Reich nach ihren Partei programmen umgestalten zu können. Voll stolzen Selbst gefühls gehen sie vor: die Wahlen von 1912 brachten ihnen zwar nur ein Drittel aller abgegebenen Stimmen, aber sie verlassen sich auf die Wirkungen des unseligen Krieges und auf die Erfolge ihrer gründlichen Wühlarbeit, in der sie ja unbestritten Meister sind. Zum erstenmal in ihrem Parteileben wird sie zwar diesmal gegen eine wohl organisierte Opposition in ihren eigenen Reit en aizu- kämpfen haben, und die rücksichtslosen Freischärler des Spartakusbundes werden ihr aum viel zu schaffen machen, im ganzen aber darf sie zum mindesten mit Sicherheit darauf rechnen, die stärkste Partei für die National versammlung zu stellen, und nur soviel kommt in Frage, ob sie schon für sich allein über die absolute Mehrheit verfügen wird oder nicht. Gehen ihre weitgespannten Hoffnungen in Erfüllung, dann erhält sie mehr als die Hälfte aller Stimmen. Dann hat sie die volle Macht und kann ihren Willen durchsetzen ohne Rücksicht auf andere Parteien. Der nichtsozialistische Teil des Volkes, das nicht zu den Lehren von Marx und Lassalle schwörende Bürgertum, wird seine Kräfte zu sammeln haben, wenn es diesen Ausgang der Wahl verhindern will. Denn wenn es beute auch wohl in seiner großen Mehrheit für Volks- Herrschaft eintritt, eintreten muß, weil alle früheren Autoritäten sozusagen auf und davongegangen sind, so wenig wird das Bürgertum uud die mit ihm zu ver wandten Zielen strebenden Glieder des Volkskörpers damit einverstanden sein, daß ein Teil des Volkes die ganze und ausschließliche Herrschaft in Deutschland eingeräumt er-! hält. Dann würde wohl jede Rücksicht auf andere Parteien, verschwinden und nichts als das nackte eigene Partei-« interesfe würde den Ausschlag geben. So wäre es, wenn die Rechte für sich allein die Macht bekäme; so wäre es auch, wenn die reine Linke an das eigentliche Ziel ihrer Wünsche gelangte. Deshalb werden die bürgerlichen Parteien ihr ganzes Sinnen uud Trachten darauf richten, daß die sozial demokratische Mehrheit nicht in die Lage kommt, völlig für sich allein zu wirtschaften. Sie muß nach bürgerlichen Anschauungen unter der Hälfte der Mandate gehalten werden, soll die oben gekennzeichnete Lage nickt nur für den Augenblick, sondern jur wahrscheinlich unabsehbare Zeit Antreten.» Der gegebene Aufmarsch wäre bei solcher Lage der Verhältnisse die unbedingte Geschlossenheit aller nicht sozialistischen Parteien. Ein Ideal, das in Deutschland auf absehbare Zeit nicht zu erreichen ist. Also muß getrennt marschiert, aber vereint geschlagen werden. Das will sagen: jeder suche bei der Partei Anschluß, der er sich am nächsten fühlt. Bei der deutsch-nationalen Volks partei, die alle konservativen Richtungen zusammenfassend verjüngen und erneuern will; oder bei der christlichen Volkspartei, in die das frühere Zentrum sich um gewandelthat; oder bei der deutschen Volkspartei, die den Kern der Nationalliberalen umschließt; oder endlich bei der deutsch-demokratischen Partei, die den am weitesten nach links vorgeschobenen Flügel des deutschen Bürgertums darstellt. Aber er wähle, wähle unbedingt, denn jede Stimme kann den Ausschlag geben, bei der Verhältnis wahl, mit der wir es diesmal zu tun haben, ebenso wie bei dem früheren reinen Mehrheitswahlsystem. Sache der Parteileitungen wird es sein, durch gemeinsame Ausstellung der Kandidatenlisten- dafür zu sorgen, daß sie mit dem vollen Gewicht ihrer Stimmenzahlen auch bei Verteilung der Mandate zur Geltung kommen. Der einzelne Wähler hat sich ja nickt mehr für bestimmte Personen, sondern für eine bestimmte Partei zu entscheiden, er braucht also seiner Über zeugung keine Opfer zu bringen, die seine Wahl erschweren würden. Wenn im ganzen darauf gesehen wird, daß das Ziel erreicht wird, auf das allein es jetzt für die nicht sozialistischen Volksteile ankommen kann: daß eine reinsozialistische Mehrheit in der Nationalversammlung verhindert wird. Käme es zur ausgesprochenen Sozial demokratie, so dürfte die Rolle des auf anderer Basis stehenden Bürgertums für lange oder für immer aus gespielt sein. Wer also seinen Teil zu dieser folgenschweren Ent scheidung beitragen will, dessen Losung für den 19. Januar muß sein: Unter allen Umständen an der Wahl teilnehmen. Berlins blutige Dorweihnacht. Berlin, 24. Dezember. Nach dem trüben und regnerischen Wetter der letzten Tage kam der heutige Morgen mit Hellem Sonnenschein und klarem Frostwetter herauf. Die Bahnzüge brachten dichte Massen aus den Vororten, von denen ein großer Teil aus Kauflustigen bestand, die noch kurz vor dem Fest ihre kleinen oder größeren Geschenke für dieJbrigen er werben wollten. Sie ahnten kaum, daß sich währenddessen, eingeleitet durch die turbulenten Szenen, die gestern Nach mittag vor der Kommandantur und dem Reichskanzler gebäude stattfanden, bereits blutige Straßenkämpfe ab gespielt hatten. Der Kampf um Schloß und Marftall, wo sich die aufrührerischen Matrosen verbarrikadiert hatten» chegann schon in den frühen Morgenstunden. Die Matrosen .waren etwa 2000 Mann stark. Gegen sie rückte eine ^regierungstreue Brigade aller Waffen der Garde-Kavallerie- Schützendivision unter Befehl des Obersten v. Tschirschky und Voegendorff heran. Die Matrosen ließen die Truppen auf kürzeste Distanz herankvmmen und eröffneten dann das Feuer aus Maschinengewehren und einem Geschütz. Darauf erfolgte der konzentrische Angriff der Garde. , Die Artillerie der Garde ging in Stellung und nahm Schloß und Marstall unter Vernichtungsfeuer, das eine verheerende Wirkung hatte. Die Sprengstücke flogen bis. in entfernt liegende Straßen, wobei auch eine im 4. Stock .arbeitende Kontoristin getötet wurde. Dazwischen hämmerten die Maschinengewehre und kämmten die Fensterreihen von i Schloß und Marstall ab. Beide Gebäude erlitten durch ' das Feuer schwere Beschädigungen. Stoßtrupps eröffneten den Angriff auf das Schloß, wo es zu Handgranatenkämpfen in den Schloffgängen kam. Im Weißen Saal und im Audienzsaal entspann sich jein wütendes Handgemenge. Schließlich gelang es den Truppen, die hier befindlichen Matrosen gefangenzunehmen. Nachdem der verlustreiche Kampf von 8 bis kurz vor ^10 Uhr gedauert hatte, wurde auf dem Marstall die weiße Fahne gehißt und in Verhandlungen eingetreten, die in dessen zu keiner Einigung führten. Der Kampf tobte Dis Geheimnis -er allen Mamsell. 7s Roman von E. Marlitt. Hellwig drehte sich um — ein heiteres Lächeln spielte um seine Lippen. „Da hast du wieder einmal das Exempel!" erwiderte er sarkastisch. „Doktor und Tod gehören zusam men ... Ich schreibe da an den Jungen, den Johannes, über die kleine Fee, und da fällt mir, der ich in meinem ganzen Leben nie weniger ans Sterben gedacht hatte, als gerade jetzt, in dem Augenblicke, wo du ins Haus trittst, der Satz da aus der Feder." / Der Doktor bog sich nieder und las laut: „Ich halte viel von Deinem Charakter, Johannes, und würde deshalb auch unbedingt die Sorge um das mir «nvertraute Kind in Deine Hände legen, falls ich früher aus der Welt gehen sollte, als —" „Basta, und nun für heute kein Wort weiter!" sagte der Lesende, während er einen Kasten aufzog und den halbvollen deten Brief hineinlegte. Dann griff er rasch nach dem Pulse des Kranken, und sein Blick glitt verstohlen über die zwei zirkclrunden roten Flecken, die auf den scharf hervortretcnden Backenknocken glühten. s „Du bist wie ein Kind, Hellwig!" schallt er. „Ich dar! itur den Rücken wenden, so machst du sicher dumme Streiche." „Und du tyrannisierst mich himmelschreiend. Aber warte nur, mit nächsten Mai brenne ich dir durch, und dann magst du mir meinetwegen bis in die Schweiz nachlaufen." Tags darauf standen die Fenster des Krankenzimmers im Hellwigschen Hause weit offen. Ein durchdringender Mo schusduft quoll hinaus in die Straße und ein Mann in Trauer kleidung schritt durch die Stadt, um den Honoratioren ins Auftrage der trauernden Witwe anzuzeigen, daß Herr Hell wig vor einer Stunde das Zeitliche gesegnet habe. < . . ' s Unter dem grünvcrhangenen, nach dem Hausflur mün denden Fenster, da, wo vor fünf Jahren die schöne unglück- Kche Frau des Taschenspielers die Pein tiefer Demütigung erlitten hatte, stand der Sarg mit Hellwigs sterblichen lieber resten. Man halte die Hülle des ehemaligen Kauf- und Han delsherrn noch einmal mit allem Glanze des Reichtums um geben. Massiv silberne Handhaben schimmerten am Toten schreine, und das Haupt des Heimgegangenen richte auf einem weißen Atlaskissen. — Schrecklicher Kontrast! Neben dem ein gefallenen Totengesichte dufteren frisch abgeschnittene Blu men, junges, unschuldiges Leben, bestimmt, vor der Zeit zu sterben, zur Ehre des Toten! Viele Leute karnen und gingen, flüsternd und geräusch los. Der da lag, war ein reicher, angesehener und sehr frei^ gebiger Diann gewesen, aber nun war er ja tot. Fast aller Augen huschten" scheu und rasch über die bleichen, zerstörten Züge und konnten sich nicht satt sehen an dem Prunke, dem letzten Aufflackern irdischer Herrlichkeit. Felicitas kauerte in einer dunklen Ecke, hinter den Kübeln mehrere Oleander und Orangenbäume. Zwei Tage hatte sie den Onkel nicht sehen dürfen, das Sterbezimmer war fest verschlossen gewesen, und nun kniete sie da auf den kalten Steinfliesen und starrte hinüber auf dies völlig fremde Haupt, dem der Tod selbst das Gepräge unbegrenzter Gutmütigkeit weggewischt hatte . . . Was hatte das Kind vom Sterben ge wußt! Sie war in seinen letzten Augenblicken bei ihm ge wesen und hatte doch nicht verstanden, daß mit der» Wut- strome, der über seine Lippen geflossen, plötzlich alles knden müsse. Er hatte die Augen mit einem unbeschreiblichen Aus drucke auf ste geheftet, als sie aus dem Zimmer geschickt wor den war. Draußen in der Straße war sie tief besorgt und zornig vor den weit offenen Fenstern des Krankenzimmer« auf und ab gelaufen — sie wußte ja, er hütete sich ängstlich jvor jedem Zuglüftchen, und nun waren sie so rücksichtslos do drinnen. Sie hatte sich gewundert, daß abends kein Feuer jim Kamin gemacht wurde, und auf ihre endliche Bitte, dem Onkel die Lampe und den Tee hineintragen zu krürfen, hatte Friederike ärgerlich gerufen: „Ja, Kind, ist's denn nicht richtig bei dir, oder verstehst du kein Deutsch? Er ist ja tot, tot!" Nun sah sie ihn wieder, bis zur Unkenntlichkeit entstellt, und jetzt fing das Kind an, zu begreifen, was Tod sei. Sobald ein frischer Strom Neugieriger den Hausflur füllte, kam Friederike aus der Küche, hielt den Schürzen zipfel vor die Augen und pries die Tugenden des Mannes, den sie zu ärgern gekuckt batte, wo fie konnte. ! weiter und nahm ganz bedrohlichen Charakter an s durch das plötzliche Eingreifen der Spartakisten, die gegen 12 Uhr zu Hunderten anrückten und gegen das Militär Stellung nahmen. Dadurch bekamen die Matrosen wieder Luft und sie hielten mit dielen Verstärkungen die 'ganze Gegend zwischen Königstraße und Rathaus besetzt. Der Zuzug der Spartakiden hielt dauernd weiter an und Ivon den Matrosen und ihren Anhängern wird in der ; wieder eingetretenen Kampfpause die Forderung des Rücktritts der Regierung ! Ebert-Haase erhoben und die sofortige Einsetzung einer Regierung Ledebour-Liebknecht verlangt. Ledebour und ^Liebknecht sind zum Zwecke der Verhandlungen hierüber !per Automobil zu den Volksbeauftragten gefahren. Die ! durch Spartakistenscharen verstärkten Marineleute und ! Sicherheitsmannschaften wollen die Gardetruppen, welche Unter den Linden und am Werderschen Markt stehen, an greifen und zwingen, sich aus Berlin zurückzuziehen. Schwere Blutopfer hauptsächlich unter den Matrosen hatte der Kampf schon bis zur Mittagsstunde gefordert, denn bis dahin zählte man im Marstall allein 12 Tote und mehr als Ver wundete. Der gefangengenommene Stadtkommandant !Wels wurde im Laufe des Vormittags freigegeben. Erklärung der Negierung Berlin, L4. Dez. 2.32 nackm. Das Eingreifen von Truppen in die gestrigen und heutigen Unruhen in Berlin diente lediglich dem Zwecke, die Regierung Ebert-Haase gegen die meuternden Matrose» zu schütze«. Treu ihrer Verpflichtung, die sie vor Einrücken in Berlin für die Regierung übernommen hatten, haben sich die Truppen eingesetzt, um zu verhindcru, daß die Erfolge der Revolution durch das unberechtigte Eingreifen von aus selbstsüchtigen Gründe» meuternden Angehörigen der Marine in Frage gestellt werden. » . Was ein Augenzeuge berichtet. Berlin, 24. Dezember (1 Uhr mittags). Die Absperrung ist aufgehoben, das Volk strömt nach dem Schloßplatze. In der Neumannsgasse, die gegenüber dem Marstall nach der Brüderstratze Hinabgeht, staut sich die Masse. Schon glauben wir, der Eingang in die Breite Straße sei nicht gangbar. Aber es ist nicht der Fall. Ein Volts- rsdner hat sich da aufgetan und hält eine Ampracke. Man versteht bloß das Wort „Kapitalismus", das der Mann immer wieder mit lauter Stimme vorbringt. Alles andere geht in den Zwischenrufen der Zuhörer, unter. Am Ende der Neumannsgasse grobe Blutlachen, hier hat man wohl die Opfer des Kampfes niedsrgelegt, ehe sie weggeschaffi wurden. Das Marstallgebäude hatte schon in den Novemberkämpfem etwas gelitten. Man sah die Svritzreihen. weiche die Kugeln der Maschinengewehre gerissen hatten. Jetzt hat die Kanone gesprochen. Etwa 30 Schub sind auf das Gebäude abgegeben worden. Mächtige Löcher sind in die Sandsteinwand an der Breiten Straße wie an dem Schloßplatze gerissen: nicht bloß daß die Oberfläche abgeplatzt ist, nein, Löcher, die durchgehen. Unten liegen die Trümmer, große und kleine Sandsteindrocken. Glassplitter von den Fenstern. Ein Kopf einer Minerva, oder was es sonst für eine Göttin gewesen sein mag. ist heruntergeschofsen, oben ist die Zerstörung so groß, daß man den Ort nicht feststellen kann, wo er gesessen hat. Auf dem Sandsteinkopf steht ein junges Mädcken; sie benutzt ibn als Fußbank, um das Ganze bester zu übersehen und einem Redner zuzuhören. Der ganze Schloßplatz — vor 1888 war sonst hier um die Zeit Weihnachtsmarkt! — ist voll von Gruppen, je 20 bis 50 Menschen stehen in Knäueln, in deren Mitte einer zu reden versucht oder zwei debattieren. Die Liebknechtianer scheinen das große Wort zu führen. Ebert und Scheidemann müssen weg, Wels ist ein Verräter, der Kapitalismus ist an allem schuld, für die Nationalversamm lung ist das Volk noch nicht reis usw. Ab und zu gibt auch einer seinem Unwillen über die Mattosen Ausdruck: Die haben vier Jahre auf der Bärenhaut geiegen, jetzt wollen sie komman dieren; ein anderer findet, die Leute wollen bloß ihr Recht; Aber die Streiterei geht ganz gemütlich ab. Gröbere Auf regung ist nirgend zu bemerken, Prügeleien gibt es nicht; wenn zwei sehen, daß sie sich nicht einigen können, und das ist meistens der Fall, so geht eben einer weg. Der Ernst der Lage ist allgemein zu spüren. l Ab und zu marschieren, doch nein — marschieren kann man nicht sagen, schlendern Soldaten, bewaffnete Soldaten, mit einigen unbewaffneten Matrosen davon. Sind es Ge fangene, die abtransportiert werden? Einige Matrosen habe« auch noch die Gewehre. Aus den zerschossenen Fenstern des Marstalls sehen Leute non der revnblikaniscken Soldatenwekr „Da seh' einer das Mädchen an!" unterbrach fie sich zor nig, als sie Felicitas blasses Gesichtchen mit den heißen trock nen Augen zwischen den Orangenbäumen entdeckte. „Ob si« auch nur eine einzige Träne vergießt . . . Undankbares >Ding! Sie muß doch auch keinen Funken von Liebe in sich Haben!" , „Du hast ibn nie lieb gehabt und weinst, Friederike!" jentgegnete die Kleine schlagend, aber mit völlig tonlos« Stimme, und zog sich tiefer in ihre Ecke zurück. Der Hausflur leerte sich allmählich. Statt der Schau lustigen aus den niederen Ständen, die sich jetzt draußen auß dem Markte postierten, um den Leichenzug mit anzusehen, er schienen vornehme, schwarzbefrackte Herren; fie gingen, nach .kurzem Aufenthalten am Sarge, in das Wohnzimmer, um der Witwe ihr Beileid auszusprechen. In dem großen, hochge wölbten Flur herrschte augenblickliche Stille, fie hätte eins feierliche genannt werden können, wäre sie nicht hier und da durch das Stimmengejurr drinnen im Zimmer unterbrach«» worden. Da fuhr die kleine Felicitas jäh aus ihrem tiefen Sinne« auf und starrte erschrocken nach der Glastür, die in de« Hof- raum führte. Dort hinter den Scheiben erschien ein merk würdiges Gesicht — er lag doch hier mit den tief eingesun kenen Augen und den unbekannten Zügen um den festgeschlos senen Mund, und dort blickte er forschend in den menschen leeren Flur, wiedererstanden mit dem aütevollen Ausdruck deS Gesichts, wenn auch der Kopf in fremdartiger Weise umhüllt erschien . . . War eS doch fast gespenstig, als das Türschloß sich leise bewegte, und gleich darauf die Tür geräuschlos auf ging . . . Die seltsame Erscheinung trat auf die Schwelle. Ja, es waren Hellwigs Züge in auffallender Aehnlichkeit, aber sie gehörten einem weiblichen Wesen, einer kleinen alte« Dame, die in wunderlicher, dem Reiche der Mode längst ent rückter Tracht langsam auf den Sarg zuschritt. Ein sogenann tes Zwickeltteid von schwerem schwarzen Seidenstoffe, voll kommen faltenlos, spannte sich förmlich über sehr eckige, magere Formen: es war kurz und ließ ein Paar wunderklei ner Füßchen sehen, die jedoch ziemlich unsicher auftraten. Uebcr die Stirn kräuselte sich eine Fülle schöngeordneter, schneeyoeißer Locken, und darüber lag ein klar durchsichtiges, schwüles SLitzentuch, das unter dem Kinne gebunden war.
- Aktuelle Seite (TXT)
- METS Datei (XML)
- IIIF Manifest (JSON)